Bernd Stauss: Wenn Thomas Mann Ihr Kunde wäre
Rezensiert von Prof. Dr. Bernd Halfar, 23.10.2013
Bernd Stauss: Wenn Thomas Mann Ihr Kunde wäre. Lektionen für Servicemanager. Springer Gabler (Wiesbaden) 2012. 215 Seiten. ISBN 978-3-8349-4030-8. D: 24,95 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 31,50 sFr.
Thema
Thomas Mann hat sich als junger Mann für den Lebensplan des „strengen Glücks“ entschieden. Gepaart mit Spuren von Eitelkeit und einem Selbstbewusstsein, das den Verdacht der eigenen Genialität nie ganz unterdrücken konnte, verfügte Thomas Mann über wenig Ambiguitätstoleranz, wie man wohl in der Sozialarbeit sagen könnte, sondern zeitlebens über stabile Beurteilungskriterien. Im Mittelpunkt der Kriterien befand sich regelmäßig sein eigenes Wohlbefinden, das durch die Aufmerksamkeit anderer gefördert oder geschmälert wurde.
Bernd Stauss, emeritierter BWL-Professor, hat sich querbeet durch das Werk von Thomas Mann gelesen, und dabei seine Fachbrille des Dienstleistungsmanagements aufgesetzt. Wie tritt Thomas Mann als Kunde auf und wie beschreibt Thomas Mann in seinen Werken Kundenbeziehungen?
Aufbau und Inhalt
Das Buch besteht aus einem Prolog, fünf werkbezogenen Kapiteln, zwei biographischen Hintergrundkapiteln und einem Epilog. Alle Kapitel werden eingeleitet durch passende, zur Freude des Lesers eher seltene Fotos aus der jeweiligen Verfilmung des Stoffes oder von „Tommy“ selbst. In den einzelnen Buchkapiteln stellt der Autor dann die wichtigsten erzählten Kundenkontaktpunkte dar, erläutert diese gescheit aus wissenschaftlicher Perspektive – Stauss hat auch in diesem Buch seine alte Angewohnheit, verständlich und gut zu schreiben, beibehalten –, und verknüpft die Kapitel mit den theoretischen und methodischen Konzepten des Servicemanagements. So entsteht ein richtig guter Text, der amüsant zu lesen ist und in zusammengefasster Form ein wissenschaftliches Fachgebiet präsentiert.
In seinem Prolog erläutert Stauss den anspruchsvollen, zuweilen pingeligen Dienstleistungskunden Thomas Mann – und verweist auf dessen Tagebücher und das literarische Werk, auf die Novellen und Bücher, in denen einige der eigenen Erlebnisse Thomas Manns durch literarische Übertragung in präziser und ausgeschmückter Form erzählt werden. Stauss findet jede Menge Beispiele für die im Dienstleistungsmanagement so wichtigen Kundenkontaktpunkten, und zwar erzähltes, psychologisiertes, nachvollziehbares Material.
Im Kapitel „Tonio Kröger“ wird die Begrüßung Tonio Krögers im Hotel seiner backsteinigen, norddeutschen Heimatstadt rekapituliert. Diese in dieser Szene praktizierte „gemäßigte Höflichkeit“ bietet Stauss Gelegenheit, zentrale Konzepte des Dienstleistungsmanagements zu erläutern: moments of truth, Dienstleistungsqualitätdimensionen, das Service-Blueprinting und die sequentielle Ereignismethode. Tonio Kröger bietet, als er bei der Abreise unter üblen Verdacht gerät und einem Verhör ausgesetzt wird, Gelegenheit, die Routine- und Ausnahmequalität als zwei Dienstleistungstypen in einer Lektion zu erläutern.
In der Novelle „Das Eisenbahnunglück“ steckt der Stoff für Unsicherheiten in der Dienstleistungsqualität, für die Erläuterung der unterschiedlichen Such-, Erfahrungs- und Vertrauensqualitätsdimensionen. Aus welchen Anzeichen kann der gestresste Reisende herauslesen, wie es mit der Versorgung weiter geht? Der Reisende analysiert und interpretiert das Erscheinungsbild und Verhalten der Schaffner – Schlüsselinformationen für verunsicherte Dienstleistungskunden. Dass das Erleben einer Dienstleistung auch vom „anderen Kunden“ beeinflusst wird, dass Problemkunden auch für die erfahrene Dienstleistungsqualität problematisch sind, dass die strikte Kundenorientierung an solchen „jaycustomers“ in ein ethisches Dilemma führen kann, – all das zeigen „Thomas Stauss und Bernd Mann“ an dem mitreisenden aufgeblasenen Herrn, der Passagiere ohne Entschuldigung anrempelt und seinen Hund mit in das Schlafwagenabteil nimmt. Banale Szenen, in denen sich Probleme einer ganzen Servicewelt zeigen.
Der Felix Krüll ist ein furchtbar sympathischer, minimal krimineller Schlawiner, der die Komplexität der Gesellschaft in informationsasymmetrische 1:1 Situationen verwandelt, in denen er sich durchsetzen kann. Er manipuliert als, Sozialarbeiter würden sagen „Dienstleistungskunde in Zwangskontexten“ den Stabsarzt, im Rollentraining den Schaffner auf der Zugfahrt nach Paris, – und er erklärt die manipulative Wirkung von Dienstleistungssettings, wenn er als Dienstleistungskunde im Delikatessengeschäft über seine Zahlungsfähigkeit hinaus Pralinen klaut. Stauss findet hier schönes Material für weitere basics des Servicemanagements: Prespektivenübernahme, Dienstleistungsinteraktion und physisches Serviceumfeld.
Und in seiner Analyse der Erzählung „Mario und Zauberer“ fährt Stauss fast ungebremst durch die Theorie- und Methodenwelt des Dienstleistungsmanagements. Es wimmelt von Dienstleistungserlebnissen, von enttäuschten Erwartungen, von Beschwerdegründen; wir finden GAPs aller Art, mangelnder Professionalität beim Serviceanbieter und eine fast schon pathogene Psychostruktur bei den reisenden Dienstleistungskunden. Stauss kann hier viele Konzepte herzeigen: critical incidents, Zufriedenheitsdynamik, Beschwerdeneigung, interkulturelle Anbieterleistungslücke, interkulturelle Nachfrageleistungslücke und anderes.
Dass der Zauberberg alles eingepackt hat, von der durch andere consumer beeinflusste consumer expericence, über Dienstleistungen als Zeitverwendungsangebote, Wartezeiten und jede Menge Rollenkonflikte, was man in Vorlesungen an anderen Beispielen erläutert, ist die eine Wahrheit. Hieraus schlägt Stauss das Konzept des Kompatibilitätsmanagement vor. Dass sich Frau Stöhr, die Nervensäge am Nachbartisch, nicht ihre Haare waschen soll, sondern waschen lassen soll, ist nicht unwichtig, aber für den TM-Tagebuchleser interessant, weil man dort ja nicht mitteilt, dass die Haare geschnitten wurden, sondern das Haar.
Fazit
Im anschließenden biographischen Teil verknüpft Stauss die Lektürefunde mit biographischen Episoden Thomas Mann, deren wichtigste Fundstelle die Tagebücher darstellen. Die Verarbeitung, eine Form des biographischen copy and paste, eigener Erlebnisse als Dienstleistungskunde und als Dienstherr in seinem literarischen Werk ist ein typischer Mechanismus von Thomas Mann; und ein typischer Mechanismus von Bernd Stauss ist es, als wissenschaftlicher Pfadfinder durch fremde Welten zu streifen (erinnert sei hier an das wunderbare Weihnachtsbuch zur Optimierung der Besinnlichkeit!) und dort illustrierendes Material für die BWL zu finden und so aufzubereiten, dass man großen Lektürespaß hat und das Gefühl nicht losbekommt, die betriebswirtschaftliche Forschung ist insbesondere dann lesenswert, wenn sie Vorgänge ins Visier nimmt, die nicht so wichtig sind.
Die Art und Weise, wie dies geschieht, bietet das reine, intellektuell anstiftende Lesevergnügen.
Rezension von
Prof. Dr. Bernd Halfar
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Zitiervorschlag
Bernd Halfar. Rezension vom 23.10.2013 zu:
Bernd Stauss: Wenn Thomas Mann Ihr Kunde wäre. Lektionen für Servicemanager. Springer Gabler
(Wiesbaden) 2012.
ISBN 978-3-8349-4030-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14130.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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