Sandra Tiefel, Maren Zeller (Hrsg.): Vertrauensprozesse in der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Heike Brand, 19.12.2012

Sandra Tiefel, Maren Zeller (Hrsg.): Vertrauensprozesse in der Sozialen Arbeit.
Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2012.
123 Seiten.
ISBN 978-3-8340-1132-9.
D: 13,00 EUR,
A: 13,40 EUR.
Reihe: Soziale Arbeit Aktuell - 20.
Thema
Ausgehend von der Diskrepanz zwischen hoher Relevanz des Vertrauensbegriffs im professionellen und disziplinären Kontext Sozialer Arbeit einerseits und dessen marginaler Thematisierung in den entsprechenden Diskursen andererseits werden die Differenzierung des Vertrauensbegriffs und die Initiierung einer weiteren Diskussion als Ziele dieses Bandes formuliert. Mit der Fokussierung auf Vertrauensprozesse eröffneten sich zudem Perspektiven auf misslingende/ behindernde Vertrauensbildung, auf Vertrauensformen in verschiedenen Interaktionsphasen und auf handlungsfeldspezifische Phänomene.
Herausgeberinnen und Entstehungshintergrund
Sandra Tiefel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Lehrstuhls Allgemeine Pädagogik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Maren Zeller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim.
Beide Herausgeberinnen sind Gründungsmitglieder des DFG-geförderten wissenschaftlichen Netzwerks „Bildungsvertrauen – Vertrauensbildung. Netzwerk zur Rekonstruktion von Prozessen der Vertrauensbildung in sozialen und professionellen Kontexten“, dessen Ziele die „empirische Erforschung und theoretische Ausarbeitung von Phänomenen des Vertrauens“ aus erziehungs- und sozialwissenschaftlicher Perspektive sind (www.bildungsvertrauen.de). Der vorliegende Band basiert auf jenen Forschungsaktivitäten des Netzwerks (Tagungen, Forschungsprojekte), die Vertrauensprozesse in der Sozialen Arbeit fokussieren.
Aufbau
Die Vertrauensthematik wird im vorliegenden Band über die exemplarischen Handlungsfelder „Beratung“ und „Hilfen zur Erziehung“ erörtert, innerhalb derer aufgrund der Autonomieeinschränkungen der Adressatinnen/ Adressaten Vertrauen vorausgesetzt und denen über das Charakteristikum der Einzelfallbezogenheit eine besondere Relevanz der Interaktionen und Prozesse zugeschrieben wird. Der Band ist folgendermaßen gegliedert:
- Sandra Tiefel, Maren Zeller: Vertrauensprozesse in der Sozialen Arbeit – Einleitung
Vertrauensprozesse in Beratungskontexten
- Sandra Tiefel: Strategien der Vertrauensherstellung im Beratungskontext
- Silke Kassebaum: Vertrauensvarianzen in sensiblen Arbeitsbeziehungen
- Georg Cleppien: Über die Schwierigkeiten, Klient/innen zu vertrauen
Vertrauensprozesse in Erziehungshilfe
- Florian Straus, Renate Höfer, Angela Wernberger, Silke Heiland: Vertrauen in sozialen Netzwerken – am Beispiel von Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen
- Maren Zeller: Persönliches vs. spezifisches Vertrauen. Ein Spannungsfeld professionellen Handelns in den Erziehungshilfen
- Diana Düring: Vertrauensbrüche in sozialpädagogischen Kontexten – eine Perspektive auf die institutionellen Bedingungen
Inhalt
Im ersten Artikel zum Themenschwerpunkt „Vertrauensprozesse und Beratung“ formuliert Sandra Tiefel - ausgehend von ihrer Kritik an der ihrer Meinung nach einseitigen Fokussierung der sozialpädagogischen Vertrauensforschung auf spezifisches Vertrauen (Relevanz der Kompetenzen der professionellen Rollenträger jenseits persönlicher Eigenschaften [Wagenblass]) und in Anlehnung an Luhmanns Konzept der Vertrauensbildung - ihr Interesse an Strategien, über die Professionelle sich das Vertrauen der Adressatinnen/ Adressaten in Beratungsprozessen verdienen und daran, wie dieses aufrechterhalten wird. Auf Basis fokussierter Fallerzählungen von/ Gruppendiskussionen mit Beraterinnen/ Beratern werden in Anlehnung an das Arbeitsbogenkonzept von Strauss verschiedene Vertrauensleistungen in unterschiedlichen Beratungsphasen erarbeitet (Angstreduktion, Aktivierung der Eigentätigkeit, fürsorglicher Umgang, Reflexion von Vertrauensleistungen), welche den Professionellen jedoch nicht reflexiv verfügbar seien. Über diesen rekonstruierten Vertrauensarbeitsbogen hinaus zeige sich laut Tiefel, dass in jeder Beratungsphase ähnliche Strategien der Vertrauensanbahnung und -sicherung angewandt würden. Dabei korrespondierten die Strategien, um sich selbst als vertrauenswürdig darzustellen (Selbstpräsentation, Kompetenzzeigen) mit dem Konzept des spezifischen Vertrauens (Wagenblass). Die Strategien der Professionellen, um der Klientel Vertrauen zu schenken (Wertschätzung zeigen, Autonomie einfordern), d.h. das Vertrauenschenken seitens der Professionellen als Mittel der Vertrauensanbahnung, verwiesen darüber hinaus auf die Relevanz personalen Vertrauens in Beratungsinteraktionen.
Silke Kassebaum thematisiert ihre Erfahrungen im Rahmen eines Biographieforschungsprojekts zum Erleben sexualisierter Kriegsgewalt. Sie reformuliert Phänomene während der Kontaktaufnahme und der Interaktion mit Biographinnen vertrauenstheoretisch und leistet einen kontinuierlichen Transfer auf sensible Arbeitsbeziehungen zwischen stark belasteten Klientinnen/ Klienten und Professionellen der Sozialen Arbeit. So sei bei der Kontaktaufnahme Systemvertrauen (Wagenblass) in Form von Information, Transparenz, Widerspruchs- und Partizipationsmöglichkeiten relevant. Darüber hinaus müsse eine Auseinandersetzung mit den „Quasitypen“ von Interviewmittlerinnen/ mittlern bzw. Begleiterinnen/ Begleitern in Beratungsprozessen stattfinden, die als „Weichensteller/innen“ (Vertrauensaufbau über Systemvertrauen), „Hüter/innen“ (Vertrauensaufbau über Systemvertrauen und spezifisches Vertrauen) oder „Wärter/innen“ (Misstrauensaufbau auf Ebenen des Systemvertrauens, spezifischen Vertrauens, persönlichen Vertrauens) agieren könnten. Für die direkte Interaktion seien die vier Handlungsmaxime persönlichen Vertrauensaufbaus (emotional-atmosphärische Anteile [Tiefel], Authentizität im Rahmen dilemmatischer Anforderungen [Tiefel], Anteilnahme [Wigger], Zulassen von Gefühlen [Thiersch]) und die Postulate der Frauenforschung (Parteilichkeit, Gemeinsamkeit, Frauensolidarität, Bewusstwerdung) sinnvolle Heuristiken. Voraussetzung des Auswertungsprozesses bzw. der Fallarbeit sei eine „beidseitig ausgehandelte Vertrauenstransformation“ i.S. des Beendens der Beziehung auf persönlicher Vertrauensebene.
Georg Cleppien fokussiert anhand der Beratung bei exzessiver Mediennutzung jene Bedingungen, die einen Vertrauensaufbau der Sozialpädagoginnen/ Sozialpädagogen gegenüber der Klientel erschweren. Die Risiken resultierten aus dem Zusammenwirken des Agierens der Professionellen innerhalb eines Arbeitsfeldes, das – analog dem fachlichen und öffentlichen Diskurs – durch Misstrauen gegenüber den Mediennutzerinnen/ -nutzern gekennzeichnet sei (a); der Konfrontation mit differenten Problemthematisierungen von Nutzerinnen/ Nutzern und Angehörigen (b) und der eigenen Erfahrungen der Professionellen hinsichtlich der Klientel und der Problemdynamiken (c). Um dieses Passungsverhältnis näher zu beschreiben, nimmt Cleppien eine Differenzierung des Vertrauensbegriffs über die Kategorien „Vertrauen auf“ (Orientierung an Erwartungen Vertrauender) und „Sich-verlassen-auf“ (Orientierung an gemeinsamen Erwartungen) vor. Entsprechend dieser Logik wird anhand eines familiendiagnostischen Interviews die Problemthematisierung eines Angehörigen rekonstruiert. Über die anschließende Systematisierung der Dynamik zwischen o.g. Problemthematisierung, öffentlichem resp. fachlichem Diskurs und Erfahrungen des Professionellen wird die Notwendigkeit einer distanziert-kritischen Haltung des Professionellen, d.h. ein reflexiver Umgang, mit den Konstruktionen herausgearbeitet – diese sei die Voraussetzung für eine Offenheit gegenüber der Problemdarstellung der Mediennutzerin/ des Mediennutzers i.S. einer „Hermeneutik des Vertrauens“.
Das Kapitel zu Vertrauensprozessen in den Erziehungshilfen wird von Florian Straus, Renate Höfer, Angela Wernberger und Silke Heiland eröffnet, die im Kontext einer multiperspektivischen Längsschnittstudie zur Kinder- und Jugendhilfe im urbanen Raum in ihrem Artikel die Frage nach dem Aufbau von Vertrauensbeziehungen durch die Kinder und Jugendlichen stellen. Nach konzeptionellen Überlegungen zum Verhältnis der Kategorien Vertrauen und Anerkennung im Kontext von Zugehörigkeitskonstruktionen, die wiederum im Diskurs zu sozialer Integration angesiedelt werden, wird das methodische Vorgehen zur Erstellung und Auswertung von Netzwerkkarten zu den Lebensbereichen Herkunftsfamilie, stationäre Erziehungshilfe und Peers beschrieben. Ein Ergebnis ist die Rekonstruktion eines „Komplementärmusters“ bzgl. a) der Lebensbereiche Herkunftsfamilie und Erziehungshilfe sowie b) der Peer- und der Erwachsenenwelt, über das sich zum einen die Chance einer Vielfalt vertrauensvoller Beziehungen ergäbe; bei Ausbleiben einer Verortung, entstünde zum anderen jedoch das Risiko eines „Auf-sich-zurückgeworfen-Seins“. Im Kontext der Fremdunterbringung als kontinuierlicher Desintegrations- und Integrationsprozess werden fünf „Ambivalenzfelder der Zugehörigkeitskonstruktion“ dargestellt, die Rahmen für Vertrauensprozesse seien.
Maren Zeller widmet sich der Vertrauensbildung in der Erziehungshilfe aus Adressatinnen-/ Adressatenperspektive. Über die Analyse von Interviews (biographisch-narrative Gesprächsführung) sollen in Anlehnung an das Konzept des professionellen Arbeitsbündnisses, das die widersprüchliche Einheit diffuser und spezifischer Sozialbeziehungen aufweist (Oevermann), die Relevanz von persönlichem und spezifischem Vertrauen sowie deren Relation rekonstruiert werden. Im Anschluss an eine exemplarische Falldarstellung wird in Abgrenzung zu Wagenblass festgehalten, dass bei der Etablierung gelingender Arbeitsbündnisse sowohl diffuse als auch spezifische Sozialbeziehungen Bedeutung haben könnten, d.h. neben spezifischem könne – müsse jedoch nicht – auch persönliches Vertrauen relevant sein. Zudem zeigten sich die Bedeutung eines Vertrauensvorschusses des Professionellen (Partizipation, Verlässlichkeit, Aushandeln, In-Konfrontation-Gehen als Zutrauen) und einer wechselseitigen Beziehung (seitens der Klientel: Partizipation, seitens der Professionellen: Zutrauen) für den Aufbau spezifischen Vertrauens. Als Ergebnis sei zudem festzuhalten, dass der Aufbau und die Aufrechterhaltung (reziproker) diffuser Sozialbeziehungen resp. persönlichen Vertrauens zentrale Herausforderungen sozialpädagogischer Praxis seien, die im Professionalisierungsdiskurs bisher jedoch eine Forschungslücke darstellten.
Diana Düring schließt das Kapitel und den gesamten Band mit der Analyse des Vertrauensmissbrauchs im Kontext der Autoritäts- und Strafpädagogik der Heimerziehung der 1950er bis 1970er Jahre und der gegenwärtigen Re-Etablierung von Zwang und Disziplin ab und geht von strukturellen Machtasymmetrien als potentielle Bedingungen für Vertrauensbrüche aus. Im Kontext der Autoritäts- und Strafpädagogik stellt sie „Praxen der Gewalt, [des] Zwang[s] und [der] Disziplinierung“ als eine sozialpädagogische Entwicklungslinie und deren Einfluss auf die Biographien der Adressatinnen und Adressaten (körperliche, psychische, materielle Beeinträchtigungen) dar. Analog ihrer historisch-institutionellen Wurzeln sei auch in der Heimerziehung der 1950er bis 1970er Jahre der Verwahrlosungsbegriff zentral gewesen, dem mit einer Pädagogik der Anpassung, der Unterwerfung und des Gehorsams begegnet worden sei, die im Widerspruch zu Vertrauensbeziehungen stünde (Jasper). Trotz weitreichender Modernisierung der Erziehungshilfe seien aktuelle Re-Etablierungstendenzen innerhalb der Fachdiskurse, der organisatorisch-institutionellen Verfasstheit und der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklungen festzustellen, denen mittels einer Professionsethik begegnet werden müsse, die Vertrauensmissbrauch verhindern und Vertrauen ermöglichen solle.
Diskussion
Ziel des Bandes ist die Differenzierung des Vertrauensbegriffs in der Sozialen Arbeit, wobei mit dem Fokus auf die Prozesshaftigkeit auch die Thematisierung misslingenden/ behindernden Vertrauensaufbaus, die Rekonstruktion von Vertrauensformen in verschiedenen Interaktionsphasen und die Darstellung einer Handlungsfeldspezifik ermöglicht werden soll. Neben dem Einlösen dieser Ansprüche werden komplexe theoretische Modelle über eine beispielhafte Transparenz hinsichtlich des methodischen Vorgehens zugänglich gemacht (Tiefel). Zudem werden Schwierigkeiten auf dem Weg ins Feld und bzgl. des Agierens im Feld nicht nur thematisiert, sondern auf eine fundierte Art und Weise innovativ vertrauenstheoretisch reformuliert (Kassebaum). Darüber hinaus eröffnen die Darstellungen eine Perspektivenvielfalt (Professionelle/ bspw. Tiefel, Adressatinnen/ Zeller, strukturierende Bedingungen/ Düring), wobei nicht bei einer Analyse verblieben wird, sondern engagiert professionsethisch argumentiert wird (Düring).
Fazit
Der Band wird dem Ziel einer differenzierten Ausarbeitung des Vertrauensprozessbegriffs in der Sozialen Arbeit gerecht, wobei die diskursive Aufarbeitung des Forschungsstandes, die fundierte und transparente Generierung von Kategorien und die kontinuierlichen Bezüge zur Praxis Sozialer Arbeit dazu führen können, dass die Leserinnen/ die Leser nach Auseinandersetzung mit dem Band zu dem Schluss kommen, dass sie „spezifisches Vertrauen“ in die Autorinnen/ Autoren entwickelt haben und das bestenfalls auch noch begründen können. Dieser Band hat hohe Relevanz im Diskurs um Vertrauen und Vertrauensprozesse in der Sozialen Arbeit – sowohl aus wissenschaftlicher Perspektive als auch für Professionelle mit dem Anspruch einer ethnographischen Haltung.
Rezension von
Heike Brand
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg; Institut 1 – Bildung, Beruf und Medien; Bereich Erziehungswissenschaft; Professur Pädagogik und Medienbildung
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