Ronald Dworkin: Gerechtigkeit für Igel
Rezensiert von Prof. Dr. Eckart Riehle, 30.10.2013
Ronald Dworkin: Gerechtigkeit für Igel. Suhrkamp Verlag (Frankfurt/M) 2012. 812 Seiten. ISBN 978-3-518-58575-7. D: 48,00 EUR, A: 49,40 EUR, CH: 63,90 sFr.
Autor
Zu dem 1931 geborenen und im Frühjahr dieses Jahres verstorbenen Autor, bedarf es keiner weiteren Angaben. Seit seinem Buch „Bürgerrechte ernst genommen“ ist er auch im deutschsprachigen Raum nicht nur als Vertreter eines ethisch-moralischen Rechtsverständnisses bekannt, sondern als einer der bedeutendsten (Rechts-) Philosophen unserer Zeit, der vielfältige Auszeichnungen erhalten hat, in England und den USA lehrte.
Thema
In diesem Buch begründet und verteidigt Dworkin die These von der Einheit der Werte, der Objektivität der Werte und die Wahrheit der Werte.
Aufbau
Das Buch von 800 Seiten ist in fünf Teile gegliedert, in denen Dworkin die „These von der Einheit der Werte“ (13) entfaltet und begründet, dieses Thema gewiss ein Klassiker der Philosophie. Der Igel, dem Gerechtigkeit widerfahren soll, ist der Gegensatz zum Fuchs, der viele Dinge im Einzelnen und in Teilen weiß, während der Igel eine große Sache weiß, eben die der Einheit der Werte, der widerspruchsfreien Einheit von Moral und Ethik, von gutem und gerechtem Leben. Der Igel ist „Holist“, der Gerechtigkeit im Rahmen einer integrierten Theorie der Ethik und Moral sucht, in einer Theorie, die nur als Zusammenhang und Vernetzung aller Teile, aller Werte und Werturteile in einem Geflecht wechselseitiger Begründungen und Stützung möglich ist.
Inhalt
Teil I (S. 47 – 170) ist der grundlegenden Frage nach der Herkunft von Werten gewidmet, der Frage ob Werte und Werturteile objektiv sein können, wahrheitsdefinit wie Aussagesätze. Gibt es die Wahrheit von Werten, einen Wahrheitsanspruch der Werte, ethischer und moralischer Aussagen? Ethik bezieht Dworkin auf die Frage, was ein gelungenes oder gutes Leben ist, Moral, wie man andere behandeln soll, was man dem Mitmenschen schuldet. Dworkin verteidigt die Auffassung, dass eine Theorie der Wahrheit der Werte Teil einer Theorie der Werte sein muss (49), nicht eine extern beigezogene Wahrheitstheorie. Diskutiert werden moralskeptische Positionen, etwa die Position von Mackie, nach welchem Wahrheit im Bereich moralischer Positionen ausgeschlossen ist (86 ff.), die Thesen von Rorty (108 ff.) und die -nach seiner Ansicht konstruktivistische- Position von Ralws (114ff.). In der Diskussion und Abgrenzung zu diesen Positionen zeichnet sich ab, welchen Weg Dworkin gehen wird, um die Objektivität und Wahrheit von Werten zu begründen. Statt einer subjektivistischen Präferenztheorie, statt Moralskeptizimus und der Suche nach metaphysischen Zufluchtsorten, den Weg der Suche nach den besten Gründen, den Weg der Interpretation.
Teil II (171 bis 322) zeigt den einzuschlagenden Weg auf, dessen Konturen und Pfade. Der Grundgedanke ist, alle Werte interpretativ zu einem kohärenten System zu verbinden. Es ist die Kohärenz dieser besten Interpretationen aller Werte und Gründe in einem „Werteholismus“, der die Wahrheit der Ethik und Moral verbürgen soll (207 ff.). Interpretativ ist ein Begriff, der sich auf Werte bezieht, der nicht merkmalssemantisch abgehandelt werden kann. Werte, auf die wir uns in sozialen Praktiken gemeinsam beziehen, etwa Gerechtigkeit, ohne uns über ihr Bedeutung einig zu sein. Das nennt Dworkin „echte Uneinigkeit“. Die beste Interpretation eines Begriffes oder Werturteils in diesen Praktiken ist jene, die dem durch beste Interpretation ermittelten Zweck des jeweiligen Genres, ein ebenfalls interpretativer Begriff, z.B. der Kunst oder dem Recht, am besten gerecht wird. Immer handelt es sich daher um eine doppelte Interpretation. Dworkin versteht Interpretation als eine Praxis der Wahrheitsfindung, die von moralischer Verantwortung getragen sein muss (171 ff.), aber auch als eine Praxis, in die wir alltäglich immer schon eingebunden sind, wie in eine Lebensform. Wahrheit versteht er eher genrespezifisch, als Ziel einer Untersuchung, spezifiziert im Gang einer Untersuchung, und damit auch als Übergang „von der Wahrheit zur Methode“ (306). Platon und Aristoteles dienen ihm als Beispiele interpretativer Theorien der Moral, Moral als der Bereich der Gründe. Wahrheitsfähige Werte sind daher auch objektiv, nicht Ausdruck subjektiver oder kultureller Präferenzen und nicht im metaphysischen Raum verortet, sondern im logischen Raum ethischer und moralischer Gründe.
Teil III greift nach diesen begrifflichen Vorarbeiten und Erklärungen das Thema der Ethik auf ( 323 – 432), dem sich Teil IV mit dem Thema der „Moral“ (433 -552)anschließt. Auch wenn Ethik und Moral miteinander vernetzt sind, sich gegenseitig stützen, steht die Frage nach dem „guten Leben“ am Anfang, geht es dabei doch um eine objektive Konzeption des gelingenden Lebens, die Wahrheit in Anspruch nehmen und zugleich der Orientierung für die Interpretation moralischer Begriffe und des „gerechten Lebens“ dienen kann.
Es geht für das gute Leben und in der davon zu unterscheidenden Lebensführung nicht um das, was wir als subjektiv bedürftige Wesen wollen, es geht um das, was wir „sollten“, und was interpretativ zu unseren moralischen Verpflichtungen gegenüber anderen passt. Das „holistische“ Projekt (326) erfordert eine Ethik, die einerseits die Interpretation moralischer Begriffe anleiten kann, wie eine Interpretation moralischer Begriffe, die einer Ethik als Orientierung und Maß dienen kann. Beide als Einheit, die aber -so versteht dies der Rezensent- unter dem Vorrang der Ethik steht, weil letztlich das, zu dem wir gegenüber uns selbst verpflichtet sind zugleich das ist, dessen Ermöglichung wir anderen schulden. Ethische und moralische Verantwortung fordert, sich zu bemühen, sein Leben richtig zu gestalten.
Eine zentrale Stelle nimmt für Ethik und Moral der Begriff der Würde ein, den Dworkin über „Authentizität“ und „Selbstachtung“ bestimmt. Selbstachtung als die Forderung wie man sein Leben führen „solle“, als die Forderung an uns, eine gelungene Lebensführung für wichtig zu halten (349). Authentizität ist die andere Seite der Selbstachtung, nicht mit der oberflächlichen Authentizität zu verwechseln, die seit Jahren den Markt der Selbsterkennung überflutet, sondern die eine kohärente Erzählung über das eigene Leben als Ausdruck der Selbstachtung ermöglicht.
Teil IV geht von der Ethik zur Moral über. Wir wissen in unserem Leben um moralische Verantwortung, die auf unsere Lebensführung einwirkt, wir wissen auch, dass wir in Überlegungen zur gelungenen Lebensführung moralischen Verpflichtungen gerecht werden müssen. Wir halten nicht nur unser gutes Leben für objektiv wichtig, sondern dieses auch für aller anderen Personen, das ist für Dworkin das „Kantsche Prinzip“ (442). Was folgt daraus, dass ein für unser Leben gefundener Wert, der des guten Lebens objektiv ist, wenn nicht dieses, dass es sich „um einen Wert der Menschheit selbst handelt“ (450).
Teil V behandelt die Politik (553 – 702), es geht um die interpretativen Grundbegriffe der Politik, Gleichheit, Freiheit, Demokratie und Recht. Es erfolgt damit der Übergang von der persönlichen zur politischen Moral, von der privaten zur öffentlichen Sphäre, vom Individuum zum Kollektiv, zum Staat. An die Stelle des Versprechens in der individuellen Moral tritt der Begriff des Rechts, politischer und juridischer Rechte. Wie in seinen bisherigen Schriften sind hier Rechte politische Trümpfe gegenüber der Politik des Staates. Menschenrecht ist für Dworkin in diesem Zusammenhang das Recht als eine Person behandelt zu werden, deren „Würde von fundamentaler Bedeutung ist“. Dworkin verknüpft auch dies mit dem Anspruch der Wahrheit, und hält deshalb Versuche einer ökumenischen Strategie angesichts unterschiedlicher Kulturen und moralischer Grundsätze, Relativierungen für einen „Ausdruck tiefgreifender logischer Verwirrung“ (573). Gegen Ende geht er noch einmal auf das Verhältnis von Moral und Recht ein, das zwar seit Jahrzehnten in seinen Schriften verhandelt wird, jetzt aber eine grundsätzliche Antwort findet. Der grundlegende Fehler sei, Recht und Moral überhaupt als zwei getrennte Normensysteme zu sehen, wie immer man sie auch miteinander verbindet (680).Es ist diese „zwei Systeme Sichtweise“, die für ihn in die Irre führt. Recht versteht er als ein Teil der politischen Moral (684), eine Konsequenz des Holismus des Igels. In den Baumkronen oder Wurzelgeflechten der Moral ergibt sich eines aus dem anderen, die persönliche Moral aus der Ethik, die politische aus der persönlichen, Rechte aus der politischen Moral. Die Folgen einer solchen moralintegrierten Rechtstheorie sind weitreichend. Die Rechtstheorie ist dann - um nur eine Folge anzusprechen- Teil der politischen Philosophie, letztlich erfordert dies, „das Recht in Einklang mit unserem Gerechtigkeitssinn zu bringen“ (701).
Der Baum der Moral, in allen seinen Verwurzlungen und Verästlungen, das ist für Dworkin die Gerechtigkeit, nach welcher der Igel strebt.
Diskussion
Der Wertholismus des Igels, dieses interpretative Normgeflecht bezieht Interpretation auf Interpretation, bis es zu einer Einheit des guten und des gerechten Lebens kommt. Geht es um Ethik und Moral leben wir immer schon in interpretativen Praktiken, denen man sich nicht entziehen kann. Die Wahrheit dieser Einheit soll durch die bestmögliche Interpretation ermöglicht sein. Aber ist dies nicht eine Art interpretativer Zirkel, der Interpretation neben Interpretation setzt, so dass eigentlich die Botschaft lauten müsste, wir sollten diese Praktiken, diese Praxis so gestalten, dass das gute und das gerechte Leben in eins fällt. Aber welche Welt, welche Strukturen, welche Lebensformen setzt das voraus?
Fazit
Zu Fragen der Gerechtigkeit, des guten und gerechten Lebens konnte man lange nicht an Ralws Theorie der Gerechtigkeit vorbeigehen. Das wird so bleiben. Aber genauso gilt dies künftig für das Werk von Dworkin, das in diesem Buch seine Beste Interpretation, für Dworkin seine Wahrheit gefunden hat.
Rezension von
Prof. Dr. Eckart Riehle
em. Professor für öffentliches Recht und Sozialrecht an der Fachhochschule Erfurt. Rechtsanwalt, Karlsruhe
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Zitiervorschlag
Eckart Riehle. Rezension vom 30.10.2013 zu:
Ronald Dworkin: Gerechtigkeit für Igel. Suhrkamp Verlag
(Frankfurt/M) 2012.
ISBN 978-3-518-58575-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14137.php, Datum des Zugriffs 12.11.2024.
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