Christoph Steinebach, Daniel Jungo et al. (Hrsg.): Positive Psychologie in der Praxis
Rezensiert von PD Dr. phil. Dipl.-Psych. Thomas von Lengerke, 25.09.2013
Christoph Steinebach, Daniel Jungo, René Zihlmann (Hrsg.): Positive Psychologie in der Praxis. Anwendung in Psychotherapie, Beratung und Coaching. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2012. 252 Seiten. ISBN 978-3-621-27935-2. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 53,90 sFr.
Herausgeber
- Prof. Dr. Christoph Steinebach ist Direktor des Departements Angewandte Psychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
- Dr. Daniel Jungo ist Direktionsassistent am Laufbahnzentrum der Stadt Zürich und privater Berufs-, Studien- und Laufbahnberater.
- Dr. René Zihlmann war bis zu seiner Pensionierung 2011 Direktor des Laufbahnzentrums der Stadt Zürich. Er ist u. a. Präsident des Berufslehrverbundes Zürich.
Thema
Acht Jahre nach Herausgabe der ersten Auflage des Buches „Positive Psychologie: Anleitung zum „besseren“ Leben“ durch Ann Elisabeth Auhagen (Weinheim: Beltz; 2004; s. a. www.socialnet.de/rezensionen/2099.php) sind 2012 gleich drei deutschsprachige Bücher zur Praxis der Positiven Psychologie erschienen – eines davon, der Herausgeberband „Positive Psychologie in der Praxis: Anwendung in Psychotherapie, Beratung und Coaching“, der hier besprochen werden soll, sogar in demselben Verlagsprogramm (Psychologie Verlags Union).
Zur Erinnerung: Martin E. P. Seligman hatte während seiner Präsidentschaft der American Psychological Association 1998 diagnostiziert, die Psychologie habe ein Defizit darin, zu einem erfüllteren Leben von Menschen beizutragen, und die "Positive Psychologie" ins Leben gerufen, die sich theoretisch wie praktisch mit positiven Erfahrungen, individuellen Eigenschaften und Institutionen als zentralen Gegenständen beschäftigen und nicht nur psychische Defizite heilen, sondern auch Stärken fördern solle, die Menschen befähigen, das Beste im Leben zu erreichen. Seitdem ist positiv-psychologisch auf internationaler Ebene in der Tat Einiges geschehen. So erscheint seit 2006 das Journal of Positive Psychology (ISSN: 1743-9760 Print, 1743-9779 Online), das Oxford Handbook of Positive Psychology ist inzwischen in zweiter Auflage erschienen (ISBN 978-0-19-518724-3), und die ersten drei Weltkongresse der International Positive Psychology Association haben stattgefunden.
Wiewohl also der Begriff „Positive Psychologie“ schon 1998 nicht mehr neu war, wie Larry K. Brendtko und Christoph Steinebach im ersten Kapitel des vorliegenden Bandes („Positive Psychologie für die Praxis“) konstatieren (Abraham Maslow hatte ihn bereits 1954 verwendet), haben nun alte und neue psychologische Konzepte des „Positiven“ und seiner Förderung ein gemeinsames Dach.
Aufbau
Der Band besteht nach dem Vorwort aus vier Teilen:
- I Grundlagen
- II Konzepte
- III Praxisfelder
- IV Ausblick
Inhalt
Teil I besteht neben dem bereits erwähnten ersten Kapitel aus einem Beitrag mit dem Titel „Modelle der erfolgreichen Entwicklung“, in dem Frieder R. Lang und Jennifer Scheel das Thema entwicklungspsychologisch aufarbeiten und betonen, dass Modellen erfolgreicher Entwicklung und der darin abgebildeten Verfolgung von Zielen ein übergeordnetes Prinzip von ressourcenbezogenem Engagement und ressourcenschonendem Disengagement zugrunde liegt.
Teil II besteht aus neun, jeweils etwa achtseitigen Kapiteln, die jeweils ein zentrales Konzept darstellen:
- Flow (Urs Schallberger),
- Glück (Erich Kirchler und Katharina Gangl),
- Zivilcourage (Hans-Werner Bierhoff und Elke Rohmann),
- Achtsamkeit (Yuka Nakamura),
- Humor (Ursula Beermann und Andrea Samson),
- Kreativität (Günter Krampen, Christine P. Seiger und Christoph Steinebach),
- Vertrauen (Marc Schipper und Franz Petermann),
- Resilienz (Christoph Steinebach) und
- positiver Attributionsstil (Marc Schreiber).
Teil III stellt erwartungsgemäß den längsten Abschnitt des Buches dar und präsentiert in sechs Unterabschnitte 15 Kapiteln zu unterschiedlichen Praxisfeldern:
- Diagnostik,
- Therapie und Coaching,
- Gesundheit,
- Ehe- und Lebensberatung,
- Berufswahl, Organisationen und
- Gesellschaft.
In Teil IV schließt der Detlev von Uslar unter dem Titel „Das Positive im Menschen sehen“ den Band mit Überlegungen ab, die vor allem das Leib-Seele-Problem aufgreifen und unter Rückgriff auf anthropologisch- und tiefenpsychologische sowie philosophische Aspekte die Bedeutung von Sinnzusammenhängen und Zukunftsbezogenheit für menschliches Dasein unterstreichen.
Diskussion: Qualität und Nutzen
Formal macht das bewährte Design und Layout des Beltz?schen PVU-Programms den Band für meinen Geschmack angenehm zu lesen. Er ist gut strukturiert und enthält ein orientierendes und ein ausführliches Inhaltsverzeichnis sowie ein solides Sachwortverzeichnis. Zudem ist die in den einzelnen Kapiteln zitierte Literatur in der Regel aktuell, einschlägig und instruktiv.
Inhaltlich
versammelt der Band sicherlich viel wissenschaftliche Expertise zu
den zentralen Konzepten (nicht zuletzt seitens Hans-Werner
Bierhoff
und Günter
Krampen),
und stellt eine angenehm diversifizierte Palette an Praxisfeldern
dar. Zwar ist die Systematik der Zuordnung einzelner Praxisfelder zu
den Unterabschnitten nicht immer ganz nachvollziehbar (so wäre das
Kapitel von Wiebke
Göhner
zu „Gesundheit durch körperliche Aktivität“ m. E. besser im
Unterabschnitt „Gesundheit“ – statt „Gesellschaft“ –
aufgehoben gewesen), jedoch sind die meisten relevanten Ebenen von
Individuum (Unterabschnitt „Therapie und Coaching“ mit den
Beiträgen „Ressourcenorientierte Psychotherapie“ von Marcel
Schär,
Christoph
Flückinger
und Martin
Grosse Holtforth
sowie „Coaching und Positive Psychotherapie“ von Christine
P. Seiger
und Hansjörg
Künzli)
bis „Gesellschaft“ (mit dem Beitrag „Positiver Medienumgang und
Medienkompetenz“ von Daniel
Süss)
repräsentiert. Unter anderem finden die Diagnostik positiver
Identität und Selbswirksamkeitserwartung (Francois
Stoll,
Marc
Schreiber
und Marco
Vannotti),
posttraumatische Reifung (Gernot
Brauchle),
Ressourcen der Partnerschaft (Marcel
Schär
und Christine
P. Seiger),
Positive Psychologie in der beruflichen Beratung (Daniel
Jungo
und Esther
Albrecht)
und Positive Leadership (Sieglind
Chies
und Eric
Lippmann)
ihren Platz.
Meine hauptsächliche Kritik bezieht sich auf den
Duktus des Bandes, den ich ehrlich gesagt als – wie soll ich sagen?
– etwas trocken und gelegentlich fast etwas szientistisch empfinde.
Um einen Eindruck davon zu vermitteln, was ich meine, möchte ein
Beispiel in Form eines etwas längeren Zitates aus dem Kapitel zu
„Peerbeziehungen und Gesundheit im Jugendalter“ von Christoph
Steinebach,
Ursula
Steinebach
und Larry
K. Brendtko
geben: „Die vielfältigen Veränderungen im Jugendalter werden für
eine Vielfalt von Problemen verantwortlich gemacht. Die
Sturm-und-Drang-Phase in der Jugend scheint nach Meinung vieler
Fachleute unausweichlich in Risikoverhalten und Gewalt zu münden.
Dem ist die Sicht der Positiv en Jugendentwicklungspsychologie
entgegenzustellen, die auf individuelle Stärken und soziale
Ressourcen verweist. Die Wurzeln dieser Perspektive liegen zunächst
in der Entwicklungspsychologie, die viele Befunde der soziologischen,
psychologischen und biologischen Forschung zusammenführt. Die
Lebensspannenentwicklungspsychologie … und Bronfenbrenners …
systemische Ökologie der menschlichen Entwicklung verweisen auf die
komplexen und dynamischen Wechselwirkungen zwischen Person und
Umwelt“ (S. 154). Jede Metapher hinkt, und die folgende sehr, aber
für mich persönlich ist das ein wenig so, als ob ich die ZEIT statt
des SPIEGEL lese – alles sehr klug und richtig, aber eher wenig
pointiert (Anm.: ich persönlich lese beide genannten Organe…).
Auch finde ich, dass einige der Abbildungen (speziell 1.1 [S. 22],
18.2 [S. 166], 21.1. [S. 192], 22.1 [S. 199] und 24.1 [S. 213]) als
mehr oder weniger komplexe Flussdiagramme zwar zwischen Person und
Umwelt praktisch alles mit allem verbinden, jedoch eben keine echten
Mehrebenenmodelle darstellen – und daher aus meiner Sicht über die
sicherlich wichtige Einsicht hinaus, dass die Dinge eben komplex
sind, wenig Erkenntnisgewinn beitragen.
Schließlich war ich (ehrlich gesagt: baff) erstaunt, dass ich keine Bezüge auf den eingangs erwähnten Band von Auhagen bzw. seine 2008 erschienene zweite Auflage in derselben Verlagsreihe(!) finden konnte. Um nicht missverstanden zu werden: Dies ist sicher legitim. Und dennoch: Ich hätte von (den Herausgebern) einer deutschsprachigen Buchpublikation, die den Anspruch hat, „den Stand der Positiven Psychologie in der Praxis anzuschauen und zu würdigen“ (S. 15), etwas stärkere Ambitionen erhofft, dies unter Berücksichtigung bisheriger zentraler deutschsprachiger Publikationen mit ähnlichem Anspruch zu tun.
Fazit
Wer für seine positiv-psychologische Bibliothek eine Ergänzung zur o. g. zweiten Auflage des Bandes von Auhagen im Sinne weiterer Konstrukte (lediglich Vertrauen und Achtsamkeit werden in beiden Büchern abgedeckt) und wissenschaftlicher Perspektiven zu Praxisfeldern sucht, dem sei der vorliegende Band empfohlen! Wer eine ergänzende, ebenfalls wissenschaftlich fundierte und zugleich stärker erfahrungsorientierte Darstellung (selbstverständlich ebenfalls ausgewählter) positiv-psychologischer Konstrukte und Praxisfelder sucht, die Anregungen zu – neben professioneller – auch persönlicher Reflexion gibt, dem würde ich eher die Monografie „Praxis der Positiven Psychologie“ der Psychotherapeutin Frederike P. Bannink empfehlen (Göttingen: Hogrefe; 2012; s. a. www.socialnet.de/rezensionen/14143.php).
Rezension von
PD Dr. phil. Dipl.-Psych. Thomas von Lengerke
Stv. Leiter der Forschungs- und Lehreinheit Medizinische Psychologie der Medizinischen Hochschule Hannover
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Es gibt 13 Rezensionen von Thomas von Lengerke.
Zitiervorschlag
Thomas von Lengerke. Rezension vom 25.09.2013 zu:
Christoph Steinebach, Daniel Jungo, René Zihlmann (Hrsg.): Positive Psychologie in der Praxis. Anwendung in Psychotherapie, Beratung und Coaching. Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2012.
ISBN 978-3-621-27935-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14142.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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