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Gideon Botsch (Hrsg.): Islamophobie und Antisemitismus - ein umstrittener Vergleich

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 09.09.2013

Cover Gideon Botsch (Hrsg.): Islamophobie und Antisemitismus - ein umstrittener Vergleich ISBN 978-3-11-026510-1

Gideon Botsch (Hrsg.): Islamophobie und Antisemitismus - ein umstrittener Vergleich. Walter de Gruyter (Berlin) 2012. 265 Seiten. ISBN 978-3-11-026510-1. 69,95 EUR.
Reihe: Europäisch-jüdische Studien. Kontroversen - Band 1.

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Thema

„Feindbild Muslim – Feindbild Jude“ – als das Zentrum für Antisemitismusforschung vor fünf Jahren eine Konferenz mit diesem Titel durchführte, war die Aufregung groß. Wolfgang Benz, langjähriger Leiter des Berliner Zentrums und renommierter Antisemitismusforscher, wurden antisemitische Motive unterstellt; dem Zentrum insgesamt wurde vorgeworfen, den Antisemitismus durch den Vergleich mit dem antimuslimischen Rassismus zu bagatellisieren. Wie irrational, ja blindwütig diese Vorwürfe waren, wird nun noch einmal deutlich, wenn man den von Gideon Botsch, Olaf Glöckner, Christoph Kopke und Michael Spieker herausgegebenen Band in die Hand nimmt. Jenseits wechselseitiger Verdächtigungen und Unterstellungenwird in ihm über die Möglichkeiten, aber auch Grenzen einer komparativen Analyseperspektive in der Rassismus- und Antisemitismusforschung nachgedacht.

Ergänzt um weitere vier Beiträge dokumentiert der Sammelband die Vorträge der Tagung „Feindbild Islam und Antisemitismus – ein umstrittener Vergleich“, die das Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam und die Akademie für Politische Bildung in Tutzing im Jahr 2011 durchführten. Zugleich eröffnet das Buch die Reihe „Kontroversen“, mit der das Moses Mendelssohn Zentrum in Kooperation mit dem Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg aktuelle Debatten aufzunehmen beabsichtigt.

Aufbau und Inhalt

Gegen eine „vorschnelle, zu wenig reflektierte Verwendung von Vergleichen“ (S. 43) richtet sich der Beitrag von Monika Schwarz-Friesel und Evyatar Friesel. Beim Zentrum für Antisemitismusforschung sei genau dies der Fall gewesen. Vorschnell sei der Antisemitismus „in Analogie zu allen Vorurteilsmechanismen, xenophobischen Abwehrreflexen und Diskriminierungspraktiken gesetzt“ (S. 45) worden, was – zwar nicht intendiert, aber doch unvermeidlich – Effekte der Derealisierung und Relativierung nach sich gezogen habe. Ein kontrastiver Vergleich der Phänomene hingegen zeige, „dass der Antisemitismus (…) etwas Einzigartiges in der Kulturgeschichte darstellt und sich nicht homogenisierend in sozialpsychologische Kategorien wie Xenophobie oder gruppenbezogene Menschenfeindschaft einordnen lässt“ (S. 46). Nur wenn man die Phänomene auf Sozialpsychologie verkürze, ließen sich Analogieschlüsse begründen. In wesentlichen Punkten aber seien moderner Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus verschieden, von einer strukturellen Identität könne also keine Rede sein.

So richtig und wichtig dieser Befund mit Blick auf die gesellschaftsgeschichtliche Genese und die zentralen Mechanismen des modernen Antisemitismus einer-, des Rassismus andererseits ist, so falsch hingegen liegen Schwarz-Friesel/Friesel in ihrer Einschätzung der aktuellen Muslimenfeindschaft, wenn sie schreiben: „Muslim- oder Islam-Feindschaft (...) findet sich heute in unserer Demokratie nur an den rechten Rändern der Gesellschaft, während die sozialen und politischen Institutionen unserer modernen Gesellschaft alles tun, um Gewalt und Hass einzudämmen, um Xenophobie entgegenzuwirken, um Verständnis und Toleranz sowie die Integration zu fördern. Jeder Versuch, anti-muslimische Stimmung auf breiter Basis zu erzeugen, wird konsequent von Medienvertretern und Politikern sanktioniert“ (S. 41). Schön, wenn es so wäre. Die Wirklichkeit aber sieht anders aus. Nicht nur Antisemitismus, sondern auch Muslimenfeindschaft – dies zeigen alle empirischen Befunde – ist heute ein Phänomen in der Mitte der Gesellschaft, und Medien wie auch Politiker tragen einen großen Teil dazu bei.

Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ gibt dafür nur das krasseste Beispiel ab. Dass es zwischen ihm und dem Antisemitismus eines Heinrich von Treitschke, dessen infamer Satz „Die Juden sind unser Unglück“ im Jahr 1879 den ersten Antisemitismusstreit der deutschen Geschichte auslöste, durchaus Parallelen gibt, zeigt Micha Brumlik in seinem Beitrag. Er erkennt in Sarrazin den „Treitschke des frühen 21. Jahrhunderts“ (S. 79). Tatsächlich kursiert der nicht minder böse Satz „Die Muslime sind unser Unglück“ heute als Hetzparole in rechtspopulistischen Kreisen. Daran zeigt sich nicht nur, dass die Muslimhasser sich skrupellos aus dem Motivrepertoire des Antisemitismus zu bedienen wissen, sondern auch, dass die Muslimenfeindschaft ähnlich paranoide Züge annimmt wie man sie von Judenhassern schon lange kennt.

Semantische Überschneidungen mit antisemitischen Traktaten jedenfalls sind unbestreitbar. Darauf weist auch Juliane Wetzel in ihrem Beitrag hin: „Diskurse des Antisemitismus aus dem 19. Jahrhundert lassen sich mit islamfeindlichen Debatten heute vor allem in Bezug auf Moscheebauten, aber auch bei religiösen Schriften vergleichen. Ebenso wie im 19. Jahrhundert die pseudowissenschaftliche Exegese der Thora (…) werden selektive Zitationen des Korans vorgenommen. Absichtliche Fehlübersetzungen von Talmudzitaten (…), die als Begründung für judenfeindliche Angriffe dienten, sind heute in Bezug auf den Koran evident und münden in islamfeindlichen Anschuldigungen“ (S. 99f.). Wie die zum Teil offenen, zum Teil subtilen Widerstände von Stadtverwaltungen und lokaler Politik gegen den Bau repräsentativer Synagogen selbst noch, ja gerade nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden im Jahr 1871 aussahen, stellt Ulrich Knufinke in seinem Beitrag dar. Auch hier scheint es heute Ähnliches zu geben, wie der Beitrag von Thomas Schmitt mit Blick auf die z. T. äußerst aggressiven Bündnisse gegen Moscheebauten zeigt.

Dass allerdings Islamophobie für die Beschreibung dieser Phänomene das richtige Wort ist, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Die Beiträge von Pfahl-Traughber und Kaltweiß/Salzborn weisen einmal mehr die analytische Unbrauchbarkeit dieses Begriffs nach. Gleichwohl soziale und individuelle Angst die zentrale sozialpsychologische Rolle spielen, sind Muslimenhasser in der Regel keine Phobiker, deren Kennzeichen gerade die Flucht vor dem Objekt ihrer krankhaften Angst ist. Stattdessen gilt es das Zusammenspiel von Alltagsrassismus und Rechtspopulismus zu begreifen. Alltagsrassismus ist ein äußerst flexibles, keineswegs konsistentes und logisch stringentes Medium. Rechtspopulisten knüpfen daran an und versuchen, den Alltagsrassismus weltanschaulich zu organisieren. Wie dies funktioniert und warum dabei das Thema „Islam“ als massenmobilisierende Semantik heute so attraktiv ist, zeigt der Beitrag von Alexander Häusler.

Beiträge zur unverminderten Virulenz des Antisemitismus nach 1945 (Julius H. Schoeps; Monika Halbinger), zum antimuslimischen Rassismus bei Unions-Politikern (Thorsten Gerald Schneiders) und zum Antisemitismus bei jungen muslimischen Frauen und Männern (Kristina Kraft/Manuela Freiheit/Viktoria Spaiser) runden den Band ab.

Fazit

Angesichts der Invektiven, der sich das Zentrum für Antisemitismusforschung ausgesetzt sah, als es wagte, über Ähnlichkeiten zwischen Antisemitismus und Muslimenfeindschaft nachzudenken, ist es ein Verdienst des vorliegenden Bandes, die Kontroverse in zivilisierte Bahnen gelenkt zu haben. Dabei zeigt sich, wie eingangs erwähnt, wie überzogen die Hasstiraden waren. In keinem Beitrag wird die Singularität des Antisemitismus bestritten, wird Muslimenfeindschaft mit Antisemitismus gleichgesetzt, wird die irrsinnige Behauptung aufgestellt, Muslime seien „die Juden von heute“. Konsens besteht vielmehr darüber, dass Vergleiche nur dann Sinn machen, wenn sie nicht subsumierend, sondern reflektierend verfahren. Es geht nicht um plumpe Analogiebildungen, sondern darum, hinter den vermeintlichen Ähnlichkeiten der Phänomene die spezifischen Differenzen zu konturieren. Es geht um reflektierende Urteilskraft, die sich im Disput entfaltet, sofern sich die Streitenden an die Regeln des argumentativen Streits zu halten bereit sind.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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Es gibt 23 Rezensionen von Wolfram Stender.

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ISSN 2190-9245