Gerd Meyer, Siegfried Frech (Hrsg.): Zivilcourage
Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Hansen, 05.08.2013

Gerd Meyer, Siegfried Frech (Hrsg.): Zivilcourage. Aufrechter Gang im Alltag.
Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2012.
318 Seiten.
ISBN 978-3-89974-784-3.
D: 16,80 EUR,
A: 17,30 EUR.
Reihe: Basisthemen Politik.
Herausgeber
Gerd Meyer ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen und durch zahlreiche Publikationen zum Thema Zivilcourage ausgewiesen. Siegfried Frech ist Publikationsreferent bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und Lehrbeauftragter für die Didaktik politischer Bildung an der Universität Tübingen.
Lesebuch
Das Buch ist eine Anthologie, die neben der Einleitung der Herausgeber 14 Einzelbeiträge enthält, von denen die beiden Aufsätze des Herausgebers Gerd Meyer es allein auf einen Umfang von ca. 90 Seiten bringen. Entsprechend kurz fallen die übrigen Beiträge aus.
Alltagscourage
Wer sich durch öffentlichen Mut exponiert, indem er randalierenden Skinheads in der S-Bahn Einhalt gebietet oder eine Mutter zur Rede stellt, die im Supermarkt auf ihr Kind einprügelt, pflegt den „aufrechten Gang im Alltag“, von dem im Untertitel die Rede ist.
Wir leben in einem Land mit einer langen obrigkeitsstaatlichen Tradition. Sowohl der zivile Bürgermut im täglichen Leben als auch der politische Widerspruch beginnen sich erst seit den 1960er Jahren in Deutschland einzuwurzeln. Heute genießt der „Held des Alltags“ großes Ansehen. Seine Disziplinen des unerschrockenen „Mundaufmachens“ und „Gegen-den-Strom-Schwimmens“ haben den „urdeutschen“ Gewohnheiten des Mitlaufens, Wegduckens und Abnickens den Kampf angesagt. Das stimmt optimistisch!
Lange Tradition
Die Idee der Zivilcourage hat eine lange Tradition. In der Nikomachischen Ethik von Aristoteles ist vom „bürgerlichen Mut“ die Rede. Er besteht in der eigenmächtigen Tapferkeit, gegen ethisch Verwerfliches in der Gesellschaft aufzutreten. In der römischen Antike kommt dieser Gedanke im Begriff der „fortitudo civilis“ zum Ausdruck. Und Kant fordert dazu auf, von seinem Verstand „öffentlichen Gebrauch“ zu machen.
Die Ahnenreihe der Protagonisten mutigen öffentlichen Auftretens ist ebenfalls lang. Im Buch reicht sie von Jesus von Nazareth bis zu Dominik Brunner aus München-Solln.
Mut
Das Hauptwort des Buches ist „Mut“. Auch Neonazis sind mutig, wenn sie auf offener Straße und gegen den Mainstream „Türken raus!“ rufen. Sind sie deswegen Vorbilder für Zivilcourage? Ganz und gar nicht. Der Mut des Zivilcouragierten gilt immer humanistischen, menschenfreundlichen Werten und keiner „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“. Zivilcouragierter Mut wird normativ umrahmt von den Menschenrechten. Außerdem unterscheidet er sich vom neonazistischen Mut durch den Verzicht auf Verherrlichung und Ausübung von Gewalt. Mut gehört zur Zivilcourage immer dazu. Aber Mut alleine macht noch keine Zivilcourage aus.
Systematik des Begriffs
Zivilcourage ist eine riskante Spielart des prosozialen Verhaltens. Mitherausgeber Gerd Meyer schreibt im Buch ausführlich darüber. Sie tritt in den beiden Varianten „sozialer Mut“ und „ziviler Ungehorsam“ auf. Als sozialer Mut ist sie ein hilfreiches Eintreten für Mitbürger in (unverschuldeten) Not- und Unrechtssituationen. Als ziviler Ungehorsam übt sie Widerspruch, Protest und gewaltfreien Widerstand gegen fragwürdige Vorhaben und Entscheidungen des Staates. Ihre Schauplätze liegen immer in der Öffentlichkeit, nicht in den privaten vier Wänden. Das klassische Vorbild für Zivilcourage als sozialer Mut ist der Barmherzige Samariter aus dem Lukas-Evangelium. Klassisches Vorbild des zivilen Ungehorsams ist Sophokles? Widerstands-Heldin Antigone. Die Sorge um das Wohl Anderer und die Gerechtigkeit des Gemeinwesens ist eine starke Triebfeder zivilcouragierten Handelns. Zivilcourage kann sowohl altruistisch als auch egoistisch motiviert sein. Von einem Eintreten für Andere und das gemeinsame Ganze sollte man nicht verlangen, dass es stets „selbstlos“ sei; man sollte vielmehr erfreut sein, wenn es überhaupt geschieht und obendrein noch erfolgreich ist. Nicht nur „Gutmenschen“ sind zur Zivilcourage willens und in der Lage.
Zivilcourage lernen
Zivilcourage ist ein grundsätzlich erlernbares Sozialverhalten und keineswegs eine angeborene Tugend oder persönliche Temperamentssache. Die Schulung von Zivilcourage in Schule und außerschulischen „Trainings“ verläuft im wesentlichen über Einstellungs- und Verhaltensmodifikationen. Kai J. Jonas, Anne Frey und Sabine Weiß berichten ausführlich darüber.
Erziehung zur Zivilcourage ist vor allem eine Schulung der Konfliktfähigkeit in öffentlichen Not- und Unrechtssituationen, bei denen mehrere Zeugen anwesend sind, ohne dass auch nur einer etwas tut. „Alle gaffen, keiner hilft.“ Man lernt mit verbal- und körpersprachlichen Mitteln zu intervenieren ohne zu eskalieren. Man lernt Unterstützung unter den Ängstlichen und Zaghaften zu organisieren ohne zu progromisieren. Die Inter-Passivität der anwesenden Zeugen gilt es auf gewaltfreien Wegen in eine konfliktlösende Inter-Aktivität zu überführen. Der Gewinn bewiesener Zivilcourage ist für die Mutigen eine Stärkung ihres Selbstbewusstseins. Von Misserfolgen lassen sie sich nicht entmutigen: Es geht schließlich darum, etwas zu tun und sich nicht wegzuducken. Die Hilfeleistung kostet womöglich passagere Schmerzen und persönliche Nachteile; die Nichthilfe kostet womöglich lebenslang nagende Gewissensbisse. Für das Gemeinwesen ist der „Ansteckungseffekt“ besonders wichtig: Der bewiesene Mut des einen ermutigt die anderen.
Soziales Kapital
„Die Zivilgesellschaft ist dann stark, wenn sich viele Leute etwas trauen“, schreibt Heribert Prantl in seinem Beitrag. Nicht ein Zuviel an Gewalt ist das primäre Problem unserer Gesellschaft, sondern ein Zuwenig an Konfliktbereitschaft und ein Zuviel an Loyalität. Immer wieder hat der (blinde) Gehorsam der Ja-Sager die Menschheit in Katastrophen geführt, nicht die Nein-Sager und der humanistische Widerstand. Zivilcourage gehört zum Sozialkapital einer humanen Gesellschaft.
Whistleblowing
Das Buch erscheint in einer Zeit, da der us-amerikanische Soldat und Wikileaks-Informant Bradley Manning und der us-amerikanische Geheimdienst-Mitarbeiter Edward Snowden die Schlagzeilen beherrschten. Sie sind die tragischen „Stars“ unter den „Whistleblowern“.
Allein fünf Beiträge des Buches widmen sich dem Mut am Arbeitsplatz, also den „Nestbeschmutzern“ (das deutsche Unwort für Whistleblower), die als Innenseiter auf Ungerechtigkeit, Korruption und persönliche Demütigungen im Betrieb aufmerksam machen und damit den Betriebsfrieden stören und den Korpsgeist verstören.
Wolfgang Däubler klärt die Frage: „Wie weit geht die Meinungsfreiheit in Betrieben, Verwaltungen und Schulen?“
“Sind kritische Mitarbeiter erwünscht?“, fragen sich Dieter Frey und Albrecht Schnabel. Lucie Billmann und Josef Held erörtern „Macht und Ohnmacht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“.
Josef-Otto Freudenreich sieht sich am eigenen Arbeitsplatz des Journalisten-Berufs um und befindet, dass Existenzangst und Karriere-Ehrgeiz die wichtigsten Hindernisse für Zivilcourage im Journalismus sind. Gelegentlich verfällt der Aufsatz in einen wehleidigen Ton, zum Beispiel wenn er die redaktionsinternen Widerstände – aus Anzeigenkundenhörigkeit oder ähnlichen Abhängigkeiten – gegen die Praxis des investigativen Journalismus beklagt. Nicht jeder Gegenwind macht Zivilcourage nötig. Manchmal genügt es, einfach stur zu sein und sich nicht einschüchtern zu lassen.
Marco Bülow, SPD-Abgeordneter im Deutschen Bundestag, thematisiert die Zivilcourage, die von einem gewählten Volksvertreter zu verlangen ist. Zwei Dinge hebt er hervor: Der Parlamentsabgeordnete von heute hat als erstes, so könnte man mit Ingeborg Bachmann sagen, „Tapferkeit vor dem Freund“ zu beweisen und der oft übersteigerten Fraktionsdisziplin in den eigenen Reihen den Gehorsam zu verweigern. Dann hat er sich der immer größer werdenden Macht der Lobbyisten zu widersetzen, die den Einfluss des Bundestages unterminiert. Beides ist riskant für das eigene Fortkommen als Volksvertreter, aber notwendig, nicht zuletzt um dem Artikel 38 des Grundgesetzes zu genügen, der den Abgeordneten ins Stammbuch schreibt, „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ zu sein.
Insgesamt verteidigt das Buch die Rolle der Whistleblower vehement: „Dort, wo Menschenwürde wieder hergestellt wird, wo Defizite im Ablauf von Prozessen, bei Produkten und Dienstleistungen durch Zivilcourage angeprangert und reduziert werden, führt dies insgesamt zu erhöhter Motivation, Kreativität, Innovation und Exzellenz.“
In Demokratien überflüssig?
Braucht es in einer rechtsstaatlichen Demokratie überhaupt Zivilcourage? Als sozialer Mut braucht es sie in allen Systemen. Als ziviler Ungehorsam dient sie einer funktionierenden Demokratie zur internen Verbesserung. In Diktaturen richtet sich ziviler Ungehorsam auf deren Abschaffung; sie ist mit ungleich höheren Risiken für das Eigenwohl der Akteure verbunden als in der Demokratie und steigert sich nicht selten zum militanten Widerstand.
Ziviler Ungehorsam ist die einer funktionierenden Demokratie angemessene Form des Widerstandes. Sie ist ein von den Bürgern ausgehender Verfassungsschutz. Im schwierigsten Fall beantwortet sie legale Verletzungen der Legitimität durch die Herrschaftsautoritäten mit legitimen Verletzungen der Legalität durch die „Basis“. Als Quelle der Selbstachtung des mündigen Bürgers steht Zivilcourage in Demokratien immer auf der Tagesordnung.
Fazit
Das Buch erscheint in der Reihe „Basisthemen Politik“. Es signalisiert damit, dass die Zivilcourage heute den Rang einer Schlüsselqualifikation des Citoyen einnimmt und zu den Lehrinhalten und Lernzielen der politischen Bildung gehören sollte. Niemand wird mutig geboren, aber jeder kann mutig werden. Das Buch weist Wege dazu. Für die demokratische politische Kultur eines Landes ist der aufmerksame und hilfsbereite Mut-Bürger wichtiger als der launische und neuerdings wortreich umschmeichelte Wut-Bürger.
Rezension von
Prof. Dr. Klaus Hansen
Mailformular
Es gibt 101 Rezensionen von Klaus Hansen.
Zitiervorschlag
Klaus Hansen. Rezension vom 05.08.2013 zu:
Gerd Meyer, Siegfried Frech (Hrsg.): Zivilcourage. Aufrechter Gang im Alltag. Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2012.
ISBN 978-3-89974-784-3.
Reihe: Basisthemen Politik.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14157.php, Datum des Zugriffs 28.05.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.