Jesper Juul: Familienberatung
Rezensiert von Prof. Dr. Marius Metzger, 21.02.2013

Jesper Juul: Familienberatung. Perspektiven und Prozess.
Voelchert
(München) 2012.
155 Seiten.
ISBN 978-3-935758-21-5.
Reihe: Edition + plus.
Thema
Im Buch „Familienberatung. Perspektiven und Prozess“ wird interessierten Praktikerinnen und Praktikern anhand allgemeiner Prinzipien der Familienberatung das geronnene Erfahrungswissen verschiedener Familienberaterinnen und Familienberater zugänglich gemacht. Der Beratungsprozess wird entlang der Phasen Beginn, Verlauf und Abschluss beschrieben. Die Bedeutung der beraterischen Prinzipien wie auch die Bearbeitung der einzelnen Prozessphasen werden anhand zahlreicher Beispiele aus dem Familienberatungsalltag veranschaulicht. Die Zielsetzung des Buches bleibt dabei vergleichsweise allgemein auf die Beschreibung von Familienberatungsgesprächen ausgerichtet: „Dieses Buch hat es sich zum Ziel gesetzt, die Gespräche zu beschreiben, die zwischen Beratern, Familientherapeuten und den Eltern derjenigen Kinder stattfinden, die aus dem einen oder anderen Grund in Schwierigkeiten geraten sind. Es spielt in diesem Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle, ob diese Schwierigkeiten sozialer, kognitiver, motorischer oder sprachlicher Natur sein mögen“ (S. 7). Das Buch scheint sich implizit an noch vergleichsweise unerfahrene Familienberaterinnen und Familienberater zu richten, da diese „auf eine Art Geländer angewiesen sind, an dem sie sich festhalten können“ (S. 8).
Herausgeber
Jesper Juul engagiert sich seit 34 Jahren als Familienberater und Ausbildner am Kempler Institute of Scandinavia, welches er während 25 Jahre auch selbst leitete. 2004 gründete er mit dem FamilyLab International eine internationale Organisation, welche Familien respektive die mit der Begleitung von Familien betrauten Fachpersonen mittels Beratung, Training und Schulungen unterstützt. Jesper Juul hat verschiedene Bücher im Themenbereich Erziehungs- und Familienberatung publiziert.
Entstehungshintergrund
Die im Buch beschriebene erlebnisorientierte Familientherapie hat ihre Wurzeln in einem humanistisch-existenzialistischen Theorieverständnis, welches in der Aus- und Weiterbildung von Familienberaterinnen und Familienberatern des Kempler Institute of Scandinavia Anwendung findet. Das Institut wurde 1979 durch den Arzt Mogens Lund, der Sozialarbeiterin Lis Keiser und dem Familientherapeuten Jesper Juul in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Psychiater und Familientherapeuten Walter Kempler gegründet. Das Institut ist vorwiegend in Dänemark, aber auch in anderen skandinavischen Ländern aktiv.
Inhalte
Im ersten Kapitel „Einleitung“ wird die Notwendigkeit für ein selbstständiges Fach Familienberatung begründet, welches sich nicht primär am jeweiligen disziplinären Hintergrund der Fachpersonen als vielmehr an den Erfordernissen der konkret vorgefundenen Familiensituation orientieren sollte. Ausgehend von einer solchen als erlebnisorientiert bezeichneten Familientherapie will sich das Buch zentralen Prinzipien der Familienberatung widmen, welche ein aktives und persönliches Engagement der Beratenden voraussetzen.
Im zweiten Kapitel „Perspektiven“ wird die Familie als älteste Institution der Menschheit in den Blick genommen und einige gesellschaftliche Entwicklungen benannt, die zur Ausbildung verschiedener Familienmodelle geführt haben sollen. Am Beispiel der alleinerziehenden Eltern werden die besonderen Herausforderungen aufgezeigt, mit welchen Eltern und deren Kinder konfrontiert sind. Es wird dabei davon ausgegangen, dass bei vielen Eltern Unsicherheiten darüber bestehen, wie die Gemeinschaft mit den Kindern auf lange Sicht sinnvoll und fruchtbar zu gestalten ist: „Oft fehlt einfach das nötige Wissen, wie wir liebevolle Gefühle in liebevolles Verhalten umwandeln können“ (S. 15). Die Unsicherheit im Umgang mit den eigenen Kindern führe dann auch dazu, dass solche Familien relativ früh Signale über die Qualität der Funktionsweise der Familie aussenden. Abhängig vom Zusammenspiel der einzelnen Familienmitglieder resultieren symptomschaffende, symptomerhaltende oder symptomheilende Prozesse, wobei stets die ganze Familie dafür die Verantwortung trage, ganz gleich um welches Problem es sich dabei handle. An diese Überlegungen zur Funktionsweise von Familien anschliessend, wird das Familiengeschehen im Kontext von Kooperation und Integrität, Prozess und Inhalt, Selbstgefühl und Selbstvertrauen sowie Verantwortung in den Blick genommen und anhand zahlreicher Beispiele illustriert. Zum Schluss des Kapitels wird die Teenagerfamilie thematisiert, da der Übergang der Kinder ins Jugendalter auch das Ende einer besserwisserischen Erziehung bedeute, welche in eine gleichwürdige Freundschaft übergehen müsse.
Im dritten Kapitel „Methoden“ sind die folgenden fünfzehn allgemeine Prinzipien der Familienberatung beschrieben, welche erfahrungsgemäss zu einem gelingenden beraterischen Prozess beitragen:
- „Sei persönlich“,
- „Stelle so wenige Fragen wie möglich“,
- „Triff eine Vereinbarung“,
- „Sei spezifisch und konkret“,
- „Mache vollständige, direkte Aussagen“,
- „Mache Eindruck“,
- „Sei demütig“,
- „Sprich so weit wie möglich nur über die anwesenden Personen“,
- „Mobilisiere Gegensätze“,
- „Achte auf deine eigenen Grenzen“,
- „Sprich nicht über mehrere Dinge gleichzeitig“,
- „Mobilisiere die Ressourcen der Ratsuchenden“,
- „Gib gern gute Ratschläge – falls du welche hast“,
- „Vermeide Absprachen“ und
- „Evaluiere“.
Ein Schwerpunkt wird dabei auf die ethische Forderung nach Demut gelegt, da die Notwendigkeit für die Einnahme einer demütigen Position besonders für all jene zwischenmenschliche Beziehungen bestehe, in denen eine Partei über mehr Macht als die jeweils andere Partei verfüge. Die das Kapitel abschliessende Klärung der Rollen von Eltern, Kindern und Beratenden dient dazu, die allgemeinen Prinzipien im dynamischen Geschehen der Familienberatung zu verorten. Es sei dabei die Sache des Lesers, die beschriebenen Prinzipien auf das vorgefundene Problem zu beziehen und letztlich zu einer persönlichen Arbeitsform zu machen.
Im vierten Kapitel „Beratung: Beginn – Verlauf – Ende“ werden die Anforderungen an Beginn, Verlauf und Abschluss der Familienberatung beschrieben und anhand von gelungenen wie misslungenen Beispielen veranschaulicht. In der Phase des Beginns werde das Fundament für den kommenden Verlauf und den späteren Abschluss gelegt. Hierbei sei es von entscheidender Bedeutung, dass sich die Familien in der Beratung willkommen fühlten, um über eine ernstgemeinte Herzlichkeit den Kontakt herstellen zu können. Auf dieser Grundlage werde es dann auch möglich sein, den Beratungsanlass vertiefend zu klären und einen Beratungskontrakt abzuschliessen. Im Verlauf der Familienberatung müssten die Beratenden dann den hinter dem präsentierten Symptom liegenden Sinn gemeinsam mit den beteiligten Personen nachspüren. Die Beschäftigung mit dem Sinn eines Symptomes habe dabei zuungunsten einer unsinnigen Beschäftigung mit dem Symptom zu erfolgen. Der Autor bemerkt treffend: „Die Symptome sind eine Signalflagge, die ausschliesslich dem Zweck dient, auf einen tiefer liegenden Konflikt aufmerksam zu machen.“ (S. 110). Im weiteren Verlauf der Familienberatung sind die Beratenden dann immer auch aufgefordert, ihr Wissen über die Zusammenhänge von familiären Schwierigkeiten und Handlungsmöglichkeiten so mit den Eltern zu teilen, dass ihnen daraus neue Handlungsmöglichkeiten erwachsen. Während dieses Prozesses entstehende Konflikte sind ein natürlicher Bestandteil von Beratungsprozessen und eine notwendige Voraussetzung für Entwicklung. Der Abschluss der Beratung stellt ein angekündigtes und bewusst vollzogenes Ende dar. Diese Notwendigkeit bestehe insbesondere auch bei einer misslungenen Familienberatung, bei welcher die Verführung bestehe, die Beratung ohne explizite Beendigungsphase abzuschliessen. Jesper Juul bemerkt lakonisch: „Oft ergeht es einem dabei wie dem Jäger, der drei Mal den Hasen verfehlt hat und diesem schliesslich das Gewehr mit den Worten hinterherschleudert: Dann erschiess dich doch selbst!“ (S. 133).
Diskussion
Der Autor proklamiert eine universale Kundigkeit über die in der Familienberatung gemachten Erfahrungen für sich, was sich beispielhaft in der folgenden Aussage zeigt: „In diesem Abschnitt kommen die Erfahrungen zur Sprache, die man in den letzten beiden Generationen in theoretischer, praktischer und philosophischer Hinsicht innerhalb der Familientherapie gesammelt hat“ (S. 11). Diese Kundigkeit erscheint in sich widersprüchlich, da der Autor selbst davon ausgeht, dass sich aufgrund der disziplinärspezifischen Zugänge zur Familienberatung Unterschiede im beraterischen Herangehen ergeben. Dies sei zu problematisieren, da sich die Familienberatung fernab von disziplinären Denkbeschränkungen als selbstständiges, interdisziplinäres Fach etablieren müsse. Es stellt sich also die Frage, wie der Autor sämtliche in unterschiedlichen Formen der Familienberatung gemachten Erfahrungen auf sich vereinen will – vielmehr ist hier zu vermuten, dass sich dieses Erfahrungswissen vornehmlich auf die Erfahrungen der Familienberaterinnen und Familienberater des Kempler Institute of Scandinavia beziehen.
Problematischer als dieser undurchsichtige Rückgriff auf das Erfahrungswissen erscheint allerdings die Tatsache, dass Behauptungen auffallend selten mit empirischen Befunden unterlegt und schon gar nicht diskutiert werden (dürfen). Vielmehr scheint sich der fachliche Diskurs in diesem selbstständigen, interdisziplinären Fach Familienberatung um Glaubensfragen zu drehen, was exemplarisch in der folgenden Aussage deutlich wird: „Ich hingegen glaube mehr an das Organische als an das Technische, mehr an dynamische Prozesse als an Modelle und Strukturen“ (S. 69). Folgerichtig sieht der Autor dann auch keine Notwendigkeit, eigene Behauptungen empirisch zu untermauern und zieht sich auf den selbst als altmodisch bezeichneten Standpunkt zurück, wonach „die professionelle Kooperation zwischen Berater und Ratsuchenden so komplex und von so vielen subjektiven Faktoren abhängig ist, dass man diese nicht auf vereinfachte Formeln reduzieren sollte“ (S. 9). Aus diesem Grund seien auch manualisierte Formen der Familienberatungen abzulehnen, da die erfahrene Person der Familienberaterin respektive des Familienberaters sowieso wichtiger sei als eine bestimmte Beratungsmethode. Diese Argumentation erhebt Beratung also zu einer Art Kunstform, die sich fernab von empirischen Wirklichkeiten situativ immer wieder selbst erfinden muss.
Diese Kritik soll allerdings keinesfalls dazu führen, dem Autor seine Kompetenz in der Familienberatung abzusprechen. Vielmehr zeugen die zahlreichen und lebensnahen Beispiele aus der Familienberatung vom breiten Erfahrungsschatz und der Experimentierfreudigkeit des Autors. Es finden sich auch viele praktische Handreichungen für den Familienberatungsalltag, wie beispielsweise den Vorschlag, wie das anstehende Ende einer Familienberatung thematisiert werden könnte: „Jetzt steht uns noch ein letztes Treffen bevor. Bevor Sie also das nächste Mal wiederkommen, möchte ich Sie bitten, ein wenig darüber nachzudenken, was wir Ihrer Meinung nach gemeinsam erreicht haben, was in Ihrer Familie geschehen ist und wie Sie den Umgang mit mir empfunden haben (S. 132).
Fazit
Das Buch „Familienberatung. Perspektiven und Prozess“ eignet sich für interessierte Praktikerinnen und Praktiker, welche über mangelnd belegte Behauptungen hinwegsehen können und deren fundiertes, familienberaterisches Wissen es ihnen erlaubt, die durchaus interessanten Empfehlungen zur Gestaltung des Beratungsprozesses angemessen in ihr professionelles Handeln integrieren zu können. Insbesondere die allgemeinen Prinzipien zur Familienberatung bieten hierfür eine Reflexionsgrundlage, anhand derer sich die eigene Beratungspraxis kritisch prüfen und gegebenenfalls weiterentwickeln lässt.
Rezension von
Prof. Dr. Marius Metzger
Verantwortlicher Kompetenzzentrum Erziehung, Bildung und Betreuung in Lebensphasen am Institut für Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
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