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Hatice Ecirli: Entwicklungsaufgaben im Jugendalter

Rezensiert von Prof. Dr. Konrad Weller, 17.04.2013

Cover Hatice Ecirli: Entwicklungsaufgaben im Jugendalter ISBN 978-3-8300-6326-1

Hatice Ecirli: Entwicklungsaufgaben im Jugendalter. Analysen ihrer differentiellen Wahrnehmung und Bewältigung bei 13- bis 17-Jährigen. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2012. 245 Seiten. ISBN 978-3-8300-6326-1. D: 78,00 EUR, A: 80,20 EUR.
Schriftenreihe Schriften zur Entwicklungspsychologie - Band 29.

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Entstehungshintergrund und Thema

In der 2011 an der Uni Bremen vorgelegten Dissertation wird das seit den 1940er Jahren entwickelte und 1972 vom amerikanischen Psychologen Robert Havighurst (1900 – 1991) publizierte Konzept der Entwicklungsaufgaben im Jugendalter empirischer Prüfung unterzogen. Die Autorin möchte untersuchen, welche Entwicklungsaufgaben Jugendliche heute als relevant erachten, wie sie ihnen gerecht werden, und welche Faktoren (intrapsychische, interpersonelle, soziodemografische) Wahrnehmung und Bewältigung der Entwicklungsaufgaben beeinflussen. In der differenzierten Analyse der Arbeit werden Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund und Schulform als soziodemografische Person- und Kontextbedingungen, sowie verschiedene Persönlichkeitsvariablen, elterliche Erziehungsstile, Identifikation mit den Eltern und Peerorientierung als personale und soziale Ressourcen auf ihren Einfluss hin untersucht.

Aufbau und Inhalt

Im Theorieteil der Arbeit werden in sechs Abschnitten die zentralen Begrifflichkeiten analysiert.

Adoleszenz und Jugend(alter) werden als weitgehend synonyme Begriffe für die Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter gefasst, als weitgehend separater Lebensabschnitt, als Moratorium mit zahlreichen besonderen psychosozialen Anforderungen. Währen der Eintritt ins Jugendalter durch die biotischen Prozesse der Pubertät markiert wird, ist der Übergang ins Erwachsenenalter stark individualisiert, gestaltet sich durch die Realisierung verschiedener Entwicklungsaufgaben. Die Ansichten verschiedener Autoren (Kasten, Oerter und Dreher, Hurrelmann, Ewert) zu möglichen Einteilungen der Adoleszenz werden referiert, verbleiben aber im Ungefähren: „Die Liste der unterschiedlichen Lebensphasen ließe sich beliebig ausweiten und verdeutlicht damit die zumindest zeitliche Variabilität dieser Lebensphase“ (24).

Zur Charakterisierung der Entwicklung im Jugendalter wird (in Abgrenzung zu und Weiterentwicklung von endogenistischem, exogenistischem oder aktionalem Entwicklungsmodell) das interaktionistisch, handlungstheoretische Paradigma präferiert, welches Entwicklung als Handlung im Kontext versteht (nach Silbereisen) und „Entwicklungsaufgaben als individuell erkannte und verarbeitete Herausforderungen im Schnittfeld biologischer Reifung und sozialer Erwartungen“ versteht (29).

Entwicklungsaufgaben werden mit Flammer funktional als Initiationsriten gefasst und als Operationalisierungen einer gesellschaftlichen Entwicklungspflicht. Diese gesellschaftlichen Anforderungen variieren historisch konkret und unterliegen in unserem Kulturkreis einer immer stärkeren Entnormierung und Individualisierung, bedürfen persönlicher Ausgestaltung und ermöglichen sie auch.

Diskutiert werden Fragen der Identitätsentwicklung im Jugendalter unter Bezug auf das Konzept der vier aufeinander folgenden Stadien nach Marcia 1980 (Übernommene Identität, Diffusion, Moratorium, erarbeitete Identität). In Abgrenzung zu Erikson 1973 wird Diffusion, also der Zustand der Nichtfestgelegtheit, nicht nur als problematisch, sondern (in Zeiten zunehmender Individualisierung) v.a. in seiner kulturell-adaptiven Funktionalität gefasst (62 ff).

Ein zentraler Analysepunkt der Arbeit und wichtige Basis des empirischen Settings ist die Auseinandersetzung mit den von Havighurst ursprünglich formulierten acht Entwicklungsaufgaben:

  1. Neue und reife Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts aufbauen
  2. Übernahme der männlichen/weiblichen Geschlechtsrolle
  3. Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung und effektive Nutzung des Körpers
  4. Emotionale Unabhängigkeit von den Eltern und anderen Erwachsenen
  5. Vorbereitung auf Ehe und Familienleben
  6. Vorbereitung auf eine berufliche Karriere
  7. Werte und ein ethisches System erlangen, das als Leitfaden für Verhalten dient – Entwicklung einer Ideologie
  8. Sozial verantwortliches Verhalten erstreben und erreichen (vgl. S. 37)

Erweiterungen und Modifikation des von Havighurst ja lediglich theoretisch entwickelten Kanons werden dargestellt, so die Ergebnisse der ersten empirischen Prüfung im deutschsprachigen Raum 1985 durch Dreher und Dreher (die etwa die Aufgaben 7 und 8 zusammenfassten und drei weitere Aufgaben kreierten – Partnerbeziehungen, Selbstkenntnis, Zukunftsplanung, vgl. S. 44), weitere Erweiterungen durch Fend (Erwerb schulischer Leistungen, politische Orientierung).

Für die eigene empirische Prüfung werden letztlich 15 Entwicklungsaufgaben kategorisiert und operationalisiert: Peers, Autonomie, Körper, Kinder, Politik, Erwachsenenrolle, Beruf, Intimität, Identität, Selbst, Partnerschaft, Geschlechtsrolle, Zukunftsvorstellung, Schule, Konsum. Dieses Inventar geht auf Seiffge-Krenke, Silbereisen und Otremba 1984 sowie weitere Autoren zurück (106ff).

Diskussion

Die Vollständigkeit, historisch-konkrete (auf Jugendrealität bezogene) Angemessenheit und Trennschärfe dieser Kategorien und ihre Operationalisierung im Rahmen der Arbeit ist kritikwürdig. Der Fragestellung, wie bedeutsam bestimmte Kategorien gegenwärtig sind, muss ja eine Analyse vorausgehen, wie ihre konkrete Ausgestaltung unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen erfolgt und welche Zielkriterien für Bewältigung formuliert werden. Diese Neudefinierung von Inhalten und Zielen erfolgt nur ansatzweise und knüpft aus Sicht des Rezensenten nicht ausreichend an der Realität an.

Beispiel: „Der Aufbau intimer Partnerschaften (Intimität) aus diesem Inventar wurde aus inhaltlichen Gründen in zwei separate Entwicklungsaufgaben getrennt: Zum einen wurde nach der Aufnahme intimer Beziehungen (Intimität) und zum anderen nach der Aufnahme einer festen Partnerschaft (Partnerschaft), die als Übergang in die eigene Familie verstanden werden kann, gefragt.“ (107) Immerhin werden Jugendliche damit nicht mehr nur auf Familiengründung festgelegt. Warum aber wird in anachronistischer Weise Sexualität, sexuelle Erfahrung (und nicht nur partnerschaftliche) ausgeblendet? Sie hinter Entwicklungsaufgaben wie „Zurechtkommen mit körperlicher Entwicklung“ oder „Aufnahme intimer Beziehungen“ zu tarnen entspricht nicht der Realität jugendlichen Lebens in unserer Gesellschaft. Im ganzen Buch fällt der Begriff „Sexualität“ nicht ein einziges Mal, was zwar der anhaltenden konzeptionellen Ausblendung des Themas in der akademischen Entwicklungspsychologie entspricht, aber durch moderne Forschungen endlich überwunden werden sollte. Die Tabuisierung des Begriffs führt dann im Ergebnisteil der Arbeit auch zu verklausulierten Interpretationen: „Für männliche Jugendliche scheinen intime Beziehungen nach wie vor eher einen geschlechtlichen Aspekt zu beinhalten.“ (181)

Auch die Operationalisierung des Entwicklungsziels Partnerschaft wird ganz traditionell abgebildet und geht damit an der Jugendrealität vorbei: Die Zielerreichung wird definiert als Zustimmung auf das Item „Ich bin schon länger in einer festen Partnerschaft und ich denke, dass wir auch eine gemeinsame Familie gründen.“ Diese Formulierung blendet auf ontologischer Ebene das temporäre und phasenhafte heutiger Beziehungsgestaltung aus und auf theoretischer Ebene den Moratoriumscharakter dieser Dimension. Wenngleich die große Mehrheit der Jugendlichen heutzutage nach wie vor feste Partnerschaften anstrebt und auch spätere Familiengründung, so kann die frühzeitige, langfristige und dauerhafte Bindung nicht alleiniges Kriterium für eine gelöste Entwicklungsaufgabe sein. Der Erwerb „partnerschaftlicher Kompetenz“ kann auch in mehreren Partnerschaften erfolgen.

Es gibt diverse weitere Diskussionspunkte:

So ist die Entwicklungsaufgabe „Zukunftsvorstellung“ („Planst Du Deine Zukunft?“) ein fragwürdiges Abstraktum: Ist Zukunftsplanung nicht bereichsspezifisch, als privat-partnerschaftlich-familiäre einerseits und berufliche Zukunftsplanung andererseits?

Oder: Ist es zweckmäßig, Identitätserwerb als eigenständige Entwicklungsaufgabe zu fassen? Im vorliegenden Fall wird Identität als Selbst- oder Ich-Identität konzipiert, als Individualität, die dann operationalisiert wurde als „sich in unverwechselbarer Art zu geben und zu kleiden“/ vgl.212). Wo ist die Abgrenzung zum „Selbst“? Ist Identitätserwerb, z.B. als Erwerb von Geschlechtsidentität nicht vielmehr bereichsspezifisch und aufgrund des jeweiligen Identifikationsmodus das ganze Gegenteil von Individualitätsentwicklung? Das Zurechtkommen mit körperlicher Entwicklung könnte als Erwerb von „sex-identity“, die Übernahme von Geschlechtsrollen als Erwerb von „gender-identity“ gefasst werden. Und überhaupt: geht es heutzutage nicht weniger um frühzeitige Festlegung (welcher Art von Identität auch immer), sondern um den Erwerb von Identitätskompetenz, die z.B. die Fähigkeit beinhaltet, mit Identitätsbedrohung umzugehen, und finale Festlegung zu vermeiden?

Die theoretische Erkenntnis, dass heutzutage „Diffusion“ und „Moratorium“ (also Zustände der Nichtfestgelegtheit, der Offenheit) jugendtypisch sind, es die eigentliche Leistung in der Postmoderne ist, sich nicht zu schnell festzulegen, sondern offen zu bleiben, hätte stärker Berücksichtigung finden sollen. Beispiel: Während in unserer Gesellschaft die traditionellen Geschlechterstereotype zunehmend in Frage stehen, werden Jugendliche in der Studie gefragt: „Verhältst Du Dich schon wie ein richtiger Mann bzw. eine richtige Frau?“ Und wer dieses Statement bejaht, hat die Entwicklungsaufgabe gelöst, wer verneint, dem steht sie noch bevor. …

Der empirische Teil der Arbeit imponiert (und verwirrt) mit 17 einzelnen Fragestellungen und 39 Hypothesen. Die Ableitung dieser Fragen und Hypothesen, z.B. zur zentralen Frage „Welche Entwicklungsaufgaben sind für die heutige Jugend besonders relevant?“ (85) fußt fast ausschließlich auf entwicklungspsychologischer Literatur, soziologische Analysen (z.B. die SHELL-Studien) werden kurz erwähnt, aber wesentliche jugendkulturelle Realitäten werden nicht angemessen erfasst. Zur Verarbeitung der körperlichen Entwicklung etwa wird ausgeführt: „Entwicklungsaufgaben haben neben gesellschaftlichen Normen und individuellen Zielsetzungen auch biologische Veränderungen als Quelle … Da diese universell und nicht kultur- oder gesellschaftsspezifisch sind, ist davon auszugehen, dass zumindest diese Entwicklungsaufgaben an Relevanz nicht verloren haben.“ (85) Abgesehen davon, dass körperliche Entwicklung sehr wohl gesellschaftlicher Determination unterliegt (siehe den anhaltenden Akzelerationsprozess), so ist natürlich auch die (psychische) Bewältigung der körperlichen Entwicklung von gesellschaftlichen Normativen abhängig (Geschlechtsrollenzuweisungen, Schönheitsideale usw.). Und gerade die Körperlichkeit (und damit das Zurechtkommen mit körperlicher Entwicklung) hat in den letzten Jahren jugendkulturell immens an Bedeutung gewonnen. Auch hinsichtlich diverser anderer Entwicklungsaufgaben hätte die Einbindung soziologischer Erkenntnisse (z.B. Heirats- oder Erstgebäralter oder Alter des Berufseinstiegs) Hypothesenbildung substanzieller gemacht.

Die empirische Untersuchung wurde an 1094 13- bis 17jährigen durchgeführt. Sie folgt ganz dem Setting einer quantifizierenden Analyse. Angesichts der angesprochenen Fragwürdigkeiten bei der Kategorisierung und Operationalisierung der Entwicklungsaufgaben in Form geschlossener Indikatoren mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten, stellt sich die Grundfrage nach der Validität bzw. praktische Relevanz der vielfältigen Ergebnisse. Schließlich konnten die befragten Jugendlichen nur ankreuzen, nicht aber diskutieren, in Frage stellen, reformulieren.

Zur Frage nach der Bedeutsamkeit von Entwicklungsaufgaben wird resümiert: „Generell lässt sich beim Entwicklungsstand der Jugendlichen festhalten, dass jene Aufgaben wahrgenommen und bewältigt werden, die in ihrer Lebenswelt auch aktuell sind. Dies erklärt, warum Schule, Beruf, Peers und Autonomie am häufigsten von den Jugendlichen wahrgenommen und bewältigt werden, während Kinder selten als wichtig eingeschätzt wird. Den größten Entwicklungsdruck erleben Jugendliche bei den intimen Beziehungen und Partnerschaften. Hier steht der große Wunsch, diese Aufgaben zu bewältigen, der Realität, nämlich dass diese kaum bewältigt bzw. seltener als sie wahrgenommen wurden, entgegen. Insgesamt zeichnet sich ein Bild leistungsorientierter junger Heranwachsender ab, die sich in vielen Lebensbereichen noch auf der Suche befindet.“ (180)

Fazit

Die Ergebnisdarstellung insgesamt ist angesichts der Fragen- und Hypothesenzahl ein großes Puzzle mit interessanten Details, aber ohne überschaubare Synopsis. Dieser Zustand zwischen Diffusion und Moratorium, diesseits von Gewissheiten, scheint heutiger Jugendrealität ganz angemessen.

Rezension von
Prof. Dr. Konrad Weller
Professor i.R. für Psychologie und Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg, Diplom-Psychologe (Universität Jena), Analytischer Paar- und Sexualberater (pro familia)
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Es gibt 15 Rezensionen von Konrad Weller.

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ISSN 2190-9245