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Volker Langhirt: [...] Scham bei Kindern und Jugendlichen (Trennungs-, Scheidungserfahrungen)

Rezensiert von Elisabeth Vanderheiden, 04.12.2012

Cover Volker Langhirt: [...] Scham bei Kindern und Jugendlichen (Trennungs-, Scheidungserfahrungen) ISBN 978-3-8300-6188-5

Volker Langhirt: Psychoanalytisch-pädagogische Untersuchungen zur Scham bei Kindern und Jugendlichen vor dem Hintergrund von Trennungs-, Scheidungserfahrungen. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2012. 362 Seiten. ISBN 978-3-8300-6188-5. D: 95,80 EUR, A: 98,50 EUR.
Schriftenreihe Schriften zur pädagogischen Psychologie - Band 54.

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Thema

Ausgangslage des Buches ist die Annahme des Autors, dass die Trennung der Eltern für ein Kind einen tiefgehenden Eingriff in seine Persönlichkeitsentwicklung darstellen, die – so der Autor – zunächst oft nicht adäquat bewältigt werden können, da dabei Traumata erzeugt werden. Diese können, sofern sie nicht bewältigt werden, dauerhafte Auswirkungen auf Selbst- und Weltbild haben. Als entscheidende Faktoren dafür, ob es bei einem Kind oder Jugendlichen zu einem Trauma kommt, benennt der Autor den jeweiligen kognitiven bzw. emotionalen Entwicklungsstand des Kindes bzw. die jeweiligen Umweltbedingungen. Im Mittelpunkt der Ausführungen Langhirts stehen Überlegungen, wie Scham und Schuld oder auch Rückzug im Zuge der Thematisierung dieser Scham – etwa durch TherapeutInnen – bearbeitet werden können, so dass einem Kind in der Therapie „ein schützender Raum zur Verfügung gestellt wird, in dem es die Möglichkeit hat, seine eigenen Konflikte darzustellen und die Erfahrung regulierender Beziehungsprozesse zu erwerben“ (S. 16). Im Zentrum der Überlegungen des Autors steht folgerichtig der „interaktionelle Apsekt der Scham“ (ebd.).

Autor

Der Autor ist analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut. Bei dem rezensierten Werk handelt es sich um die Dissertationsschrift des Autors.

Aufbau und Inhalt

Das Buch umfasst neben Vorwort und Einführung bzw. dem Literaturverzeichnis sieben Kapitel:

  1. Persönliche Gedanken zur Scham
  2. Am Anfang waren Adam und Eva
  3. Das Phänomen der Scham
  4. Das Trennungs-/Scheidungsgeschehen im Erleben des Kindes
  5. Kinderanalyse und Pädagogik
  6. Kasuistik – Erziehungswissenschaftliceh Forschungsmethode
  7. Pädagogische Gedanken zur Scham.

Die sieben Kapitel sind übersichtlich strukturiert und nachvollziehbar aufgebaut, insbesondere Kapitel 6 präsentiert eine Vielzahl von konkreten Fallbeispielen.

Exemplarisch sei hier ein Kapitel näher beschrieben: „Pädagogische Gedanken zur Scham“. Zunächst nähert sich der Autor dem Thema aus historischer Perspektive, indem er die Bedeutung der Scham für die Pädagogik bis in die Hälfte des 20. Jahrhunderts und seither näher beleuchtet. Dabei verweist er – zurecht – darauf, dass pädagogische Betrachtungen zur Scham, abhängig vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext, historisch vielfältige Modifikationen in Sichtweise und Definition erfahren haben. Dabei führt Langhirt zunächst den Kant´schen Schambegriff ein und setzt ihn in Beziehung zu dessen impliziten Pädagogikverständnis. Er ergänzt ihn um Ausführungen von Johann Gottlieb Fichte und fasst als Gemeinsamkeit zusammen, dass die Scham bei beiden „auf dem Weg zum tugendhaften und sittlichen Menschen, eine bedeutende Funktion übernimmt“ (S. 314), allerdings in dem Sinne, dass kindliche „Verfehlungen“ optimaler Weise von einem Schamgefühl begleitet sein sollten. Diesem Konzept setzt der Autor Schleiermachers Ausführungen entgegen, die davon ausgehen, dass kindliche Schamgefühle in Kindern das Gefühl von Unvollkommenheit auslösen können und daher als „erzieherisches Mittel“ wie die physische Gewalt nur „mit äußerster Vorsicht und Behutsamkeit“ anzuwenden seien. In der zweite Hälfte des 20. Jh. nimmt die Debatte um die Scham in der Pädagogik deutlich zu. Langhirt beschäftigt sich in seinen Ausführungen u. a. mit Bollnow, Singer, Marks und Reichenbach. In diesem Kontext diskutiert er auch durchaus die Ambivalenzen des Schambegriffes: also etwa Scham als Ausdruck der (vom Kind empfundenen) Ausgrenzung oder Inkompetenz, als Stigmatisierungsinstrument, aber andererseits auch Scham als Etwas, das das Kind in seiner eigenen Intimität schützt und Ausdruck eigener schöpferischer Fähigkeiten: Scham verstanden als Fähigkeit, die eigenen Grenzen zu entdecken und zu schützen (S. 318).

Im weiteren Verlauf des Artikels setzt der Autor die Psychoanalyse mit ihren Ansätzen, Methoden und Zugangsweisen in Relation zu denen der Pädagogik. Dabei betrachtet er die Psychoanalyse als eine Möglichkeit, Zugang zur inneren Welt des Kindes zu gelangen und merkt sehr kritisch – und aus Sicht der Rezensentin zu Unrecht – zur Pädagogik an, dass diese sich zunehmend auf die Symptome fokussiere und dadurch eben diese innere Welt des Kindes aus der Betrachtung herausfalle ( S. 325). Folgerichtig empfiehlt er der Pädagogik eine stärkere Nutzung psychoanalytischer Herangehensweisen, z. B. betont er: „Das psychoanalytische Verständnis der Affekte ermöglicht vor dem Hintergrund der Begegnung zweier Subjekte die Reflexion der pädagogischen Beziehung und ihre Einbettung in den lebensgeschichtlichen Zusammenhang.“ (S. 325).

Auf der Basis dieser Empfehlung spitzt der Autor dieses im Hinblick auf die besondere Dimension von Scham bei Kindern und Jugendlichen in Scheidungssituationen zu. Die Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse der Resilienzforschung nimmt dabei eine wichtige Rolle ein.

Diskussion und Fazit

Ein engagiertes Buch, dass die LeserInnen auf eine für eine Dissertationsschrift recht persönlich-engagierte Weise zur Auseinandersetzung mit dem Thema einlädt. So enthält es – dem von Autor propagierten biographischen Zugang folgend – viele persönliche Aussagen zu eigenen individuellen Schamerfahrungen des Autors. Es ist vom Grundtenor her daher sehr authentisch und empathisch verfasst, ergreift engagiert Partei für die betroffenen Kinder und Jugendlichen.

Allerdings scheint der Autor die Pädagogik eher aus der Forschungs- und Literatur als aus der eigenen professionellen Erfahrung zu kennen, etwa wenn Langhirt konstatiert: „ die Pädagogik zeigt ihre Schwierigkeit, die Scham als Regulierungsprozess für das moralische Empfinden und Handel und damit als wichtiges Kriterium einer pädagogischen Beziehung zu sehen. Die Anpassungsprozesse der Pädagogik an die gesellschaftlichen Erwartungen haben zur Folge, dass teilweise ihre eigenen Bereiche, die pädagogische Beziehung, an andere Wissenschaften wie die Medizin oder die Psychologie delegiert und umdefiniert werden und damit die Pädagogik nur eine Hilfsfunktion einnimmt.“ (Seite 323). Hier scheint mir doch ein recht verkürztes Verständnis von Pädagogik zum Ausdruck zu kommen. Teilweise ist sein Pädagogikbegriff auch eher eng, wenn er z. B. postuliert: „pädagogisches Handeln ist nicht planbar“ ( S. 333), basiert letztlich wohl insbesondere auf Erkenntnissen zur psychoanalytischen Pädagogik (S. 110 ff).

Kritisch anzumerken ist auch, dass es dem Werk an Trennschärfe in der Abgrenzung von Pädagogik und (sozialpädagogischer) Beratung fehlt, denn Beratung ist ja nur eine Dimension professionellen pädagogischen Handelns ( S. 322).

Zurecht allerdings kritisiert Langhirt zurecht die zunehmende „Empirisierung“ der Pädagogik, denn: „Jenseits von empirisch begründbaren Erziehungs- und Bildungsprozessen müssen Nischen gesucht werden, die die Individualität und Einzigartigkeit des Kindes in den Vordergrund stellen und sich somit dem Bedürfnis einer allgemeinen Beziehungs- oder Erziehungsaussage widersetzen…Die Scham entzieht sich einer objektivierbaren empirischen Überprüfung, da sie sehr stark im Verborgenen und Unbewussten ihr Kräftespiel entfaltet und durch ihre vielfältigen, individuellen Abwehr und Täuschungsmanöver sich eines solchen wissenschaftlichen Blickes entzieht.“ ( 332) und fordert eine – in der Tat erforderliche – offensivere Auseinandersetzung der Pädagogik mit der Scham.

Sehr wichtig bleibt auch sein Credo, die Scham zu enttabuisieren, öffentlich zu diskutieren und als kostbare Ressource in Therapie und pädagogischem Handeln zu betrachten.

Rezension von
Elisabeth Vanderheiden
Pädagogin, Germanistin, Mediatorin; Geschäftsführerin der Katholischen Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz, Leitung zahlreicher Projekte im Kontext von beruflicher Qualifizierung, allgemeiner und politischer Bildung; Herausgeberin zahlreicher Publikationen zu Gender-Fragen und Qualifizierung pädagogischen Personals, Medienpädagogik und aktuellen Themen der allgemeinen berufliche und politischen Bildung
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Es gibt 184 Rezensionen von Elisabeth Vanderheiden.

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ISSN 2190-9245