Michael J. Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.12.2012
Michael J. Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes. Ullstein Verlag (München) 2012. 256 Seiten. ISBN 978-3-550-08026-5. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 27,90 sFr.
Ist alles käuflich?
Diese Frage ist nicht nur rhetorisch gestellt, und die übliche Antwort darauf – „aber vieles“ – lässt sich heute tatsächlich ausweiten auf: „Fast alles!“; selbst Dinge und Leistungen, die unter humanen und moralischen Betrachtungsweisen nicht käuflich sind. Der Wunsch „Wär‘ ich doch ein reicher Mann“ ist eben nicht nur ein Operettenthema, sondern durchzieht das menschliche Denken und Handeln – nein, eben nicht von Anfang an! Schauen wir auf die biblischen Geschichten, so wird deutlich, dass, wer dem Geld (Geld) nachjagt, sich versündigt, wie es im Alten Testament heißt, und dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher in das Himmelreich komme, wie im Neuen Testament geweissagt wurde. Dass Geld nicht stinke, (Pecunio non olet) wie dies der römische Kaiser Vespasian rechtfertigte, diente als Rechtfertigung dafür, dass man nie genug Geld haben könne, damit es den Individuum und dem Staat gut gehe. Schließlich hat gegen die Vorbehalte dann doch der kapitalistische Spruch gesiegt: „Geld ist nicht wichtig, wenn man genug davon hat!“ (Jacques Le Goff, Geld im Mittelelter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13533.php). Die Erzählung von der „Kehrseite der Münze“ (Lucien Gillard), als Wertbestimmung wie als Mittel zur Ausbeutung des Menschen, bestimmt seitdem das Bewusstsein der Menschen beim Umgang mit Geld und Kapital.
In der sich immer interdependenter, entgrenzender, materialisierender, kapitalisierender und ungerechter entwickelnden (Einen?) Welt wird das Problem des Geldproblems immer deutlicher: „Die Reichen werden reicher, und die Armen werden ärmer“, diese inhumane und unsoziale Situation führt dazu, dass immer mehr Menschen daran zweifeln, dass Geld glücklich macht und dass es eines Perspektivenwechsels bedarf, um den Umgang der Menschen mit materiellen Gütern nicht mehr nur unter dem Gesichtspunkts des kapitalistischen „Mehrwerts“ zu betrachten. „Dass mehr wird, wenn wir teilen“, als ein neuer Aufruf, die Lebenswelt der Menschen als Gemeingut (Allmende) zu verstehen, hat 2009 dazu geführt, das Konzept mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften auszuzeichnen (Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php), und ein neues Bewusstsein von „Commons“ zu entwickeln (Silke Helfrich / Heinrich-Böll-Stiftung, Hrsg., Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13482.php). Die von den Vereinten Nationen eingesetzte Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ hat als Ergebnis ihrer Bestandsaufnahme vom Zustand der Welt 1995 deutlich gemacht: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt, 2., erweit. Ausg., Bonn 1997, S.18).
Entstehungshintergrund und Autor
Wir haben es weit gebracht mit unserer Gier nach materiellen Gütern; diese zwiespältige und interpretationsfähige Aussage beinhaltet Triumph und Drama zugleich. Das Leitbild des Homo oeconomicus, dass der Markt gewissermaßen urwüchsig und naturgegeben gerechten Handel regelt, ist längst durch die dramatische Entwicklung der globalisierten Finanzwirtschaft widerlegt worden ( Herbert Kalthoff / Uwe Vormbusch, Hg., Soziologie der Finanzmärkte, Bielefeld 2012, 373 S., Rezension in Socialnet ). Die Herausforderung, die Rolle der Märkte neu zu denken, und zwar nicht nur durch kosmetische Veränderungen, sondern durch grundlegendes moralisches Umdenken und Umstrukturieren der Markt- und Wirtschaftssysteme, steht auf der Welt-Tagesordnung. Es geht darum, „neue Modelle zwischen Gier und Fairness“ zu suchen (Hans Bürger, Der vergessene Mensch. Neue Modelle zwischen Gier und Fairness, Wien 2012, 279 S., siehe Rez. in Socialnet). Dabei sind Umsicht (Sebastian Dullien / Hansjörg Herr / Christian Kellermann, Der gute Kapitalismus. … und was sich dafür nach der Krise ändern müsste, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8846.php) und Protest (Peter Mörtenböck / Helge Mooshammer, Occupy. Räume des Protests, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14101.php) keine Gegensätze und Ausschließungsgründe; sie bedürfen des Einklangs zur Veränderung. Die „moralische Entleerung der zeitgenössischen Politik“ führt dazu, dass wir dringend und notwendig einer Auseinandersetzung über die moralischen Grenzen von Märkten bedürfen, soll die „Marktwirtschaft“ nicht zum unbezähmbaren und nicht mehr zu stoppenden Kraken mutieren.
Der politische Philosoph von der US-amerikanischen Harvard-Universität, Michael J. Sandel, warnt davor, dass sich unsere (Eine?) Welt von einer Marktwirtschaft in eine Marktgesellschaft entwickelt, in der die Logik des Kaufens und Verkaufens nicht mehr nur für materielle Güter gilt, sondern sich auch zunehmend auf Lebensgrundlagen überträgt, die nicht „markt“fähig sind und sein dürfen.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einführung gliedert Michael J. Sandel sein Essay in fünf Kapitel. Im ersten geht es um „Privilegien“, im zweiten um die Phänomene „Anreize und Belohnungen“,. im dritten um die Frage, „Wie Märkte die Moral verdrängen“, im vierten um das „Geschäft mit dem Tod“, und im fünften und letzten Kapitel um „Sponsoring und Werbung“.
Wenn Bevorzugungen, wie man „Privilegien“ auch bezeichnen kann, käuflich sind, hat das Unrecht schon Platz genommen in der scheinbar „gerechten“ Warteschlange. Es gibt Situationen, bei denen Individuen nicht sofort und bevorzugt, sondern aus sachlichen Gründen „der (normalen) Reihe nach“ bedient oder abgefertigt werden. Das ist manchmal für den Wartenden ärgerlich, und er mag sich fragen, ob die Wartezeit menschen- und gesellschaftlich gemacht und damit veränderbar, oder strukturbedingt und sachbezogen ist. In beiden Fällen mag es Möglichkeiten geben, die Situation zu verändern, und die Betroffenen können sich demokratisch dafür einsetzen. Gar nicht geht, wenn sich Menschen die Verkürzung von Wartezeiten, wo auch immer, mit Geld kaufen können. „Überholspuren“ nennt das der Autor, und als „Schwarzmarkt“ geißelt er die kapitalistische und unmoralische Unsitte. Da es so zu sein scheint, dass Märkte (urwüchsig?) Privilegien und Korruption schaffen, kommt es darauf an, die Warteschlangen und Schwarzmärkte zu kennen, um sie bekämpfen zu können.
Weil Kosten und Nutzen zu scheinbar sich selbst erklärenden, gewissermaßen „logischen“ Kalkulatoren geworden sind, hat eben die Bedeutung von Geld und vom Haben eine schier unwiderlegbare Logik entwickelt (vgl. dazu auch: Harald Weinrich, Über das Haben. 33 Ansichten, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14000.php). Diesen „Selbstverständlichkeiten“ auf die Spur zu kommen, können wir lokal und global zahlreiche Beispiele finden, vom Nashornschießen bis zum Klimahandel, und zu der Erkenntnis, dass es notwendig ist, dass die Ökonomie „mit Moral handeln“ müsste.
Unausweichlich landen wir dabei bei der Frage, ob man für Geld alles kaufen könne – und bei der ein-(zwei-) deutigen Antwort, dass es wohl Sachen und Ereignisse gibt, die für Geld (allein) nicht zu haben sind. Dass die Antworten dabei durchaus kontrovers diskutiert und gehandhabt werden, zeigt auf, wie Markt und Moral zusammen hängen, und dass dabei Imponderabilien ins Spiel kommen, die den (moralischen und tatsächlichen) Wert einer gekauften Sache, die eigentlich nicht käuflich ist, mindern; etwa ein Freundschaftsbeweis, ein persönliches Geschenk, ein Doktortitel, eine Ehrung, eine Blutspende, ein Liebesakt, usw. Auch wenn sich Ökonomen heftig darum bemühen, jeder menschlichen Tätigkeit einen Marktmechanismus zuzusprechen, müssen wir uns klar machen, dass Haltungen und Einstellungen, wie etwa Altruismus, Liebe, Großmut, Solidarität und Gemeinsinn nicht wie Handelsgüter angesehen werden können, „die verbraucht werden, wenn man sie nutzt“.
Eine weitere, zumindest in den USA, aber auch in anderen kapitalistischen Ländern übliche Praxis des „Geschäfts mit dem Tod“ zeigt die hochkomplexen Zusammenhänge und moralischen Bedenklichkeiten auf; etwa, wenn Firmen und Konzerne Lebensversicherungen für ihre Bediensteten abschließen und bei deren Tod die Versicherungssumme kassieren; oder Wetten und Gewinnspiele auf Todesfälle, etwa bei Prominenten. Diese scheinbar obskuren Praktiken jedoch verdeutlichen, dass der Markt im allgemeinen, was sich etwa auch bei Spekulationen über Preise von Lebensmitteln zeigt, ein System praktiziert, das Leben und Tod zu einer Handelsware deklariert, an der es materiell zu gewinnen gilt
Natürlich ist in der Werbe-, Öffentlichkeits-, Fan- und Sponsoringbranche der Markt höchst präsent; etwa, wenn Sport-, Film- oder sonstige Größen Autogramme geben, für die längst ein Marktwert vorherrscht, wenn Stars abgetragene Kleider, Schuhe, ausgelutschte Kaugummis … für Geld verhökern, oder mit Werbeflächen auf Hauswänden, Autos, Schulen, sogar auf der Haut Geld zu verdienen ist. Ist eine Gesellschaft erträglich, in der niemand, ob gewollt oder ungewollt den plakativen Aufdringlichkeiten mehr entgehen kann?
Fazit
Michael J. Sandel zeigt in seinem Buch „Was man für Geld nicht kaufen kann“, exemplarisch Beispiele auf und hebt warnend den Zeigefinger, dass wir der allgegenwärtigen Marktmacht, die das Leben der Menschen eingrenzt auf Konsumieren und Haben, erkennen und dem Markt die Grenzen weisen sollten. Dabei stellt die Moral, die menschliches Dasein individuell und gemeinschaftlich bestimmt, einen Maßstab für eine Habachtstellung, wie für Widerstand dar. Der Autor vermittelt dabei keine Rezepte und gibt keine Anweisungen für richtiges, humanes und moralisches Verhalten, sondern er vertraut darauf, dass die ausgewiesenen Situationen für sich sprechen und die Menschen dazu bringen, die „Rolle der Märkte neu zu denken“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 14.12.2012 zu:
Michael J. Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes. Ullstein Verlag
(München) 2012.
ISBN 978-3-550-08026-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14242.php, Datum des Zugriffs 09.11.2024.
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