Kristin Mundt: Vom Delegierten der sozialistischen Moderne zum gläubigen Zuwanderer?
Rezensiert von Dr. Maurice Schulze, 10.05.2013

Kristin Mundt: Vom Delegierten der sozialistischen Moderne zum gläubigen Zuwanderer?
Lit Verlag
(Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2012.
296 Seiten.
ISBN 978-3-643-11855-4.
34,90 EUR.
Reihe: Soziologie - 76.
Autorin
Die Autorin promovierte am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig
Aufbau und Inhalt
Religiöse Pluralisierungsprozesse werden durch Migration mitbedingt und finden in öffentlichen Debatten einen wahrnehmbaren Bedeutungszuwachs. Mundt richtet in Ihrer Dissertation den Fokus auf eine der eher unscheinbaren Gruppen, der vietnamesischen Vertragsarbeiter/innen. Vor dem Hintergrund der Zunahme religiöser Aktivität, nimmt Vietnam eine besondere Stellung ein. Einerseits ist das Land in den späten 60er Jahren durch eine starke Säkularisierung und einer Entwertung der Religion von Seite des Staates geprägt, andererseits treffen die Migranten selbst in der DDR auf einen Staat, in dessen früheren Grenzen auch heute noch als "unreligiösestes Land" (Quelle!!!) gilt.
Mundt schafft es in ihrer Dissertation aktuellen Entwicklungen, welche zu einem Rollenverständnis vietnamesischer Migranten beitragen, aus historischen Ursachen abzuleiten. Damit liefert Sie ein umfassendes und logisch aufgebautes Hintergrundwerk über die Zusammenhänge moderner religiöser und akteurszentrierter Handlungsmuster. Beispielsweise überblickt Sie im Kapitel 2.4 "Säkularismen und religiöser Wandel in Vietnam" die Rolle staatlicher Eingriffe und wirtschaftlicher Reformprozesse auf die "Revitalisierung religiöser Praxis" (Mundt 2012: 56), sowie die historischen Prozesse säkularer Bestrebungen. "Die Zeit der Revolution und der Befreiungskriege hatte zwar die alte Sozialordnung radikal verändert und die politischen Funktonen von Ritualen ersetzt, ihr gelang es aber (außerhalb der städtischen Kontexte) nicht, einen säkularen sozialen Habitus zu generieren." (Mundt 2012: 63)
Im dritten Kapitel der Studie befasst sich mit der vietnamesischen Migration in Ostdeutschland. In detailreicher, aber komprimierter Form werden die Wege und Möglichkeiten vietnamesischer Arbeitsmigranten während der DDR-Zeit und nach der Wende von 1989 aufgezeigt. Dabei richtet Mundt besonders den Fokus auf die institutionellen Rahmenbedingungen, und daran die Möglichkeiten sozialer Praxis der Akteure deutlich zu machen. Diese umfassten die Qualifizierung der Arbeitskräfte, biographische Möglichkeiten und die Gestaltung des Alltags in der DDR sowie die Möglichkeiten der Rückkehr nach Vietnam nach dem Systemumbruch von 1989/90 oder der Migration innerhalb Deutschlands.
Der zweite Teil der Arbeit Mundts ist den Ergebnissen ihrer empirischen Forschung gewidmet. Im Duktus der Grounded Theory führte Mundt eine qualitative Studie durch und bedient sich vor allem biografischer Interviews, Experteninterviews und informeller Gespräche. Daraus bestimmte sie funktional soziale Typen. Die Beschreibung der herausgearbeiteten drei Typen nehmen den Hauptteil der zweiten Hälfte des Werkes ein.
Mundt unterscheidet dabei in die Typen I (Kompensation alter Wertbezüge und (trans-)nationale Neuverortung), Typen II (Wiederherstellung von Ordnung) und Typen III (Besonderung und Vergemeinschaftung). Die Vorstellung dieser Typen ist durch die Beschreibung der spezifischen Konflikte und Handlungsspielräume im Hinblick auf Religion gerahmt. Um Mundts Vorgehen nachvollziehen zu können, wird das Verfahren der Objektiven Hermeneutik wird beispielhaft an ausgewählten Interviewpartnern erläutert. Deutlich wird bei der Darstellung der verschiedenen Typen der Fokus auf "typische Neuorientierungen und funktionale Dimensionen von Religion im Zusammenhang von vietnamesischer Migration in einem (post)sozialistischen Kontext" (Mundt 2012: 257). Deutlich nachvollzogen wird ein religiöser Wandel, der beeinflusst ist von säkularen Weltbildern der scheidenden DDR.
Abschließend stellt Mundt genau diese Säkularisierungs- und Pluralisierungsfragen zur Diskussion, in dem Sie die Funktionen religiöser Neuorientierungen darstellt. Was ersetzt in (post)sozialistischen Gesellschaften die Wertsphäre der Religion? Je nach Tpyus finden sich Entwicklungen wie die familiale Tradierung, Individualisierung oder der Umdeutung säkularer Weltsichten. Das Zusammenspiel von Makro- und Mirkoprozessen trägt hier die beispielhafte Annäherung an Fragen der (Trans)nationalen Re-Normierung der öffentlichen politischen Sphäre (8.2) sowie der (Trans-)nationalen Formen des Erinnerns (8.3).
Diskussion
In aktuellen Debatten um Religion und Migration kommen selten die Akteure zu Wort, noch werden biografische und strukturelle Hintergründe mitgedacht. Mit besonderen Fokus auf vietnamesische Arbeitsmigranten und den gesellschaftlichen Umbrüchen in Ostdeutschland, bietet Kristin Mundt eine detailreiche und aktuelle Auseinandersetzung. Beispielhaft ist ihre Herangehensweise an ein solch komplexen Bereich des sozialen Wandels, der sich nicht nur im Gebiet der ehemaligen DDR und der dortigen spannenden Säkularisierungsprozesse zeitigt.
Fazit
Nicht nur aus soziologischer Sicht ist die Studie von Kristin Mundt ein Gewinn für die Auseinandersetzung der Rolle von vietnamesischen Migranten. Ebenso werden historische und religiöse Wandlungsprozesse in ihrer Vielfalt deutlich. Der Vielschichtigkeit geschichtlicher und sozialer Prozesse wird hier mit dieser empirischen Studie Struktur und Analysemöglichkeiten und -angeboten begegnet. Die Akteure rücken durch den qualitativen Ansatz in den Vordergrund und die Arbeit bietet einen Hintergrund zur authentischen Diskussion.
Rezension von
Dr. Maurice Schulze
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