Lieselotte Mahler, Ina Jarchov-Jàdi u.a.: Das Weddinger Modell. Resilienz- und Ressourcenorientierung [...]
Rezensiert von Ilja Ruhl, 20.02.2014
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Lieselotte Mahler, Ina Jarchov-Jàdi, Christiane Montag, Jürgen Gallinat: Das Weddinger Modell. Resilienz- und Ressourcenorientierung im klinischen Kontext. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2014. 272 Seiten. ISBN 978-3-88414-555-5. D: 34,95 EUR, A: 36,00 EUR.
Autorinnen und Autor
Alle AutorInnen sind am St. Hedwig-Krankenhaus in verschiedenen beruflichen Positionen tätig. Dr. Lieselotte Mahler und Dr. Christiane Montag sind Oberärztinnen, Ina Jarchov-Jàdi ist Pflegedirektorin und Prof. Dr. Jürgen Gallinat Chefarzt der Klinik.
Entstehungshintergrund
Die MitarbeiterInnen des St. Hedwig-Krankenhauses in Berlin-Wedding 2011 führten ein grundlegend neues Konzept für die Behandlung ihrer PatientInnen ein. Aus verschiedenen Ansätzen und Modellen, insbesondere Recovery, Empowerment und Salutogenese und der bedürfnisangepassten Therapie wurden Elemente im „Weddinger Modell“ zusammengefasst. Zu den Grundprinzipien des Weddinger Modells gehören u.a. die aktive Beteiligung der PatientInnen bei Therapieentscheidungen und ein hohes Maß an Transparenz im Handeln der Profis.
Aufbau
Das Buch umfasst neben zwei Vorworten zehn Hauptkapitel, diesen schließt sich der Literaturteil an. Ein Stichwortverzeichnis existiert nicht.
Inhalt
Weddinger Modell: Ein
Perspektivwechsel
In diesem Kapitel wird zunächst die
Motivation zur Einführung von Veränderungen im Sinne des Weddinger
Modells erläutert. Dabei geht Mahler auf die Hauptziele des
Modells ein und listet die für die praktische Einführung
hilfreichen Grundprinzipien „einfach machen“, „trotzdem
machen“, „weitermachen“ und „größer machen“ auf. Die
Grundannahme des Weddinger Modells geht davon aus, dass nicht die in
der Regel praktizierte pathologische Orientierung mit einem Fokus auf
bestehende Defizite für die PatientInnen zielführend ist. Vielmehr
wird ein Handeln favorisiert, das bestehende Ressourcen aufgreift und
die individuelle Resilienz berücksichtigt. Endpunkt der Behandlung
ist dabei nicht ausschließlich Symptomreduktion. Gesundung wird
stattdessen von den PatientInnen jeweils individuell definiert, die
„krankheitsunabhängigen Identitiätsansprüche“ sollen
aufrechterhalten bleiben.
Das Team entwickelt hierzu eine
multiprofessionelle emphatische Grundhaltung, die nicht arztzentriert
ist.
Theoretische Vernetzungen
Im Kapitel zu den theoretischen
Vernetzungen benennt die Autorin die Ansätze auf denen das
„Weddinger Modell“ fußt. Wichtigste Orientierungshilfe ist dabei
die Recovery-Idee, deren Grundprinzip die Hoffnung darstellt. Ziel
ist nicht die Abwesenheit von Symptomen, sondern ein zufriedenes,
erfülltes Leben und die gesellschaftliche Integration. Ein weiteres
Element ist Empowerment, das auch als ein Bestandteil von bzw.
Voraussetzung für Recovery verstanden werden kann.
Die
Salutogenese nach Antonovsky dient als Grundlage für den
Perspektivenwechsel von der pathogenetischen Fokussierung auf die
PatientInnen hin zur Wahrnehmung der gesunden Anteile.
Weitere
Anleihen nimmt das „Weddinger Modell“ bei der
bedürfnisangepassten Therapie, die ursprünglich in Skandinavien
entstand. Hiervon werden vor allem systemische Aspekte übernommen
und z.B. in den Netzwerkgesprächen umgesetzt.
Dort wo es möglich
ist, die PatientInnen es also gestatten, wird versucht, konsequent
trialogisch vorzugehen, also Angehörige mit ins Boot zu holen und an
der Therapie partizipieren zu lassen.
Veränderungen der klinischen Praxis und der Stationsstrukturen
Im Kapitel zu den erforderlichen
Veränderungen der klinischen Praxis und den Stationsstrukturen liegt
der Schwerpunkt auf der Bildung von multiprofessionellen
Bezugstherapeutenteams (MTB), in denen ärztliches, psychologisches
und pflegerisches Personal eng zusammenarbeiten. Die Zuordnung zu den
jeweiligen Patienten richtet sich nach dem engsten therapeutischen
Bezug, die jeweilige berufliche Qualifikation tritt dagegen in den
Hintergrund. Ergänzend werden nach Bedarf sozial-, ergo- und
kunsttherapeutisch qualifizierte MitarbeiterInnen hinzugezogen. In
der praktischen Umsetzung zeigt sich, dass zeitliche und inhaltliche
Reibungsverluste durch die MTB zurückgehen.
Die
Therapiebesprechungen, die vor Einführung des Weddinger Modells ohne
die PatientInnen durchgeführt wurden, sind nun Bestandteil des
Konzepts „keine Gespräche über die PatientInnen ohne diese“.
PatientInnen sollen sich aktiv in die Therapiebesprechungen
einbringen, hierdurch entsteht Transparenz, außerdem steigt die
Selbstwirksamkeit. Neben der Therapieplanung erläutert die Autorin
in diesem Kapitel die multiprofessionelle Visite, die Unterschiede in
der Therapieplanung kurz nach der Aufnahme und kurz vor der
Entlassung und die Visite durch Ober- und Chefarzt/-ärztin. Eine
Besonderheit stellt auch der offene Umgang mit dem Entlassbrief dar.
Dieser wird den PatientInnen zur Verfügung gestellt und gemeinsam
mit ihnen gelesen und auf Wunsch ergänzt oder korrigiert.
Einbeziehung von Angehörigen oder Bezugspersonen
Mit der Orientierung am trialogischen Konzept ist die Einbindung von sowie die offene Zusammenarbeit mit Angehörigen selbstverständlich. Hierdurch sollen soziale Beziehungen außerhalb der Klinik beibehalten und gefördert werden. Dabei wird die Belastung, der Angehörige aufgrund der psychischen Erkrankung eines ihm nahestehenden Menschen mitunter ausgesetzt sind, wahrgenommen, und der Versuch unternommen, diese im Rahmen eines gemeinsamen Austausches zu verringern.
Offene Begegnungen – Haltung zu Aggressionen und Behandlungen gegen den Willen
Lieselotte Mahler beschreibt im Kapitel zu Aggressionen und Behandlungen gegen den Willen den schwierigen Balanceakt zwischen der grundsätzlichen Haltung der MitarbeiterInnen nach dem Weddinger Modell und den Anforderungen einer psychiatrischen Klinik insbesondere in der Pflichtversorgung z.B. im Rahmen von Unterbringungen nach dem PsychKG. In Bezug auf Zwangsmaßnahmen orientiert man sich am Konzept der gemeinsam riskierten verantwortungsvollen Entscheidung, bei der ein „umsichtiger, authentischer Abwägungsprozess unter Einbezug aller Aspekte, Optionen und Teilhabenden (also auch der Patienten selbst!)“ stattfindet. Ein weiterer Baustein ist die Maxime „Postvention ist Prävention“. Obligatorische Nachbesprechungen von aggressiven Handlungen und Behandlungen gegen den Willen sollen einen gegenseitigen Lerneffekt und eine psychohygienische Wirkung entfalten.
Behandlungsvereinbarungen und Krisenpläne
Ein weiterer Bestandteil des Weddinger Modells ist die Arbeit mit Behandlungsvereinbarungen und Krisenplänen. Im Kapitel wird das Vorgehen beim Verfassen einer Behandlungsvereinbarung und eines Krisenplans erläutert, beide werden in Formularform auszugsweise vorgestellt.
Synergien
Das Kapitel
„Synergien“ befasst sich mit den Schnittstellen und
Überschneidungen zum Konzept der integrierten Versorgung (wobei
diese annähernd synonym mit dem Assertive Community Treatment
verwendet wird) und zur Soteria. Gallinat unterschlägt aber
auch nicht die Unterschiede zum Weddinger Modell. So wird in der
Soteria z.B. ausschließlich ohne Zwangsmaßnahmen gearbeitet.
Haltungsempfehlungen
Die Haltungsempfehlungen geben Hinweise auf ein psychotherapeutisches Selbstverständnis und die Einflussfaktoren, die bei der medikamentösen Therapie eine Rolle sowohl auf Seite der PatientInnen als auch auf BehandlerInnenseite spielen. Im Unterkapitel zum praktischen Umgang mit Medikation erfahren die LeserInnen z.B., welchen Einfluss der Zeitpunkt hat, an dem die Empfehlung zur psychopharmakologischen Behandlung gegeben wird und dass sie nicht an Bedingungen oder in Aussicht gestellte Vergünstigungen geknüpft sein sollte.
Implementierung des Weddinger
Modells
Jarchov-Jàdi geht ausführlich auf den Prozess
der Einführung des Weddinger Modells im St. Hedwig-Krankenhaus ein.
Dabei benennt sie zunächst die zu umschiffenden Klippen bei solch
umfangreichen Prozessen und gibt Tipps für Projektverantwortliche.
Nach dieser Einführung erläutert sie chronologisch die einzelnen
Projektschritte und Umsetzungsphasen. Als Orientierungshilfe für die
LeserInnen verknüpft die Autorin die Beschreibung der konkreten
Umsetzung des Weddinger Modells mit den Grundlagen des Projekt- und
Changemanagements.
Evaluation
Der Chefarzt des
St. Hedwig-Krankenhaus knüpfte die Einführung des „Weddinger
Modells“ an die Bedingung, dass das Konzept wissenschaftlich
untersucht wird. In diesem Kapitel werden erste Ergebnisse der
Begleitforschung vorgestellt. Die Studie fußt nicht ausschließlich
auf einem Prä-/Post-Design sondern bezieht Vergleichskliniken mit
ein, in denen das Weddinger Modell keine Anwendung findet.
Zielvariablen der Evaluation waren u.a. die Patientenzufriedenheit,
die therapeutische Beziehung aus PatientInnen- und
TherapeutInnensicht sowie die MitarbeiterInnenzufriedenheit. Die
Ergebnisse werden zunächst dargestellt und in der anschließenden
Diskussion interpretiert und methodisch eingeordnet.
Diskussion
Was lange währt wird endlich gut? Noch nie hat der Rezensent so
lange der Auslieferung eines Buches entgegengefiebert. Über ein Jahr
lang wurde das Erscheinungsdatum vom „Weddinger Modell“ immer
wieder verschoben. Herausgekommen ist ein wirklich lesenswertes Buch,
das zum einen das „Weddinger Modell“ übersichtlich und
detailliert beschreibt und zum anderen dem Implementierungsprozess
inhaltlich wie methodisch ausreichend Raum gibt.
Die AutorInnen
lenken den Blick der LeserInnen auf Aspekte, die häufig im
Verborgenen liegen. So führe z.B. die Etikettierung von Patienten
als Chroniker dazu, dass „im Erleben der Behandelnden die
behandelte Person immer gleich alt bleibe, immer die gleiche
Vorgeschichte und die gleichen Persönlichkeitsattribute habe und
immer die gleiche Behandlung und Medikation bei immer
gleichbleibendem Verlauf bekomme, ohne die Prozesse und
Lebensereignisse zu berücksichtigen, die den Patienten geprägt
haben.“ (S. 35). Auch mit dem neuen Modewort „adherence“ gehen die
AutorInnen kritisch ins Gericht, wenn sie stattdessen Partnerschaft
fordern, die Selbstbestimmung und Autonomie ernst nimmt (S. 42).
Hierzu gehört auch die Fokussierung darauf, welche Aspekte für die
PatientInnen für die Zeit nach der stationären Behandlung von
Bedeutung sind, statt in erster Linie Symptomfreiheit zu erreichen.
Gleichzeitig wird aber auch vor einer „Bagatellisierung von Leid“
gewarnt, die letztlich in Hoffnungslosigkeit und Resignation enden
kann (S. 52). Dass es die Projektverantwortlichen wirklich ernst
meinen illustrieren sie auch durch die Kenntnis der kritischen
Stimmen, z.B. zum Recovery-Konzept, die befürchten, dass dieses an
der Oberfläche verbleibt und lediglich einen Modebegriff darstellt
(S. 54). Dem möchte man im St. Hedwig-Krankenhaus mittels der realen
Umsetzung des Empowerments entschieden entgegen treten (ebd.).
Wohltuend und eher selten zu lesen ist die Feststellung, dass Humor für die Arbeit mit Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, für beide Seiten durchaus hilfreich ist (S. 130).
Ein weiterer großer Verdienst des Buches ist die Tatsache, dass die AutorInnen sich nicht darauf beschränken, die Inhalte des „Weddinger Modells“ zu vermitteln, sondern auch ausführlich auf die praktische Einführung des Konzeptes eingehen. Erfreulicherweise werden Hindernisse und Bedenken aus der Mitarbeiterschaft nicht negiert, die AutorInnen zeigen vielmehr auf, welche Wege beschritten werden können, um solche Widerstände ohne autoritäres Vorgehen zu überwinden.
Kritikwürdiges findet sich im
„Weddinger Modell“ nur in minimalen Dosen. Der Text wurde
insgesamt hervorragend lektoriert und redigiert. Da wird zwar schon
mal in einer Literaturangabe im Text aus „Weinmann“, „Weimann“
(S. 33), aus einem „gesundheitswissenschaftlichen“ Modell ein
„gesundheitswirtschaftliches“ (S. 46) oder aus einem „ist“
ein „ich“ (S. 169). Auch vermitteln einige Formulierungen den
Eindruck, als seien nicht Elemente aus bereits bestehenden Konzepten
in das Weddinger Modell integriert worden, sondern umgekehrt: „Umso
interessanter sind Untersuchungen, die von Behandlungskonzeptionen,
die Elemente integrieren, welche dem Weddinger Modell angenähert
sind, wie beispielsweise Soteria [.]“ (S. 169).
Der gröbste
sprachliche Ausrutscher konterkariert den ansonsten durchgehend
respektvollen Ton, in dem über die PatientInnen berichtet wird:
„Frau P. ist eine gut bekannte schizophrene Patientin“ (S. 37).
Insgesamt stellen formale wie inhaltliche Fehler aber seltene
Ausnahmen dar.
Vorbildlich ist die häufige Verwendung von
Tabellen und Abbildungen, die immer sinnvoll in den Text eingebettet
sind und den LeserInnen helfen, einen schnellen Überblick, z.B. über
die zeitlichen Abläufe der Projektphasen zu erlangen. Viele
Praxisbeispiele lockern den Text auf, der tatsächlich immer an jenen
Stellen konkret wird, an denen man als LeserIn mehr über die
praktische Arbeit mit den PatientInnen im Sinne des Weddinger Modells
erfahren möchte.
Fazit
Das lange Warten hat sich gelohnt. Mit dem „Weddinger Modell“ hat der Psychiatrie-Verlag eine Monographie aufgelegt, die sowohl inhaltlich wie formal überzeugen kann. Das Buch stellt eine praxisorientierte Anleitung dar, mit der sich das Konzept oder einzelne Elemente des „Weddinger Modells“ selbst umsetzen lassen. Der Aufbau ist schlüssig und stringent, das Lesen macht Spaß, weil theoretische Implikationen und deren praktische Umsetzung durchdacht miteinander verzahnt werden. Die zugrundeliegende respektvolle Haltung der AutorInnen gegenüber ihren PatientInnen schwingt im Text immer mit. Die zahlreichen sinnvollen Praxisbeispiele, Tipps und Abbildungen lockern das Buch auf. Als Zielgruppe kommen neben klinisch-psychiatrischen MitarbeiterInnen auch interessierte LeserInnen aus dem sogenannten komplementären Bereich in Frage, die den Blick für eine konsequent klientenorientierte professionelle Grundhaltung schärfen möchten und/oder auf der Suche nach einem Praxisbeispiel für die Durchführung eines klientenbezogenen Change-Managementprozesses sind. Klare Kaufempfehlung!
Rezension von
Ilja Ruhl
Soziologe M.A.
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Zitiervorschlag
Ilja Ruhl. Rezension vom 20.02.2014 zu:
Lieselotte Mahler, Ina Jarchov-Jàdi, Christiane Montag, Jürgen Gallinat: Das Weddinger Modell. Resilienz- und Ressourcenorientierung im klinischen Kontext. Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2014.
ISBN 978-3-88414-555-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14247.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.
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