Ernst Engelke: Gegen die Einsamkeit Sterbenskranker
Rezensiert von Mag. Helga Schiefermair-Wieser, 19.02.2013

Ernst Engelke: Gegen die Einsamkeit Sterbenskranker. Wie Kommunikation gelingen kann. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2012. 280 Seiten. ISBN 978-3-7841-2111-6. D: 23,00 EUR, A: 23,70 EUR, CH: 32,90 sFr.
Thema
Das vorliegende Werk behandelt die unterschiedlichen Befindlichkeiten und Bedürfnisse sterbenskranker Menschen und Möglichkeiten gelingender Kommunikation mit ihnen.
Autor
Der Autor Prof. Dr. Ernst Engelke studierte Philosophie, Psychologie, promovierte in Theologie, habilitierte sich für Erziehungswissenschaft/Sozialpädagogik an der TU Berlin. Fortbildungen in Clinical Pastoral Training, Psychotherapie und Supervision. Professor für Soziale Arbeit an der FH Würzburg, Lehre, Forschung und Veröffentlichungen in den Themenfeldern Soziale Arbeit, Sterbebeistand und Palliativ Care. Vielfältiges Engagement im Kontext der Hospizbewegung.
Entstehungshintergrund
Den persönlichen Hintergrund des Werkes prägt die langjährige Erfahrung des Autors in der Begleitung Sterbender und ihrer Angehörigen als Seelsorger, als Supervisor für Mitarbeiter_innen im Kontext der Hospizbewegung, als Fortbildungsleiter und Autor zahlreicher thematisch verwandter Veröffentlichungen. Das Umfeld des Buches bildet ein vielfältiger, wachsender Markt von Literatur zum Thema Tod und Sterben – ein Indiz für eine zunehmende Auseinandersetzung mit dem Thema durch Privatpersonen, professionelle Kräfte, Organisationen des Sozial – und Gesundheitsbereiches bis hin zu Kommunen.
Aufbau
Der
Aufbau des Werkes gliedert sich übersichtlich in sechs Teile, das
detaillierte Inhaltsverzeichnis erstreckt sich auf 6 Seiten.
1. Unterricht an Sterbebetten
- Erleben und Verhalten Sterbenskranker
- Erleben und Verhalten der Angehörigen und Freunde
- Erleben und Verhalten professioneller Helfer
- Bausteine und Wege für eine angemessene Kommunikation
- Trösten heisst treu sein
Die einzelnen Teile enthalten zahlreiche, kurze Unterkapitel. Die ausformulierten Überschriften bestehen jeweils aus einem kurzen wörtlichen Zitat der angesprochenen Personen-Gruppe, sowie einem prägnanten Statement zum Thema – eine informative Vorschau, die es auch ermöglicht, in gezielter Auswahl zu lesen.
Inhalt
Das Inhaltsverzeichnis in seiner Ausführlichkeit und der oben beschriebenen Struktur hier wiederzugeben,mit den situativen, subjektiven Aussagen der betroffenen Personen – schwerst erkrankte Menschen, Angehörige, Ärzt_innen, Pflegepersonen, ergänzt durch die zugehörigen Statements zum angesprochenen Thema – würde Rahmen und Zielsetzung dieses Abschnitts gut füllen und wesentliche Einsichten in Inhalte und Erfahrungen gewähren. Einige ausgewählte Beispiele sollen hier vorgestellt werden:
- Teil 2/1 „Ich hab's befürchtet.“ – Sterbenskranke (er)kennen die Wahrheit
- Teil 2/5 „Endlich habe ich wieder Stuhlgang.“ – elementare körperliche Bedürfnisse dominieren
- Teil 3/2 „Wir kämpfen gemeinsam.“- Angehörige sind Co – Patienten
- Teil 3/6 „Manchmal wünsche ich mir, dass er bald stirbt.“ – Ambivalenz der Gefühle
- Teil 4/3 „Wir sind erwünscht und zugleich unerwünscht.“ – Ambivalenz der Profis
- Teil 4/4 „Haben Sie Medizin studiert oder ich?“ – Konfliktfelder gibt es reichlich
Die
Teile 1 – 4 thematisieren Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten
der involvierten Personen und Professionen unter Betonung der
Unterschiedlichkeiten und Widersprüchlichkeiten von Erleben,
Sichtweisen, Emotionen und Zugängen. Ein Fokus wird gelegt auf die
Differenz zwischen idealisierenden Betrachtungsweisen des Sterbens
auch in Fachliteratur und Aussagen von nicht unmittelbar Betroffenen:
„Die Lebenswirklichkeit Sterbenskranker korrigiert Klischees und
Ideologien“ ( S 24). Tabulos werden Aussagen wiedergegeben wie
„Keiner kann an der Scheisse hier
teilnehmen, muss ich allein machen. Ich will alleine sterben.“ (S
116)
Zitate prominenter Autoren wie Tolstoj oder
Schlingensief ergänzen
den stetigen Wechsel zwischen zahlreichen wörtlichen Aussagen
Betroffener, die als Ausgangspunkt bzw. Veranschaulichung dienen, und
den erklärenden, verallgemeinernden Verbindungstexten des Autors.
Biblische und philosophische Bezüge werden hergestellt, sowie solche
zu einschlägiger Fachliteratur
Im Teil 5 werden „Bausteine und Wege für eine angemessene Kommunikation“ vorgestellt. In noch weiter untergliederten Unterabschnitten wird in allgemeine Grundlagen, Modelle und Methoden der Gesprächsführung eingeführt, dabei immer wieder Bezug genommen auf die Kommunikation zwischen Sterbenden und ihrem Umfeld. Deutlich herausgearbeitet werden die vielfältigen und komlexen Vernetzungen zwischen den unterschiedlich involvierten Personen und Institutionen, die Verständigung zu einer Herausforderung machen. Eingegangen wird auf Konflikte und Krisenintervention, auf religiös begründete Kommunikation und die stärkende Wirkung von Ritualen. Merksätze und Empfehlungen wie „akzeptieren, dass Sterbende ihre Situation nicht akzeptieren“(S 342) oder „hilfreiche Gespräche müssen nicht lange dauern“ finden sich zum Schluss des Kapitels.
Abgerundet
wird das Buch mit Überlegungen zum Trösten im 6.
Teil. Trost wird
vorgestellt mit seiner Wortbedeutung aus der indogermanischen Wurzel-
„innere Festigkeit, Zuverlässigkeit“ und als eine Haltung der
Treue interpretiert, die zuhören kann, die auch akzeptieren kann,
wenn Betroffene keinen Trost akzeptieren, die auf gutgemeinte,
vorschnelle Tröstungen verzichten kann.
Das Schlusswort hat
Gerassim, Tolstojs
junger Bauernsohn, der ausharrt beim sterbenden Iwan
Illjitsch, noch als
dieser ihn wegschicken will, um sich dem Jungen nicht länger
zuzumuten : „Sterben müssen wir alle mal. Warum soll ich mich da
nicht ein bisschen für Sie abmühen?“ was wohl soviel heissen
sollte, als dass er seine Arbeit nicht als lästig ansah, sondern sie
gerade deshalb gern tat, weil er diese Mühen für einen Sterbenden
auf sich nahm und die Hoffnung hegte, auch für ihn werde sich, wenn
seine Zeit gekommen war, jemand so abmühen.“( S 362)
Diskussion
Eines der Merkmale und Verdienste des vorliegenden Buches besteht in der Authentizität, der Anschaulichkeit, in der Betroffene zu Wort kommen, und in dem durchgehaltenen Prinzip, von Zitaten ausgehend entsprechende Kommentare, allgemeinere Situationsbeschreibungen, hilfreiche Theorieaspekte und praktische Vorschläge zu bieten. Als Leserin würde man sich wünschen, hinter den einzelnen wörtlich wiedergegebenen Aussagen Personen wahrnehmen zu können - anonymisiert natürlich, aber doch mit der Identität eines Namens / Anfangsbuchstaben (mit dem Hinweis „geändert“), Alters, Geschlechts. Es könnte eine Haltung des Respekts fördern, von den Menschen Herr N. oder Frau K. zu erfahren, nicht bloss von „dem Sterbenskranken“; Aussagen würden so als persönliches sprachliches Schaffen gewürdigt, wie auch bei den zitierten Literaten. Aus mehreren Aussagen einer Person könnte ein differenzierteres Bild von unterschiedlichen Befindlichkeiten und Entwicklungen erkennbar werden – auch das Aspekte einer respektvollen, die je einzelne Identität würdigenden Kommunikation.
Der Verfasser betont wiederholt, dass es „den Sterbenskranken“ nicht gäbe, Menschen völlig unterschiedlich erleben und sich zeigen, und verwahrt sich gegen Verallgemeinerungen. Dazu steht die durchgehend gebrauchte Bezeichnung „der Sterbenskranke“ in einem gewissen Widerspruch, sie lässt ein stereotypes Bild entstehen. Ebenso wenn von „dem Arzt“ die Rede ist, „dem Pflegenden“, „dem Angehörigen“ – selbst dann, wenn sich im folgenden Satz erkennen lässt, dass es sich um eine (Ehe)Frau handelt.
Recht pauschal wird eine der Pionierinnen der Gespräche mit Sterbenden, Elisabeth Kübler-Ross kritisiert; ihr wird Idealisierung des Todes vorgehalten (S28 u.ö.) , und mit den Worten ihrer Schwester in einem Film – Interview, E.KR selbst würde angesichts des eigenen nahenden Todes nicht ihren eigenen Thesen gemäß reagieren, ihre Arbeit in Zweifel gezogen. Zweierlei wird dabei übersehen: der historische Kontext, in dem die Tabuisierung des Sterbens aufzubrechen war, die Möglichkeit eines auch positiven Verständnisses des Sterbens erst gewonnen werden musste, um der ausgrenzenden Angst vor dem Entsetzlichen etwas entgegensetzten zu können. Jahrzehnte unermüdlicher Hospizarbeit und zahlloser Veröffentlichungen später mag es an der Zeit sein, dem weiten Ausschwingen des Pendels vom Schrecken hin zur Hochschätzung gut begleiteten Sterbens den Blick auf Ambivalenz und Diversität menschlicher Auseinandersetzung mit dem nahen Tod hinzuzugesellen. Den Respekt vor der Arbeit der Kollegin sollte das nicht schmälern, und aus 3. Hand jemandem persönliches Leben als Kritik an professioneller Expertise vorzuhalten – das zweite Übersehene - verletzt eine fachliche und kommunikative Grenze, so wohl nicht stimmig zu den vorgeschlagenen Grundsätzen gelingender Kommunikation. Auch die vorgestellten Adressat_innen des Buches – Angehörige, Pflegepersonen, Ärzt_innen…, die zum ’Unterricht an Sterbebetten´ motiviert werden sollen, werden mitunter wenig wertschätzend dargestellt – viel Unzulängliches mag Einem begegnen, der im Klinikalltag die Rolle eines externen Experten einnimmt – und doch ist es, systemisch betrachtet, das Beste, was dem oder der Einzelnen möglich ist, im jeweiligen Moment, keine Veränderung ohne Anerkennung des Bestehenden.
Fazit
Ein
facettenreiches Buch zur Kommunikation mit sterbenskranken Menschen,
ausgezeichnet durch zahlreiche authentische Aussagen Betroffener,
vielfältige Kommentare aus der Erfahrung und theoretischen Arbeit
des Autors, mit einer deutlichen Betonung der widerständigen
Grenzerfahrungen, die Menschen angesichts des Todes machen.
Nicht
immer erfüllt der Autor die eigenen Ansprüche an Differenzierung
und an Wertschätzung des jeweiligen Gegenübers.
Leser_innen mit
persönlichem bzw. professionellem Interesse am Thema könnten
Letzteres, bei aller Irritation, als Spiegelung der Ambivalenz des
Themas verstehen, und aus der Fülle des Gebotenen auswählen, was
ihnen nützt.
Rezension von
Mag. Helga Schiefermair-Wieser
DSA. Lehrbeauftragte an der Fachhochschule Campus Wien, Studiengang Soziale Arbeit; Themenschwerpunkte: Professionsethik, Trauer– und Sterbebegleitung in der SA,
Persönlichkeitsentwicklung und Kommunikation,
interdisziplinäre Fallarbeit;
langjährige Praxis im Gesundheitsbereich.
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