Yasemin Karakaşoğlu, Mirja Gruhn et al.: Interkulturelle Schulentwicklung unter der Lupe
Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 05.11.2012
Yasemin Karakaşoğlu, Mirja Gruhn, Anna Wojciechowicz: Interkulturelle Schulentwicklung unter der Lupe. (inter-)nationale Impulse und Herausforderungen für Steuerungsstrategien am Beispiel Bremen. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2011. 384 Seiten. ISBN 978-3-8309-2567-5. D: 34,90 EUR, A: 35,90 EUR.
Autorinnen
Yasemin Karakaşoğlu hat eine Professur für Interkulturelle Bildung am FB Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Bremen. Anna Wojciechowicz ist dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Mirja Gruhn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am FB Germanistik der Universität des Saarlandes.
Thema
Die Verfasserinnen geben bildungspolitische Empfehlungen für die interkulturelle Schulentwicklung im Stadtstaat Bremen, gestützt auf Empfehlungen internationaler Organisationen (spez. der OECD), europäischer Gremien, der Kultusministerkonferenz sowie auf Beispiele von Best Practice aus dem In- und Ausland. Ziel ist es, die punktuell-kompensatorische Förderung von Kindern aus Migrantenfamilien zu Gunsten einer konzeptionellen Neuorientierung zu überwinden. Die Sprachförderung bildet dabei einen Schwerpunkt.
Entstehungshintergrund
Die Publikation ist aus einem Gutachten für die Bremer Bildungsbehörde zur Erstellung eines „Entwicklungsplans Migration und Bildung“ hervorgegangen (S.15). Vorausgegangen waren Strukturreformen, die unter anderem den Übergang zu einem weniger selektiven zweigliedrigen Schulsystem zum Ergebnis hatten.
Aufbau und Inhalt
Nach der Einleitung, in der über den lokalen Entstehungshintergrund der Publikation informiert wird, verdeutlichen die Verf. kurz, was für sie eine „interkulturelle Schulentwicklung“ ausmacht, nämlich die Überwindung bloß „additiver Fördermaßnahmen“ (S.21).
In Kapitel 2 werden dann bildungspolitische „Empfehlungen und Vereinbarungen zur interkulturellen Bildung auf internationaler, europäischer und bundesweiter Ebene“ vorgestellt. Sie reichen von Leitlinien der UNESCO bis zum Jahresgutachten des Sachverständigenrats Deutscher Stiftungen für Integration und Migration.
In Kapitel 3 dient die Durchsicht interkultureller Schulentwicklungsmodelle aus der Schweiz, England, Kanada und Deutschland der abschließenden Identifikation von „Parametern einer erfolgreichen Strategie interkultureller Schulentwicklung“. Bereits bekannt sind vermutlich das QUIMS-Projekt des Kantons Zürich und das von der Bund-Länder-Kommission geförderte FörMig-Programm.
Im vierten Kapitel vergewissern sich die Verf. der „bildungspolitischen Grundlagen für die interkulturelle Öffnung des Bremer Schulsystems“, d.h. der durch den „Orientierungsrahmen Schulqualität“ von 2007, den Schulentwicklungsplan von 2008, das Schulgesetz von 2009 und den Entwicklungsplan Inklusion von 2010 geschaffenen Voraussetzungen.
Daran schließen sich in dem umfangreichen fünften Kapitel, das in acht Unterkapitel gegliedert ist, die Handlungsempfehlungen an. Dazu wird jeweils zuerst für jeden Bereich der Forschungsstand referiert. Dann werden „Umsetzungsbeispiele anderer Bundesländer“ besichtigt, um schließlich nach Prüfung der „Ausgangslage in Bremen“ die Handlungsempfehlungen zu formulieren. Insgesamt sind es 51 am Schluss des Bandes. Die Unterkapitel folgen jeweils dieser Gliederung. Folgende Bereiche werden entlang der angegebenen Gliederungsaspekte behandelt: Sprachförderung und interkulturelle Öffnung an der Schnittstelle Kita – Grundschule, Deutsch als Zweitsprache im schulischen Kontext, Maßnahmen zur Integration von Seiteneinsteiger/inne/n, Umgang mit Mehrsprachigkeit, interkulturelle Kooperation zwischen Kita – Eltern – Schule, interkulturelle Aspekte und sprachliche Bildung am Übergang Schule – Beruf/Studium, die Professionalisierung des pädagogischen Personals, darunter auch die Gewinnung von Fachkräften mit Migrationshintergrund und schließlich Schulqualität und Vernetzung im interkulturellen Entwicklungsprozess.
In der knappen „Schlussbemerkung“ (Kap.6) werden die notwendige „Umorientierung in der Breite“ und das Erfordernis eines „übergreifenden und durchgängigen Sprachkonzepts“ (S.295) betont.
Der Anhang nach dem Literaturverzeichnis enthält eine Auflistung der Module des Schweizer QUIMS-Projekts und eine tabellarische Übersicht über die Regelungen zum Herkunftssprachenunterricht in ausgewählten Bundesländern.
Außer auf die durchgängige, in der Schule fachübergreifende Sprachförderung legen die Verf. besonderes Gewicht auf die Kooperation an den Schnittstellen oder Übergängen im Bildungs- und Ausbildungssystem sowie auf die Kooperation mit den Eltern. Dass dies dem wissenschaftlichen Diskussionsstand entspricht, belegen sie jeweils in den entsprechenden Unterkapiteln.
Diskussion
Wer mit dem Blick auf den Buchtitel Empfehlungen für die interkulturelle Orientierung seiner Schule, seines „Schulhauses“ (in der Schweizer Terminologie) erwartet, könnte enttäuscht werden. Schon aus der Aufgabenstellung des Gutachtens, das der Publikation zugrunde liegt, ergibt sich, dass es eher um bildungspolitische Top-down-Strategien geht. Primär von Interesse dürfte das Buch also für Bildungspolitiker/ innen, Vertreter/innen der Bildungsadministration oder aber auch für bildungspolitisch Engagierte in Verbänden und Parteien sein. In zweiter Linie verdient es freilich auch die Aufmerksamkeit derer, die in Kitas und Schulen Initiativen „von unten“ mittragen; denn der Erfolg solcher Initiativen hängt von den institutionellen Rahmenbedingungen ab, wie z. B. die Leitlinien der UNESCO verdeutlichen (vgl. S.27). Im Übrigen finden Lehrer/innen in verschiedenen Abschnitten des Buches auch Argumente sowie Hinweise auf Literatur und Materialien, die für ihre Arbeit unmittelbar hilfreich sein könnten, so z. B. zur durchgängigen Sprachförderung in allen Fächern (S.129, leider z. T. ohne bibliographische Angaben in dem auch sonst lückenhaften Literaturverzeichnis).
Inhaltlich hervorhebenswert sind die Ausführungen über Mehrsprachigkeit und Herkunftssprachenunterricht (Kap.5.4), weil sie darüber aufklären, dass die wissenschaftlichen Kontroversen darüber ohne belastbare empirische Daten geführt werden, und es letztlich auf eine pädagogische Bewertung ankommt. Auch die Relativierung der umstrittenen Interdependenzhypothese von Cummins (S.163f.) dürfte manchen Streit im Alltag beilegen helfen. Sehr informativ sind m. E. auch die Ergebnisse der ersten Studien über Lehrkräfte mit Migrationshintergrund, über deren Motive und die Effekte ihrer Mitwirkung an Schulen, wobei die Einschätzung der Verf. dick zu unterstreichen ist, dass der Erfolg multikultureller Kollegien von der interkulturellen Öffnung der jeweiligen Schule abhängt (S.270). Denn die Trägheit der Institutionen begünstigt das Delegationsprinzip, eine oft ärgerliche Erfahrung für Lehrer/innen mit Migrationshintergrund (S.269).
Fazit
Die Publikation bietet keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, was von den Verfasserinnen auch nicht beansprucht wird, verarbeitet solche aber übersichtlich in praktischer Absicht und informiert über Modelle, Best-Practice-Beispiele und strukturelle Voraussetzungen interkultureller, besser inklusiver Bildungsarbeit. Das Buch gibt deshalb eine gute Arbeits- und Diskussionsgrundlage für Praktiker/innen auf verschiedenen Handlungsebenen ab, kann aber auch bei der wissenschaftlichen Politikberatung dienlich sein. Ohne Bedeutung ist dafür, dass interkulturelle Bildung, anders als vom Titel und vielen Formulierungen im Text nahe gelegt, nicht das eigentliche Thema des Bandes ist. Im Fokus ist die Förderung der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, m. a. W. Chancengleichheit – zweifellos eine entscheidende Voraussetzung interkultureller Bildung.
Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
Lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln.
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Zitiervorschlag
Georg Auernheimer. Rezension vom 05.11.2012 zu:
Yasemin Karakaşoğlu, Mirja Gruhn, Anna Wojciechowicz: Interkulturelle Schulentwicklung unter der Lupe. (inter-)nationale Impulse und Herausforderungen für Steuerungsstrategien am Beispiel Bremen. Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2011.
ISBN 978-3-8309-2567-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14269.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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