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Michael Ermann: Psychoanalyse heute

Rezensiert von Dipl.-Psychol. Wolfgang Jergas, 07.03.2013

Cover Michael Ermann: Psychoanalyse heute ISBN 978-3-17-022622-7

Michael Ermann: Psychoanalyse heute. Entwicklungen seit 1975 und aktuelle Bilanz. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2012. 2. Auflage. 122 Seiten. ISBN 978-3-17-022622-7. D: 18,90 EUR, A: 19,50 EUR, CH: 27,50 sFr.
Reihe: Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-17-031204-3 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Thema

Was ist Psychoanalyse? Eine einfache Antwort auf diese Frage gibt es schon lange nicht mehr. Seit den Anfängen gab es auch Abweichler, Weiterentwicklungen, Differenzierungen, Schwerpunktverschiebungen, „Orthodoxe“ und Reformer. Das vorliegende Buch gibt Aufschluss über Entwicklungen seit 1975, also ungefähr die letzten 30 – 40 Jahre.

Michael Ermann, geboren 1943 in Stettin/Pommern, aufgewachsen in Hamburg, Professor und Facharzt für Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin legt hier den dritten Band einer kleinen Geschichte und Darstellung der Entwicklung der Psychoanalyse seit Freud vor, die ersten beiden Bände sind bereits erschienen.

Entstehungshintergrund

Die Lindauer Psychotherapiewochen (nach ihrem Tagungsort Lindau am Bodensee) entstanden nach dem 2. Weltkrieg als eine Vortrags- und Fortbildungsveranstaltung für psychoanalytisch orientierte und Interessierte Ärzte, Psychologen und andere Berufsgruppen, enthielten und enthalten auch Bausteine zur Ausbildung und verbinden so tiefenpsychologisch orientierte Selbsterfahrung mit wissenschaftlich aktueller Fort- und Weiterbildung. Sie finden jedes Jahr um Ostern herum statt, was der Lehr- und Lernatmosphäre einen zusätzlichen Reiz verleiht. Die Liste der Dozenten liest sich wie das Who„s who der Psychoanalytischen und Psychotherapeutischen Wissenschaftler der letzten Jahrzehnte seit Begründung dieser Veranstaltung. Die Vorträge am Vormittag sind an einem Thema der Zeitläufte oder der Zunft orientiert und werden von namhaften Vertretern des Faches vorgetragen. In diesem Rahmen entstanden die Vorträge, die nun in Buchform vorliegen.

Aufbau

Fünf Vorträge sind es, die Ermann überarbeitet hier vorlegt und in denen er einen Überblick wagt, der auch als Nachschlagewerk dienen kann. Schon hier sei angemerkt, dass es nicht ganz ohne Grundkenntnisse der psychoanalytischen Terminologie geht. Das jeweils eigene des neuen Ansatzes wird aber verständlich erklärt. Die einzelnen Kapitel sind noch untergliedert. Erfreulich und didaktisch sinnvoll ist das Layout: Informationen zu Personen, die Ermann wichtig erscheinen oder die nicht immer mehr als gewusst vorausgesetzt werden, erscheinen typographisch abgesetzt, so daß der Lesefluss bzw. Sinnzusammenhang oder eine Argumentationskette nicht unterbrochen ist.

Inhalt

Fünf Kapitel, die Ermann nach dem Titel der Vorlesungen benannt hat und die Schwerpunkte setzt:

  1. Psychoanalyse nach 1975,
  2. Selbstpsychologie und Narzissmus, die wichtigen amerikanischen Neuerungen,
  3. Intersubjektivität – das neue Paradigma, dem neuen Subjektivismus in der Therapie,
  4. Neue Einsichten in die Frühentwicklung: die lange vernachlässugte Bindungsforschung,
  5. Am Beginn des dritten Jahrtausends.

Psychoanalyse ist seit deren Begründung durch Sigmund Freud eine Psychologie des gesunden und kranken Menschen einerseits, eine Kulturtheorie andererseits und drittens eine Behandlungsmethode psychischer Krankheiten, bevorzugt Neurosen und Persönlichkeitsstörungen. Es ist eine „Redekur“, so der Begründer, in deren Verlauf der Patient seine Erlebnisse mit den dazugehörigen Emotionen wahrzunehmen lernt, wobei der Erfolg in dieser erinnerten Totalität besteht, da die Erkrankung durch die Trennung von Affekt und historischer Faktizität zustande kommt. Der Psychoanalytiker versuche durch Hören auf dem Dritten Ohr zu verstehen und durch Deutung zur Sprache zu bringen, was dem Patienten selber (noch)nicht aufgegangen ist.

Die dieser Art gewonnenen Erkenntnisse über das Individuum und seine Geschichte der Gefühle werden dann zu Hypothesen und Erkenntnissen sowohl des einzelnen Patienten als auch einer Neurosenlehre im allgemeinen, einer Entwicklungspsychologie, Persönlichkeits- und Sozialpsychologie des weiteren verwendet. Da diese Erkenntnisse aus einer intimen Gesprächssituation, die der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt, entsteht, sind die so gewonnenen Erkenntnisse unter dem Gesichtspunkt der klassischen naturwissenschaftlichen experimentellen Erkenntnismethode kritisch zu betrachten, da die bekannten Einflussfaktoren der Interview-,Sozial- und Interaktionsforschung auch hier zum Tragen kommen. Beispielhaft sei der hermeneutische Zirkel genannt, der besagt, dass der Zuhörer das Gesagte (oder der Leser das Geschriebene oder der Übersetzer das zu Übersetzende) versucht vorteilsfrei, neutral und objektiv zu verstehen, sich das Gesagte ihm sich aber nur insoweit erschließt, als er bereits ein Vorverständnis des Gesagten haben muss, um es zu verstehen. Was ironisch so ausgedrückt wurde, dass man stets die Eier finde, die man vorher versteckt habe.

Dies vorausgeschickt, ist zu verstehen, dass Ermann das erste Kapitel: Psychoanalyse nach 1975 nennt, da erst da eine eigenständige nationale Normalisierung der Psychoanalytischen Gemeinschaft stattfindet. Aufzuarbeiten war nach dem zweiten Weltkrieg der Anschluss an die überwiegend englische und amerikanische Psychoanalyse, da Psychoanalyse als von den Nationalsozialisten so genannte „jüdische Wissenschaft“ verboten und die Ärzte und Akademiker, die diese Lehre oder Behandlung vertraten, fast alle Deutschland verlassen hatten und nur wenige wieder nach Deutschland zurückkehrten. Die studentische und professorale kritische Linke hatte die Freudsche Kulturtheorie und -Kritik in den 6oger und 70ger Jahren aufgegriffen und popularisiert, auch saßen Psychoanalytiker auf universitären Lehrstühlen, aber der Boom flaute ab und die Psychoanalyse sah sich auch von dem naturwissenschaftlich sich begreifenden „mainstream“ in Psychotherapie und Psychologie zunehmend in die Zange genommen aber immerhin gelang der Versuch, sich auch im Lichte evidenz-basierter Behandlungsmethoden weiterhin die notwendige Reputation zu verschaffen.

Eine Nacharbeitung bestand zum Beispiel in der Rezeption der Selbstpsychologie und des Narzissmus, (2. Vorlesung). Heinz Kohut Vertreter der ersteren, Otto F. Kernberg Protagonist des zweiten.

3. Vorlesung: Intersubjektivität - das neue Paradigma. Freud hatte die Vorstellung, der Analytiker solle wie ein blankgeputzter Spiegel die Rede des Patienten reflektieren, sich jeglicher persönlicher Stellungnahmen enthalten und sich affektiv neutral, (allenfalls geschmälert durch eine „milde positive Zuwendung“) verhalten. Diesem Ziel dient u.a. die Selbstanalyse, d.h. der Analytiker wird erst einmal eine Psychoanalyse bei einem Lehranalytiker machen, um dann mit der gewünschten Neutralität auftreten zu können.

Es hat lange gedauert, um diese Idealvorstellung in Frage stellen zu können, ohne aus der Zunft ausgeschlossen zu werden. Inzwischen werden die Gefühle und Wahrnehmungen des Analytikers, so sie nicht eine Übertragungsneurose auf den Patienten darstellen, als zusätzliche Erkenntnisquelle über den Zustand des Patienten zu nutzen versucht. Darüber hinaus wird die Therapie nicht mehr als Einbahnstraße angesehen. Diese neue Sichtweise wird in kurzen Lehrsätzen so lauten: „Der Analytiker ist immer Teilnehmer und nicht Beobachter. Veränderung geschieht durch Beziehung, nicht durch Deutung. … Das Agieren des Analytikers ist unvermeidlich. Authentizität ist notwendig und rechtfertigt Selbstenthüllungen…“ (Ermann,S.68, Tabelle 16)

Selbstenthüllungen müssen sich stets auf die konkrete analytische Situation beziehen und sind nur soweit sinnvoll, als sie das gemeinsame Geschehen im Hier und Jetzt aufzuhellen bzw. abzuschliessen im Stande sind. Sonst wäre es ein unzulässiges Einbeziehen des Patienten in Welten, für die er nicht verantwortlich ist und/oder gemacht werden kann. Auch das „szenische Verstehen“,bei dem der Analytiker den Gesamtzusammenhang der aktuellen Situation einschließlich des Einbezugs seiner Person in der Beschreibung einer Szene zusammenfasst, in welcher seine Rolle und die Gefühle des Patienten einen sinnvollen Platz finden, kann als Deutung im obigen Sinne verstanden werden.

Die 4. Vorlesung: Neue Einsichten in die Frühentwicklung würdigt die lange Zeit in der Psychoanalyse ignorierte Bindungstheorie, die zwar schon früh von John Bolwby etabliert wurde, von der offiziellen Psychoanalyse aber lange ignoriert wurde, weil die Bindungstheorie stark auf beobachtbarem Verhalten aufbaute, schon im Kleinkind ein Bindungsinteresse und Desinteresse vermutet und den Trieben zu wenig Wichtigkeit einräumt. Das Interesse an der Bindungstheorie hat mittlerweile deutlich zugenommen und findet auch Umsetzung in der Behandlung, z.B. von Borderline-Patienten.

5. Vorlesung: Am Beginn des Dritten Jahrtausend. Inwieweit die Neurowissenschaften wirklich die Anfänge der Psychoanalyse auf eine neue Grundlage zu stellen in der Lage sind, kann noch lange nicht beantwortet werden. Aussagen über den Sitz des Freudschen Unbewussten im Gehirn vermischen zwanglos ganze Klassen von Kategorien, ohne sich darüber im Klaren zu sein. So wird für die Erklärung, warum Patienten mit einer sogenannten frühen Störung nicht zur Psychoanalyse fähig sind, angeführt: „Ihre Störung wurzelt im impliziten frühen Gedächtnis, wohin die Redekur mit dem Fokus auf der episodischen Übertragung nicht reicht.“ (Ermann,S.101) Hier findet statt, was früher der Psychoanalyse vorgeworfen wurde: eine Verdinglichung. Phänomene werden mit faktischem Verhalten gleichgesetzt. Das „implizite Gedächtnis“ ist eine Modellvorstellung über verschiedene Modi des Gedächtnisses, wohingegen „Redekur“ Klassifikation eines bobachtbaren Verhaltens ist. Ob in der Übertragung „episodische Inhalte“ oder anderes „übertragen“ (in welcher Bedeutung wird hier „übertragen“ gebraucht?) werden, ist wiederum stark interpretationsabhängig, hier würden Analytiker verschiedener Schulen sicher nicht bedenkenlos einig sein in der Klassifizierung ihres Tuns. Nur als Beispiel für die Begriffs- und Klassifikationsprobleme, wenn Psychoanalytiker sich „neurowissenschaftlich“ betätigen.

Ein anderer Ansatz, der sich als vielversprechend herausgestellt hat, ist die Mentalisierung. Hierunter wird verstanden, emotionale Zustände zur Sprache zu bringen, d.h. in einen anderen mentalen Zustand, der kommunizierbar und bearbeitbar wird. Für einen Borderline-Patienten hat der Therapeut in einer Situation die Seins-Qualität des Vaters, oder des unverständigen Kumpels, und wird als derjenige andere angemotzt, der Modus des Als-ob: „Sie kommen mir jetzt vor, wie…, der hat auch immer…“ wird bzw. wurde in der Biographie nicht erreicht und muss im Verlaufe der Therapie erst etabliert werden, was dann auch die Handlungsspielräume erweitert. Im Äquivalenzmodus ist der andere der bedrohlicheMeister, Vater, Kumpel und ihm wird eine Gegenreaktion unterstellt, die nicht abgewartet wird, sondern auf die reagiert wird, was zu Missverständnissen, Handgreiflichkeiten etc. führt. Verständnis für den anderen reicht nur soweit, wie man sich selber versteht und dies wird durch verständnisvolle Eltern vermittelt oder eben nicht.

In fünf Bereichen findet Ermann interessante Veränderungen, mit denen in den nächsten Jahren weiterhin zu rechnen sein wird:

  1. im Verständnis des Behandlungsprozesses,
  2. in der Behandlungsstrategie,
  3. in der Position des Analytikers,
  4. in der therapeutischen Haltung und
  5. in der Bedeutung der Vergangenheit.

Was aber unterscheidet da die Psychoanalyse z.B. von der Verhaltenstherapie, der großen Konkurrentin im Bereich der Psychotherapie? Auch dort finden Veränderungen statt, werden neue Theorien entwickelt und ihre Umsetzung erprobt. Zum Beispiel in der Schematherapie: ein historisierender Ansatz, der bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen davon ausgeht, dass in der Entwicklung bestimmte, definierte Grundbedürfnisse nur unzureichend abgedeckt werden und der Patient in den Symptomen erkennen lässt, was ihm fehlt. Eine Aufwertung der Bedeutung der Vergangenheit, wie wir sie von den Behavioristen so nicht erwartet hätten.

Die Herausforderung, die die Psychoanalyse gegenüber den anderen Therapieschulen immer noch erhebt, ist „ihre Methodik der Bezogenheit, Bezugnahme und Einfühlung. Indem sie auf diese Weise heute wie damals die inneren Zustände des Anderen erschließt, bietet sie eine Alternative zu moderner Unbezogenheit.“ (S.114/115) In keiner anderen Therapieschule findet man damals wie heute eine anteilnehmende Fürsorge an den individuell vor der Therapie „unbegriffenen Beziehungserfahrungen und Bindungszerstörungen“ (S.115) Die Patienten danken es.

Diskussion

Wissenschaftliche Ergebnisse müssen sich am Einzelfall bewähren, gewonnen werden sie aus der disziplinierten Auswertung der Fülle des Materials oder aus sorgfältig zielender Beobachtung. Eine Wissenschaft, zumal wenn sie sich immer noch so explizit auf ihren Gründer bezieht, muß neue Erfahrungen verarbeiten und ist den Zeitläuften unterwerfen. Ermann versucht immer auch, den Hintergrund der verschiedenen Entwicklungen und Erweiterungen aufzuführen, der sich dann in einer manchmal sehr abstrakt scheinenden Begrifflichkeit widerspiegelt, die nicht gleich erkennen lässt, dass es um unser aller Gefühls- und Beziehungswelten geht. Es wird auch erkennbar, vor welchem historischen Hintergrund sich diese Entwicklungen abspielen, sei es bei der Geschichte der Bindungsforschung (4. Vorlesung), den Spuren und Folgen der NS-Zeit(1. Vorlesung) oder den Intersubjektiven Ansätzen in Deutschland in der 3. Vorlesung.

Fazit

Ein Vademecum für Menschen, die aus vielfältigen Gründen am Fortgang der Psychoanalyse interessiert sind, sich einen Überblick über die großen Strömungen der jüngeren Zeit verschaffen möchten und schon so viel Vorwissen mitbringen, dass man sie nicht mehr vom Nutzen der Psychoanalyse überzeugen muss.

Rezension von
Dipl.-Psychol. Wolfgang Jergas
Jahrgang 1951, Psychologischer Psychotherapeut, bis 2006 auf einer offenen gerontopsychiatrischen Station, 2007-2015 Gedächtnissprechstunde in der Gerontopsychiatrischen Institutsambulanz der CHRISTOPHSBAD GmbH Fachkliniken
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Es gibt 39 Rezensionen von Wolfgang Jergas.

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ISSN 2190-9245