Ludger Mehring: ... Führung in der Sozialarbeit [...] aus systemtheoretischer Sicht
Rezensiert von Prof. Dr. Heiko Kleve, 07.12.2012
![Werk bestellen Cover Ludger Mehring: ... Führung in der Sozialarbeit [...] aus systemtheoretischer Sicht ISBN 978-3-8196-0844-5](/images/rezensionen/cover/14299.jpg)
Ludger Mehring: ... meine Mutter schneidet Speck und schneidet einen Finger weg .... Führung in der Sozialarbeit betrachtet aus systemtheoretischer Sicht mit ausgesuchten Fallstudien. Universitätsverlag Brockmeyer (Bochum) 2012. 394 Seiten. ISBN 978-3-8196-0844-5. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR.
Siehe auch Replik oder Kommentar am Ende der Rezension
Thema
Hinter dem metaphorischen Titel verbirgt sich eine umfangreiche Arbeit, die sich mit dem Zusammenhang von Führungsverhalten in sozialen Einrichtungen und den dort gängigen sozialpädagogischen Praktiken befasst. Der Autor bezieht sich mit seinem Titel auf ein altes Kinderreimspiel, das aus seiner Sicht Kindern und Jugendlichen Werte und Prinzipien vermittelte, „die wir aus der Pädagogik kennen, wie z.B. Selbstverantwortung und Verantwortung, [sic!] sowie Empathie und eine gewisse Form der Sensibilität gegenüber anderen Personen und ganz wichtig das Urvertrauen, dass die Mutter zwar mit dem Messer Speck schneiden wird, aber keinen Finger abschneiden wird, d.h. im übertragenen Sinn, sie ihrem Kind keine Schmerzen zufügen und damit wehtun wird“ (S. 7). Diese Werte sollten aus Sicht des Autors vor allem auch Führungskräfte der Sozialen Arbeit realisieren. Mehring versucht – vor allem anhand von Falldarstellungen und davon ausgehenden theoretischen Reflexionen – zu zeigen, dass die Nichtbeachtung dieser Prinzipien zu gravierenden Fehlentwicklungen und Problemen in der pädagogischen Arbeit führen kann, wofür nicht zuletzt die Leitungen die letztliche Verantwortung tragen würden. Die konzeptionelle Basis der Arbeit bildet eine so genannte personale Systemtheorie, für welche der Autor als Referenz insbesondere Gregory Bateson angibt.
Autor
Dr. phil. Ludger Mehring wurde 1956 in Bochum geboren und ist Diplom-Sozialarbeiter und Diplom-Pädagoge. Laut der Autorenbeschreibung auf der letzten Buchseite „arbeitet [er] als Coach und Personaltrainer, berät und begleitet viele Einrichtungen neben dem Bereich der Erwerbswirtschaft, besonders im sozialen und sozialpflegerischen Bereich u.a. in Führungskräfte-, Teams- [sic!] und Konfliktcoaching; er lebt in der freien Hansestadt Bremen“ (S. 394).
Aufbau und Inhalt
Es handelt sich um ein seitenstarkes Buch (392 S.), mit dem der Autor zwar einer zentralen These nachgeht, diese aber oft nicht direkt fokussiert, sondern zahlreiche Nebenstränge entwickelt. Um die zentrale Zielstellung des Buches deutlich zu machen, soll aus dem Vorwort zitiert werden, das Prof. Dr. Georg Hörmann von der Universität Bamberg verfasst hat. Hörmann formuliert, dass der Autor mit seinem Werk zwei Ebenen verfolgt, „um Missstände u.a. in Einrichtungen der intensiven Jugendhilfe für den Leser begreifbar zu machen: Zum einen beschreibt er auf der theoretischen Ebene die Rahmenbedingungen und institutionellen Strukturen für Missbräuche und Missstände im Umgang mit Bewohnern […]. Zum anderen lässt der Autor die verschiedensten betroffenen Gruppen, wie die jugendlichen Bewohner, ihre Angehörigen und die Mitarbeiter in einer umfangreichen und vielschichtigen Form zu Wort kommen“ (S. 5).
Das Buch ist in neun Kapitel gegliedert, deren Titel hier lediglich genannt werden sollen:
- So fing alles an
- Die Organisationskultur im sozialen Bereich
- Die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit theoretischen Grundlagen
- Grundlagen der Systemtheorie
- Systemtheorie in der Tradition von Gregory Bateson – personale Systemtheorie
- Traumatisierung statt Resozialisierung? – Die Situation der Jugendlichen
- Wahrnehmung der Situation
- Der „ultimative Machteingriff“ – weitere juristische Auseinandersetzungen
- Ausblick und weitere Perspektiven
Diskussion
Die aufgeführte Gliederung macht möglicherweise bereits deutlich, dass das Buch etwas unsystematisch wirkt und eine kohärente und nachvollziehbare Struktur vermissen lässt. Der Autor hat eine Vielzahl von Fallbeispielen zusammen getragen, die seine zentrale These veranschaulichen sollen, dass die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen tagtäglich in den Einrichtungen der Sozialen Arbeit passiert und dass dies grundsätzlich mit dem Führungsverhalten der dort leitenden Fachkräfte zusammen hängt. Diese Fallbeispiele werden mit unterschiedlichen theoretischen Fragmenten reflektiert, die teilweise ausführlich, oft aber auch nur oberflächlich vermittelt werden.
Die Intention des Autors ist begrüßenswert und mutig, konfrontiert er doch die vermeintlichen Retter von misshandelten Kindern und Jugendlichen, eben Professionelle der Sozialen Arbeit, mit ihrer Verantwortung sowie ihren eigenen Taten und Unterlassungen hinsichtlich der Verursachung oder der Fortführung von Kindesmisshandlung. Diese Konfrontation kann reinigende Selbstreflexionsprozesse und auch Veränderungen in den Strukturen sozialer Einrichtungen hervorrufen – vor allem dann, wenn dadurch eine öffentliche und insbesondere politische Debatte angeregt wird. Die jüngste Auseinandersetzung mit den erschreckenden Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen in ost- und westdeutschen Heimeinrichtungen und Internaten der 1950er, 60er, 70er und 80er Jahre hat dies gezeigt. Hier hat der Aufarbeitungsprozess jedoch gerade erst begonnen. Das Buch von Mehring kann ebenfalls in diesem Zusammenhang betrachtet werden.
Allerdings offenbart das Werk auch zahlreiche Schwachstellen, von denen einige hier zusammenfassend genannt werden sollen:
- Beim Lesen fallen die vielen Redundanzen negativ auf; so werden z.B. Fallbeispiele mehrfach in ähnlicher Weise wiedergegeben (siehe etwa S. 12ff.)
- Das Buch enthält nach meiner Einschätzung zu viele fragmentierte Themen, die nicht immer ganz klar in das Gesamtkonzept eingeordnet werden können. Wieso behandelt der Autor Themen, die im Grundstudium der Sozialen Arbeit als Basiswissen verhandelt werden, etwa die Arbeitsformen der Sozialen Arbeit (S. 124ff).
- Die empirische Methodik bleibt weitgehend unklar: Auf welcher Basis hat der Autor Fälle gesammelt und diese systematisch ausgewertet? Welches sind die Kriterien seiner Sammlung, Auswertung und Interpretation?
- Bezüge zu aktuellen Theoriediskursen der Sozialen Arbeit fehlen weitgehend. Wenn der Autor von Systemtheorie spricht, fokussiert er eine Theorie, die sich nicht auf der Basis aktueller Diskurse in diesem Kontext bezieht, sondern als so genannte personale Systemtheorie klassischen Konzepten von Gregory Bateson folgt. Aber auch diese Referenz scheint nur aus der Sekundärliteratur gewonnen zu sein. Denn Bateson taucht im knappen Literaturverzeichnis (S. 390-393) nicht auf. Auch das Reden von Sozialarbeitswissenschaft an einigen Stellen des Buches entbehrt passender Referenzen und scheint nicht eingebettet in die entsprechenden Fachdiskurse.
- Das Buch enthält zahlreiche Fehler. So werden beispielsweise Namen falsch angegeben etwa Peter Willke statt Helmut Willke oder Martin Bunge statt Mario Bunge. Da das Buch übersät ist mit derartigen oder ähnlichen Fehlern scheint die Korrektur nur äußerst oberflächlich realisiert worden zu sein. Dies ärgert Leserinnen und Leser.
Fazit
Ludger Mehring ist offenbar ein engagierter Autor, dem das Wohl der Kinder und Jugendlichen, die in sozialpädagogischen Einrichtungen betreut werden, sehr am Herzen liegt. Zudem ist er an einer innovativen Weiterentwicklung der pädagogischen Fachlichkeit und des Führungsverhaltens in Organisationen Sozialer Arbeit interessiert. Diese Intentionen sind nicht nur zu begrüßen, sondern nachhaltig zu unterstützen. Daher verdient sein Buch die Beachtung im Fachdiskurs. Die Lektüre des mit so vielen unterschiedlichen Themen gespickten Werkes ist jedoch nicht immer leicht, es fehlt die klare Linie und die systematische Struktur. Diesbezüglich hätte ich dem Autor und dem Verlag mehr Gründlichkeit bei der Überarbeitung und Korrektur gewünscht.
Rezension von
Prof. Dr. Heiko Kleve
Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft, Department für Management und Unternehmertum, Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU)
Website
Mailformular
Es gibt 21 Rezensionen von Heiko Kleve.