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Monica Budowski (Hrsg.): Delinquenz und Bestrafung

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Klug, 28.01.2013

Cover Monica Budowski (Hrsg.): Delinquenz und Bestrafung ISBN 978-3-03777-115-0

Monica Budowski (Hrsg.): Delinquenz und Bestrafung. Diskurse, Institutionen und Strukturen. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG (Zürich) 2012. 215 Seiten. ISBN 978-3-03777-115-0. 28,00 EUR. CH: 38,00 sFr.
Reihe: Differenzen.

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Thema

„Die beste Kriminalpolitik ist und bleibt eine gute Sozialpolitik – postulierte der renommierte Strafrechtler Franz von Liszt (1851 bis 1919) vor über hundert Jahren. Diese Forderung fand nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen europäischen Ländern grosse Resonanz und bestärkte die politischen Akteure in der Ansicht, dass sich Delinquenz nur auf der Basis einer sozialwissenschaftlichen Analyse und Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen sowie einer nachhaltigen Resozialisierung der TäterInnen vermindern liesse. Dieser Optimismus wird spätestens seit den 1990er-Jahren von individualistischen Kriminalitätstheorien bestritten, die den Menschen als rationalen Akteur konzipieren, der vornehmlich dann nicht delinquent wird, wenn ihm keine Gelegenheit dazu gegeben wird, und die Tat, gemessen an der möglichen Bestrafung, mehr Kosten als Nutzen verspricht. Entsprechend finden heute vor allem Stimmen Gehör, die nach US-amerikanischem Vorbild schärfere Strafen, mehr polizeilichen Schutz und Überwachung sowie mehr Kontrolle öffentlicher Räume fordern. Dieser Sammelband bietet einen Überblick über aktuelle sozialwissenschaftliche und strafrechtliche Aspekte des Zusammenhangs zwischen Delinquenz, Bestrafung, Sozialarbeit und Sozialpolitik. Ausgehend von Perspektiven auf spezifische Delinquenztypen werden die normativen Grundlagen der Bestrafung, der gesellschaftliche Umgang mit TäterInnen und Opfern sowie Chancen und Grenzen präventiver Massnahmen thematisiert.“ (Klappentext)

Herausgeber

  • Monica Budowski ist Soziologin und Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit der Universität Fribourg, Schweiz.
  • Michael Nollert ist Professor im Studienbereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit der Universität Fribourg, Schweiz.
  • Christopher Young ist Soziologe und doctoral research assistant im Studienbereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit der Universität Fribourg, Schweiz.

Inhalt

Der Herausgeberband umfasst insgesamt neun Beiträge unterschiedlicher Autoren und Themen.

Hans Vest beschäftigt sich mit dem Thema „Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Sein Blickwinkel ist das Völkerstrafrecht. Nach einer kurzen geschichtlichen Hinführung werden die zwei Verbrechenstypen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ausführlich definitorisch und strafrechtlich gewürdigt. Es folgen interessante (wenngleich etwas ernüchternde) Kapitel über „Rechtsdurchsetzung im Völkerstrafrecht“ und die Zukunft des Völkerstrafrechts.

Barbara Kavemann thematisiert „Gewalt im Geschlechterverhältnis“. Sie reflektiert aktuelle Forschungsergebnisse und Entwicklungen zum Thema häusliche Gewalt. Die Autorin beginnt mir Häufigkeitsanalysen von häuslicher Gewalt. Mit einer Typologie von Gloor/Meier (2003) werden häusliche Gewaltphänomene in „intimate terrorism“ (Gewalt als systematisches Kontrollverhalten) und „situational couple violence“ (Gewalt als situatives Konfliktverhalten) unterteilt. Es folgen weitere Typisierungsversuche. Eher praktische normative Beratungsgrundsätze (z. B. Ergebnisoffenheit) werden unter der Überschrift „Barrieren bei der Hilfesuche von Frauen“ bzw. „Barrieren bei der Hilfesuche von Kindern“ referiert, um mit einem Appell zu schießen, demzufolge sich Beratungsstellen dem neuen Beratungsbedarf stellen müssen.

Patrick Caduff und Monica Budowski schließen an mit dem Beitrag: „‚Scheininvalide‘? Zum Problem der Grenzziehung zwischen legitimen und ‚illegitimen‘ Krankheitsbildern“. In diesem Beitrag geht es um die „komplexen Effekte der Differenzierung von legitimen, zu Versicherungsleistungen berechtigenden Erkrankungen und Handicaps auf der einen und ‚illegitimen‘ Krankheitsbildern auf der anderen Seite“ (S. 62). Themenfelder sind: Simulantentum, Handicapologie, Krankheitsbegriffe, Medikalisierung. Exemplifiziert wird das Thema am Beispiel der Schweizer Invalidenversicherung (IV), des CFS – Chronic Fatigue Syndrom (Chronisches Erschöpfungssyndrom) und einem Betroffenen namens Georg, der gezwungen wird, sein CFS, das ihm nicht als Krankheit anerkannt wird, zu verschweigen und der Diagnose „Schizophrenie“ zuzustimmen, um die Verrentung zu erhalten. Fazit: „Die politische Absicht, falsch-positive Renten (oder ‚Scheininvalide‘) zu vermeiden, und das hierzu immer strenger ausgelegte Kriterium der ‚Objektivierbarkeit‘ eines Gebrechens erzeugen in der ärztlichen Praxis bei bestimmten Krankheitsbildern, die nicht oder noch nicht objektivierbar sind, einen Zwang zur bewusst falschen Begründung von IV-Anträgen“. (S. 75)

In seinem Beitrag „Soziale Ungleichheiten und Kriminalität: Kontroversen in der Forschung und Evidenzen aus der Schweiz thematisiert Michael Nollert ein klassisches Thema der Soziologie: die Frage, ob und wie Kriminalität durch soziale Ungleichheit begünstigt wird. Die sehr differenziert dargestellte und widersprüchliche Befundlage der soziologischen Forschung wird an Fragen des Zusammenhangs von sozialer Schichtung und Kriminalität sowie illegitimen Verteilungsprofilen und Delinquenzrate beleuchtet. Interessant ist die empirische Aufbereitung des Einflusses von Ungleichheit auf das Ausmaß der Delinquenz in der Schweiz. Auch hier sind die Zusammenhänge komplexer, als mancher es vermutet hat, so sind die Bevölkerungs- und Urbanisierungsdichte offensichtlich ebenso von Belang wie das Steueraufkommen und die Problembelastung. Fazit: Ungleichheit fördert dann Kriminalität, wenn sie Lebenschancen blockiert, relative Deprivation erzeugt und die Legitimität der Verteilungsmechanismen infrage stellt (S. 101).

In jeder Hinsicht bemerkenswert ist der Artikel von Georg Müller, den er überschreibt: „Corruption, Inequality, and Social Stratification: A Comparative Analysis of International Data“. In komplizierten theoretischen Herleitungen sowie quantitativen Berechnungen werden Zusammenhänge von Korruption und Einkommensungleichheiten thematisiert. Seinen Erhebungen zufolge profitieren zunächst natürlich die Reichen am meisten von Korruption. Andererseits: „It seems that the poor get unexpectedly high gains from corrupt environments, probably due to their familiarity with informal economic structures.“ (S. 123)

Über die „Opferhilfe in der Schweiz“ berichtet Anne Kersten. Sie beschreibt die Leistungen und die Inanspruchnahme des Schweizer Opferhilfegesetzes.

Ueli Hostettler („Exploring as a Goal of the Penal System: The Exploring Hidden Ordinariness: Ethnographic, Approaches to Life Behind Prison Walls“) stellt einen Ansatz ethnografischer Erforschung von Gefängnissen vor. Es werden diesbezüglich drei Wege aufgezeigt: „Prison tours“ (kurze Besuche von Forschern), „Staff Researcher“ („the person who carries out research as an employee“) und „Independent Researcher from the outside“. Während die erste Form keine ethnografische Forschung im engeren Sinn ist, kann im zweiten Fall die Doppelrolle als Beschäftigter und Forscher verstörend wirken. Der dritte Weg ist der interessanteste, entstehen hier doch vertrauliche Interviews mit Gefangenen, z. T. allerdings unter Bruch der Gefängnisregeln. Das Fazit ist allerdings nicht sehr ermutigend: „Ethnographic research in the prison is time-consuming, hard to get financed, difficult to carry out not least because of security issues, and often stressful to the researcher.“ (S. 164)

Roger Kirchhofer und Marina Richter berichten in ihrem Artikel „Resocialisation as a Goal of the Penal System: The Example of Education in Swiss Prisons“ über Ergebnisse eines Projektes, das die Auswirkungen von Ausbildungsprogrammen („Bildung im Strafvollzug“, 2007 – 2010) in Gefängnissen auf die Insassen und die Gefängnisse untersucht hat. Das Projekt geht von der These aus, dass Bildung resozialisierend und damit rückfallverhindernd wirkt. Hochindividualisierte Kurse werden angeboten, sowohl was die Dauer angeht als auch bezüglich der Lernsettings. Die Evaluation ergab einige wichtige Ergebnisse (z. B. nicht der Grad der Defizite ist für den Erfolg entscheidend, sondern die Motivation), aber ein letztlich doch bescheidenes Gesamtergebnis: „Even though the evaluation can presently not analyse the question of recidivism, there are some important aspects worth pointing out. We encountered aspects that are linked to the issue of recidivism, such as positive effects of education on prisoner's well-being or improvements in daily life in prison due to better language skills. Overall, we could not observe any negative effects.“ (S. 184)

Der letzte Artikel stammt von Christopher Young und ist überschrieben mit „Prevention in Criminal Justice and Welfare Rationalities“. Er beschäftigt sich mit zwei Theorien: der Theorie von Garland („culture of control“) und der von von Trotha („Ordnungsformen der Gewalt“). Beide Theorien reflektieren den Zusammenhang zwischen Kriminalpolitik und wohlfahrtsstaatlichem Regime. Young kommt zu dem Schluss, dass sich die in kapitalistischen Ländern zunehmend um sich greifende Kultur der Kontrolle und Überwachung auch in der Schweiz mehr und mehr ausbreitet.

Diskussion

Der Herausgeberband bietet einen bunten Strauß verschiedener Themen rund um das Rahmenthema „Delinquenz“. Bis auf den Beitrag von Caduff/Budowski, der nur sehr schwachen Bezug zum Rahmenthema aufweist, ist für alle Artikel der Untertitel „Diskurse, Institutionen und Strukturen“ um „Delinquenz und Bestrafung“ richtig gewählt. Allerdings ist die Spannweite der Themen der Artikel sehr groß: vom Völkerrecht bis in die Kapillaren des Gefängnisses, von der häuslichen Gewalt bis hin zu hochtheoretischen Untersuchungen des Verhältnisses von Kriminalität und Wohlfahrtsstaat, von abstrakt mathematischen Berechnungen bis zu praktischen Empfehlungen von Beraterverhalten – alle Diskurse lose zusammengehalten unter dem Obertitel „Delinquenz und Bestrafung“. Manche Beiträge sind aus spezifisch Schweizer Perspektive geschrieben, bisweilen sind sie für Nichtschweizer auch nicht sonderlich interessant (Schweizer Invalidenversicherung, Schweizer Opferschutzgesetz), aber (fast) alle sind auf einem hohen intellektuellen Niveau, das zur Auseinandersetzung einlädt.

Besonders dort wird das Buch spannend, wo es eigene empirische Untersuchungen vorlegt. Man wünscht sich, dass die ethnografischen Untersuchungsmethoden ausprobiert und evaluiert werden, dass die Bildungsprojekte im Gefängnis auf ihre Wirkung in Bezug auf Rückfallverhinderung überprüft werden, und dass die Soziologie-Theoretiker den Mut haben, auch derzeitige Mainstream-Diskurse (Garland) infrage zu stellen. Und das alles auf so hohem Niveau, wie sie es in verschiedenen Beiträgen begonnen haben. Einziger echter Wermutstropfen: Sozialarbeitsdiskurse finden nicht statt (entgegen der Ankündigung im Klappentext), die Mikroebene der Kriminalität wird nahezu ausgeblendet, die Soziologen dominieren eindeutig die Themenauswahl.

Fazit

Ein Buch mit Diskursen locker um das Thema „Delinquenz und Bestrafung“, das meist sehr lesens- und bedenkenswert ist, fast durchwegs aber Vorkenntnisse voraussetzt. Insofern keine Lektüre für „Anfänger“, eher eine, die in der Scientific Community besonders in soziologischen Kreisen einen guten Platz finden könnte.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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Es gibt 56 Rezensionen von Wolfgang Klug.

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ISSN 2190-9245