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Henning Schmidt-Semisch, Heino Stöver (Hrsg.): Saufen mit Sinn? Harm reduction beim Alkoholkonsum

Rezensiert von Prof. Dr. Gundula Barsch, 29.01.2013

Cover Henning Schmidt-Semisch, Heino Stöver (Hrsg.): Saufen mit Sinn? Harm reduction beim Alkoholkonsum ISBN 978-3-940087-82-9

Henning Schmidt-Semisch, Heino Stöver (Hrsg.): Saufen mit Sinn? Harm reduction beim Alkoholkonsum. Fachhochschulverlag (Frankfurt am Main) 2012. 282 Seiten. ISBN 978-3-940087-82-9. D: 19,00 EUR, A: 19,60 EUR.
Reihe: Fachhochschulverlag - Band 35.

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Thema und Entstehungshintergrund

Seit mehr als 30 Jahren dominiert in den Debatten zu Drogenthemen die Auseinandersetzung um illegalisierte psychoaktive Substanzen, insbesondere um die Frage, wodurch Drogenkonsumprobleme entstehen, worin genau unabhängig von ideologisch-moralischen Wertungen überhaupt eine Problematik gesehen werden muss, welche Möglichkeiten und Grenzen von Hilfe und Therapie bestehen und wie die gegebenen Limits überwunden werden können. In der Regel münden diese Debatten im Ruf nach Normalisierung, mit dem angemahnt wird, die regelmäßig bemühte Dramatisierung und Exotisierung des Drogenthemas zu überwinden und in eine sachgerechte, weniger ideologisch aufgeladene und damit unaufgeregte Auseinandersetzung zu überführen. Mit dem Titel „Saufen mit Sinn? Harm Reduction beim Alkoholkonsum“ wird nunmehr eine Publikation vorgelegt, die mit ihrem Titel bereits darauf verweist, dass die Ideen- und Denkansätze, die sich vor allem im illegalisierten Bereich entwickelt haben, nunmehr auf Themen übertragen werden sollen, die sich um den schon lange als Genussmittel und Kulturgut etablierten Alkoholkonsum ranken. Schon damit wird ein Achtungszeichen gesetzt, das ob seiner Sinnhaftigkeit und Passfähigkeit höchst skeptisch stimmt.

Aufbau und Inhalt

An dem Reader haben Forscher, Wissenschaftler, Politiker und Praktiker verschiedener Couleur mitgearbeitet, wobei das einzig Verbindende für alle die Rede von Alkohol ist. Ansonsten stellen die Autoren jeweils ganz unterschiedliche Zielgruppen, unterschiedliche Problematisierungsstränge und Hilfe- und Unterstützungsangebote vor. Im Grunde spalten sich vorgelegten Beiträge in zwei unterschiedliche Perspektiven:

  1. Auf der einen Seite finden sich Beiträge, die eher eine Normalbevölkerung in den Blick nehmen, deren Alkoholkonsum analysieren und Interventionen vorstellen, die in den Bereich der Suchtprävention hineinragen.
  2. Auf der anderen Seite stehen Beiträge, in deren Mittelpunkt eher Menschen stehen, die an der Entwicklung eines unproblematischen Alkoholkonsums zumindest phasenweise in ihrem Leben gescheitert sind und die in den abstinenzfixierten Angeboten der klassischen Alkoholkrankenhilfe keine passenden Hilfen finden.

Die Inhalte des Readers bewegen sich damit auf sehr unterschiedlichen Umlaufbahnen und nicht nur der Leser fragt sich irritiert, warum diese beiden sehr unterschiedlichen Alkoholwelten unter einen Hut gezwängt wurden.

Da sind zum einen die Beiträge von Stumpp/Rein und Sting, die an Hand umfangreicher empirischer Daten auf wohltuende Weise darstellen, dass die gegenwärtig populären Dramatisierungsstrategien bei der Deutung zumindest des jugendlichen Alkoholkonsums keine Grundlage haben. Im Gegenteil! Es kann von einem sehr kompetenten Hineinwachsen Jugendlicher in die heutige Alkoholkultur gesprochen werden, die aller Emanzipationsbestrebungen zum Trotz nach wie vor geschlechtsspezifisch geprägt ist und wie in allen Zeiten wichtige Funktionen bei der Inszenierung von Weiblichkeiten und Männlichkeiten hat (Hößelbarth, Seip und Stöver). Zudem kann die gegenwärtige suchtpräventive Praxis als wenig evidenzbasiertes und wissenschaftlich begründetes, dafür aber als ein höchst interessengeleitetes Handeln enttarnt werden, das berufsständisch motiviert an Leitideen festhält, die sich längst als revisionsbedürftig erwiesen haben (Greca). Diesen Aussagen zur Seite stehen Darstellungen von Angeboten, die die Bildungsaufgabe eines Hineinsozialisierens in die Alkoholkultur gezielt unterstützt wollen; sich folgerichtig paradigmatisch von den Leitideen der gegenwärtigen Suchtprävention unterscheiden und deshalb auch regelmäßig in das Kreuzfeuer der Kritik geraten. Dies betrifft nicht nur den Ansatz „Lieber schlau als blau“ von Lindenmeyer, sondern alle Projekte, die die Selbstbildung von Jungen (Sturzenhecker) und Mädchen (Ernst) assistieren oder einen Beitrag zu einem, auf die Situation bezogenen passfähigen Alkoholkonsum (Buning), auch bei Partys (Schroers, Männersdorfer) leisten. Vorgelegt wird mit diesem Teil der Buchbeiträge ein interessanter Fundus, der die Auseinandersetzungen um Suchtprävention, deren paternalistischen Ansätze und deren Rückgriff auf eine Bewahrungspädagogik bestens befeuert. Allerdings würde kaum ein Leser dieses Juwel hinter dem für den Reader gefundenen Titel vermuten.

Auf der anderen Seite stehen Beiträge, die der informierte Leser durch das Stichwort „Harm Reduction“ geradezu erwartet: Eine Diskussion dazu, wie Menschen zu helfen ist, die sich in schwerwiegende Alkoholprobleme verstricken und die mit abstinenzfixierten Angeboten nicht sachgerecht angesprochen werden können. In den Blick genommen werden nicht nur Extremgruppen, die ihren problematischen Alkoholkonsum im öffentlichen Raum zelebrieren (Leicht). Hinterfragt wird auch, ob für diese Gruppe der Problemtrinker die Einwilligung zur Abstinenz, die zur Zeit noch immer zur Voraussetzung für Hilfe und Unterstützung gemacht wird, ein Weg sein kann, um diese bisher Unerreichbaren niedrigschwellig mit Änderungs- und Ausstiegsangeboten zu kontaktieren ((Walther, Herring-Prestin und Köthner). Auch der noch immer heftig attackierte Ansatz, Problemtrinkern das Angebot zu offerieren, zu einem kontrollierten Trinken zurückzufinden, hat hier nicht nur als Mittel der Kontaktaufnahme seine Berechtigung, sondern als ein durchaus erfolgreiches Angebot, Menschen zu mehr Kontrolle über ihr Trinken zu verhelfen (Körkel). Etwas zwischen den Stühlen steht der Beitrag zum Thema starkes Trinken während der Schwangerschaft – ein Phänomen, dass sich in der Hauptsache in Gruppen der Normalbevölkerung finden lässt, die gerade nicht klar definiert werden können (Nagel, Epding, Siedentopf).

Eine mehr als erklärende Stellung in diesem Reader hat der Beitrag von Spode. Nicht nur, weil er mit historischen Belegen die Thematisierungskonjunkturen zum Alkoholtrinken zwischen gemäßigtem „Wet“ und dem unbeirrtem „Dry“ nachzeichnet und dabei nachvollziehbar werden lässt, in welcher Form seit dem Ende des 20. Jahrhunderts die Re-Asketisierung des Trinkens durchgesetzt wird. Fast scheint es wie eine Antwort auf die Irritationen, die durch die Gesamtanlage des Readers entstehen, stellt Spode zudem dar, auf welche Weise mit missionarischem Gestus zurzeit eine De-Normalisierung des Alkoholkonsums vorgenommen wird. Wie gegenwärtig bestens nachzuvollziehen, zielt diese Strategie auf die breite Masse der Konsumenten, die mit gesellschaftssanitären Argumenten „schleichend trocken gelegt werden soll.“ Passend dazu illustriert in dem vorgelegten Reader der Beitrag von Glaesike die moderne Art einer gesellschaftssanitäre Re-Thematisierung, in der Zusammenhänge so dargestellt werden, dass jeglicher Alkoholkonsum als anstößig und verwerflich erscheinen muss. Spätestens an dieser Stelle kann jeder Leser nachvollziehen, dass das von den Herausgebern gewählte Label „Harm Reduction“ und damit der auch international feststehende Begriff „Elendsminimierung“ für ein von tödlichen Gefahren umstellten illegalierten Drogenkonsum die Potenz hat, zu einem willkommenen Baustein in der Re-Asketisierungs- und De-Normalisierungskonjunktur zu werden.

Fazit

Mit seinen Beiträgen bürstet das vorgelegte Buch kräftig alles gegen den Strich, was gewöhnlich zum Thema Alkoholkrankenhilfe und Alkoholprävention gelesen werden kann. Es nötigt den Leser zu eigenständigem Denken und setzt jeden dem Risiko aus, sich von scheinbar unhinterfragbaren Denkmustern zum Thema Alkohol verabschieden zu müssen. Da es aber auch genügend Praxisbeispiele zur Stärkung eines erfolgreichen Risikomanagements enthält, kann es mit gutem Gewissen allen empfohlen werden, die ernsthaft darüber nachdenken, welche Rahmenbedingungen es braucht, damit sich in großer Breite eine Alkoholmündigkeit durchsetzt, mit der es gelingt, den Rahmen der Alkoholkultur so zu nutzen, dass immer wieder Zeit, Ort und Raum für einen sinnenfrohen Hedonismus möglich werden.

Rezension von
Prof. Dr. Gundula Barsch
Hochschule Merseburg
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Es gibt 23 Rezensionen von Gundula Barsch.

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Zitiervorschlag
Gundula Barsch. Rezension vom 29.01.2013 zu: Henning Schmidt-Semisch, Heino Stöver (Hrsg.): Saufen mit Sinn? Harm reduction beim Alkoholkonsum. Fachhochschulverlag (Frankfurt am Main) 2012. ISBN 978-3-940087-82-9. Reihe: Fachhochschulverlag - Band 35. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14310.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.


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