Melanie Hühn: Migration im Alter
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz, 02.05.2013

Melanie Hühn: Migration im Alter. Verlag Dr. Köster (Berlin) 2012. 300 Seiten. ISBN 978-3-89574-791-5. D: 24,80 EUR, A: 25,50 EUR.
„Wer zweimal nach Torrox kommt, der kehrt immer wieder hierher zurück“ (S. 35).
Thema
Es hat schon immer Pendelwanderungen auch von Menschen ohne ausländischen Hintergrund (wie z.B. Geschäftsleute, Studenten etc.) gegeben. Veränderte Lebensbedingungen haben aber neue Migrationsformen und Migrationstypen von besonderer Quantität wie Qualität entstehen lassen. Hierzu zählt insbesondere die Ruhesitzwanderung älterer Deutscher, die saisonal oder dauerhaft im sonnigen Süden (wie z.B. Italien, Spanien oder Türkei) verbringen. Klimatische Vorzüge, finanzielle Vorteile und soziale Freiräume machen den Mittelmeerraum für den deutschen Rentner immer attraktiver.
Demografischer Wandel, eine veränderte Wahrnehmung des Altersbildes und der zunehmende Wohlstand haben neue Alterns- und Sozialisationsräume zwischen Einwanderung und Transmigration entstehen lassen. Seit den 1990ern kam es besonders in Spanien zu einem rasanten Anstieg dieser Wanderungsbewegung (bedingt auch durch den EU-Beitritt Spaniens 1986 sowie der damit verbundenen Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit). Neueste Untersuchungen bestätigen gar eine Zahl zwischen 400.000 und 800.000 (!) deutschen Altersresidenten, die mehr als drei Monate in der Ersatzheimat Spanien leben.
Bis Ende der 1980er wurde die Internationale Ruhesitzwanderung von der Wissenschaft kaum wahrgenommen, die konkreten Auswirkungen auf Mikro-, Meso- und Makroebene nicht näher betrachtet. In den kommenden Jahren werden ältere Menschen die demografische Mehrheit Deutschlands bilden. Parallel dazu wird der Anteil der Menschen, die ihren Lebensabend ganz oder teilweise im Ausland verbringen, weiter zunehmen. Diese Entwicklung wird nicht nur auf Deutschland gravierende Auswirkungen haben, sondern auch für die Gastländer neue und große Herausforderungen mit sich bringen.
Autorin und Entstehungshintergrund
Dr. phil. Melanie Hühn wurde 1980 in Bad Langensalza geboren. Nach dem Abitur (1999) hat sie in Jena, Salamanca und Leipzig Politikwissenschaft, Philosophie und Interkulturelle Wirtschaftskommunikation studiert. Ihre Magisterarbeit hatte das politikwissenschaftliche Thema „Eine diskursanalytische Untersuchung zur Konstruktion der islamischen Frauenbewegung“ (2005). Bis 2008 führte sie ihr Promotionsstudium an der FSU Jena (Fachbereich Interkulturelle Wirtschaftskommunikation). Die hier vorliegende Dissertation hat sie als Stipendiatin der FAZIT-Stiftung und im Rahmen des Graduiertenkollegs „Transnationale Räume“ an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder ausgearbeitet (2008 bis 2012). Als Doktorandin war sie an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät derselbigen Hochschule auch in der Lehre tätig (so z.B. im SS 2010 für das Seminar „Wohlstandsmigration. Sonderfall und Massenphänomen“).
Publikationen:
- Hühn, Melanie (i. E.): Die Konstruktion des transkulturellen Raumes durch Altersmigration. In: Mitterbauer, Helge u. a. (Hrsg.): Moderne. Kulturwissenschaftliches Jahrbuch. Innsbruck/Wien/Bozen.
- Hühn, Melanie/Lerp, Dörte/Petzold, Knut/Stock, Miriam (2010): In neuen Dimensionen denken? Einführende Überlegungen zu Transkulturalität, Transnationalität, Transstaatlichkeit und Translokalität. In: Hühn, Melanie/Lerp, Dörte/Petzold, Knut/Stock, Miriam (Hrsg.): Transkulturalität, Transnationalität, Transstaatlichkeit, Translokalität. Theoretische und empirische Begriffsbestimmungen. Münster u. a. (S. 11-46).
- Hühn, Melanie (2010): Die internationale Ruhesitzwanderung – ein transkulturelles Phänomen? In: Hühn, Melanie/Lerp, Dörte/Petzold, Knut/Stock, Miriam (Hrsg.): Transkulturalität, Transnationalität, Transstaatlichkeit, Translokalität. Theoretische und empirische Begriffsbestimmungen. Münster u. a. (S. 191-215).
Die Idee für die vorliegende Arbeit entstand während und nach einem journalistischen Praktikum im spanischen Marbella. Nach einem einjährigen Studienaufenthalt in Salamanca 2004 war sie wieder nach Spanien gekommen, um drei Monate lang für die „Costa del Sol Nachrichten“ (eine deutschsprachige Zeitung für Senioren, die in der Region vorübergehend oder dauerhaft leben) zu schreiben. Dabei stellte sich die damalige Praktikantin die ersten Fragen zu den Hintergründen der Altersmobilität der Rentner und den Lebensbedingungen in der Fremde. Zwei Jahre nach ihrem Praktikum untersuchte sie die Thematik „Alter(n) und deutsch-spanische Ruhesitzwanderung“ im Rahmen eines Dissertationsprojekts. Hierbei konzentrierte sie sich auf die andalusische Gemeinde Torrox.
Aufbau und Inhalt
Die Arbeit besteht aus insgesamt sechs Kapiteln:
Im ersten Kapitel „Beschreibungen“ (S. 15-43)wird in das Forschungsfeld eingeführt. Die Autorin richtet ihre Aufmerksamkeit auf die exemplarische Kleinstadt Torrox an der Costa del Sol. Die andalusische Gemeinde gilt als die größte deutsche „Kolonie“ im Ausland und erweist sich aufgrund ihrer multinationalen und räumlichen Struktur für empirische Feldforschungen als besonders gut geeignet. Der kleine Küstenort liegt 50 km östlich von Malaga und 160 km westlich von Almeria. Von 18.691 Einwohnern (Stand: März 2011) sind 7.811 anderer Nationalität. Offiziell leben 2.871 Deutsche in der Kommune als gemeldete, dauerhafte Einwanderer (2.289 Deutsche älter als 54 Jahre, nur 582 jünger). Doch neuere Schätzungen gehen von mehr als 10.000 Deutschen aus, die sich sechs oder mehr Monate im Jahr in Torrox aufhalten (6.500 deutsche Immobilieneigentümer bestätigen diese Zahl). 300 Sonnentage schaffen nämlich angenehme Überwinterungsbedingungen zwischen September und Mai. Am bestehenden deutschsprachigen Netzwerk (zu dem ein eigener Radiosender, Printmedien und Online-Ressourcen gehören), das sich in den letzten Jahren gebildet hat, profitieren nicht nur ehemalige spanische Gastarbeiter, sondern auch Schweizer, Österreicher, Holländer und Dänen.
Die 50 km 2 große Gemeinde ist in vier Teile untergliedert: Torrox Pueblo (historischer Dorfkern), Torrox Costa (Küstenstreifen), Torrox Park (neuer Ortsteil) und Torrox Campo (weitere Bebauungsgebiete). Es sind in den letzten Jahren Urbanisationen entstanden, wie Centro Internacional, Pueblo Andaluz, Costa del Oro und Laguna Beach. Torrox Pueblo und Torrox Costa werden durch die Mittelmeerautobahn getrennt. Während man in Torrox Pueblo noch das alte Dorfbild vorfindet, zeichnen moderne Hochhäuserblocks, Strandpromenade, Gaststätten und Geschäften Torrox Costa aus. Hier leben auch die meisten deutschen Einwohner.
Torrox Costa ist aber ein Ort mit zwei Gesichtern: im Sommer ein normaler Ferienort mit gemischtem Touristenpublikum, zwischen September und Mai ein deutsches Rentnerparadies. In den Printmedien (Zeit, Stern), aber auch im Fernsehen (Vox) wurde Torrox Costa bereits mehrmals thematisiert, aber auch problematisiert.
Im 2. Kapitel „Gegenstand: Die internationale Ruhesitzwanderung“ (S. 45-83) werden die Forschungsinteressen gesetzt, der Forschungsstand und die Forschungsdefizite zum Thema „Ruhesitzwanderung“ aufgezeigt. Nach kritischer Durchsicht der bisherigen qualitativen und quantitativen Studien konstatiert Hühn, dass ein Großteil der transnationalen Migrationsbewegungen von älteren Menschen nicht statistisch erfasst wird. Hierzu fehlten repräsentative Studien. Bisherige Arbeiten haben vor allem britische Senioren fokussiert. Dennoch gibt es einige Feldstudien, die mit teilnehmender Beobachtung und Interviews erste Einblicke in die Lebenswelt älterer Migranten geben. Während die Alltags- und Identitätsfragen berührt wurden, wurden sozialpolitische, soziokulturelle Fragen kaum erfasst. Provisorische Migrationsphänomene sind auch heute noch ein „Stiefkind“ der europäischen Migrationsforschung.
Hühn schließt an das Transnationalitätskonzept multilokaler Lebensräume an, das seit den 1990er Jahren immer mehr Beachtung findet. Hühn geht einen Schritt weiter, indem sie den Transnationalitätsbegriff erweitert. Der spätmoderne Migrationstypus muss ihrer Meinung nach um Fragen der Identitäts- und Kommunikationsforschung, der Kulturtheorie und -soziologie sowie der Kulturanthropologie erweitert werden. Ihr geht es primär um das Problem, das stereotype Bild von der paradoxen Zwischenwelt der Transmigranten zu lösen. Sie befürwortet ein ressourcenorientiertes Konzept, das die räumlichen und kulturellen Leistungen der mobilen Alten in den Mittelpunkt stellt.
Kapitel 3 „Methodik“ (S. 85-119) präzisiert und erläutert die Forschungsfrage, den Forschungsansatz sowie das methodische Vorgehen der Datenerhebung und -auswertung. Melanie Hühn hinterfragt die Ursachen und Folgen von internationaler Seniorenmobilität. Anhand von teilstrukturierten Interviews und Beobachtungen der deutschen Rentner vor Ort untersucht die Autorin, wie kollektive Identitäten über Grenzen hinweg (re-)konstruiert werden und welche kulturellen Muster und Strategien der neuen Lebenswelt zugrunde liegen.
Sie möchte einen theoretischen Ansatz generieren, der am Beispiel der Ruhesitzwanderung die Lebenswelt und Kultur kollektiv Wandernder beschreiben kann. Die zentralen Forschungsfragen lauten daher:
- Welche kollektiven Identitätsmuster prägen die mobilen deutschen Ruhesitzwanderer aus?
- Warum kollektivieren sie sich so stark?
- Welche Art von Kultur entsteht durch die neuen Identitätsmuster?
Die Zusammenhänge von Migration, Alter und Identität sollen dabei auf mikrosozialer Ebene qualitativ erforscht werden. Als Basis dient ein qualitatives-exploratives Forschungsdesign im Sinne der Grounded Theory nach Glaser/Strauss. Die induktive, gegenstandsbezogene Theoriebildung orientiert sich an Fallbeispielen.
Hühn versteht ihre Arbeit explizit als Exploration: „Abschließend gilt es festzuhalten, dass die Datenauswahl für qualitative Untersuchungen nicht auf Repräsentativität abzielt, sondern explorativ die Sinnstruktur von sozialen Sachverhalten im Sinne einer Repräsentanz erkundet. Ganz allgemein geht es der Grounded Theory um das wissenschaftliche Verstehen von Alltagspraxen. Das Verstehen ist die Grundlage der Interpretation der verschiedenen Fälle, die beim kontrastierenden Fallvergleich die zentralen, fallübergreifenden Themen sichtbar machen“ (S. 100 ff).
Hier zeigt sich der besondere theoretische Bezugsrahmen, in dem eine Synchronisierung von Informationserhebung und -auswertung im Sinne eines hermeneutischen Zirkels angelegt ist. Die Analyse der Daten basiert auf Theorien der Kulturanthropologie, -philosophie und -geografie sowie Soziologie. Als Forschungsdesign wurde ein interdisziplinärer Rahmen geistes- und sozialwissenschaftlicher Kultur- und Migrationsforschung gewählt. Den Kern bilden aber Kulturanthropologie bzw. Ethnologie.
Für die Analyse wird ein triangulierter Datenkorpus herangezogen. Hierzu gehören Feldnotizen (teilnehmende Beobachtung), Artikel in Printmedien über Torrox in Deutschland und Spanien, Studien über Torrox, Fotos von Torrox, fünf Experteninterviews, 24 Assoziogramme von Rentnern und v. a. 24 offene, leitfadengestützte Interviews mit deutschen Ruhesitzwanderern.
Während ihres ersten Feldforschungsaufenthalts in Torrox (September/Oktober 2006) sammelte sie konkrete vortheoretische Ideen für das Promotionsvorhaben. Hierbei führte sie erste teilnehmende Beobachtungen durch, um Forschungsfragen zu präzisieren sowie Hypothesen und Kategorien für die Datenerhebung zu bilden. Dadurch wurde dem Forschungsprojekt auch die notwendige thematische Richtung gegeben. Als explizite Forscherin realisierte Hühn weitere Aufenthalte in Torrox, um Interviews mit deutschen Ruhesitzwanderern und Experteninterviews (mit besonders für die Senioren Arbeitenden) zu führen sowie relevantes Datenmaterial (wie z.B. Zeitungsartikel, Fotos, Werbeflyer, Postkarten) zu sammeln.
Besonders interessant und wichtig ist das Zwischenstück, in dem Hühn die rekonstruierten Feldtagebucheinträge aufzeigt. Unter Einbezug der auf Beobachtung und Gesprächen basierenden Feldtagebücher und der darauf aufbauenden Memos konnte eine „typische“ Woche (Montag bis Sonntag) mit deutschen Ruhesitzwanderern in Torrox rekonstruiert werden. Ziel dieser Visualisierung: den Leser in das Feld zu sozialisieren und die theoretischen Bezüge zu erklären. In den Themen zeigt sich die extrahierte Lebenswelt der Ruhesitzwanderer.
Kapitel 4 „Theorien“ (S. 121-165) nutzt Hühn, um im Anschluss an die Feldforschung die damit verknüpften theoretischen Grundlagen darzulegen. An ihre Forschungsintention anknüpfend geht Hühn in diesem Kapitel auf die geläufigen Annahmen zu Kultur- und Identitätsphänomenen sowie Lebenswelt und Migration näher ein.
Im ersten Teil „Kultur und Identität“ versucht sie eine Definition des Begriffes „Kultur“. Sie macht deutlich, dass der abstrakte Begriff nur in Verbindung mit einem zu untersuchenden Phänomen geklärt werden kann: jenseits von Gesetzen und Logiken, im Zusammenhang von Selbstverortung und kollektiver Organisation, Individualisierung und Sozialisation. Wie finden diese Prozesse aber statt? Darauf geht sie in den Folgeabschnitten „Standardisierung und Kollektiv“, „Transkulturalität – Theorie, Praxis, Perspektive und Phänomen“, „Transnationale Kulturanthropologie“, „Über die Konstruktion kollektiver Identitäten“, „Sterotype: Das Eigene, das Andere und das Fremde“ und „Kosmopoliten, Vagabunden und Touristen“ ein.
Im zweiten Teil „Lebenswelt und Wanderung“ beweist sie am Spannungsverhältnis von Lebenswelt und Wanderung, dass Kultur und Identität aufgrund zunehmender Mobilität nicht rein lokal-räumlich gebunden sind. Die Migration von Menschen, Ideen und Dingen erzeugen eine Vielfalt, die der Identitätsverortung in einer als Entität gedachten Kultur entgegensteht. Darauf geht sie in den Passagen „Die soziale Konstruktion von Wirklichkeit“, „Der unhinterfragte Sinnhorizont“, „Die multilokale Lebenswelt“, „Eine Welt in Stücken“ und „Akkulturation und Assimilation“ näher ein.
Diese beiden thematischen Schwerpunkte zusammenführend macht sie folgende Feststellungen: „Der geteilte Sinnhorizont und unhinterfragte Boden der Weltanschauung der Lebenswelt produziert Kultur, da Standardisierungen und Kollektivierungen aus der Lebenswelt hervorgehen. Diese Standardisierungen und Kollektivierungen sind wiederum Voraussetzungen für die Konstruktion von Gruppenidentitäten, die durch mehr oder weniger starke Abgrenzung nach außen und Zugehörigkeit nach innen funktionieren. Kultur und Identität sind Teil der objektivierten Wirklichkeit und damit für den Einzelnen authentisch“ (S. 164).
Sie konstatiert, dass das Subjekt als Teil von kollektiven Strukturen, die seine Alltags- und Lebenswelt strukturieren, in eine Identitätskrise geraten kann, sobald es aus ebendiesen Systemen hinaustritt. Gleichzeitig hat das Subjekt aber die Fähigkeit, sich in andere Lebenswelten einzusozialisieren, wenn ähnlich gelagerte Menschen involviert sind. Sie spricht hier von einer nicht-statischen, mehrdimensionalen, nomadischen Identität: „Der gemeinsame Sinnhorizont in einer Lebenswelt, der gemeinsames Handeln ermöglicht, kann demnach nicht strikt abgegrenzt werden und wird immer wieder auf eine neue Art und Weise hergestellt“ (S. 164). Sie möchte diese Prozesse am Beispiel der deutschen Ruhesitzwanderer in Torrox aufzeigen.
Im fünften Kapitel „Analyse: Identitätsmuster“ (S. 167-247)werden die theoretischen Ideen und Modelle der themenbezogenen Kultur-, Identitäts- und Migrationsforschung reflektierend analysiert.
Die Dokumentation und Analyse der qualitativen Forschungsergebnisse zeigt, dass die Ruhesitzwanderer keine klassischen Einwanderer sind, die einmalig migrieren. Sie wandern vielmehr zwischen mehreren Staaten und Kulturen. Maßgebend ist hier also eine multilokale Lebensweise, denn verschiedene Orte bieten spezifische Vorteile. Sie suchen nach dem individuellen Optimum, um die Defizite der Orte auszugleichen. Klimatische Gründe, Gesundheitsfragen, Freizeitmöglichkeiten, soziale Beziehungen und das Streben nach einem bestimmten Lebensstil gehören zu den primären Wanderungsmotivationen. Gerade die Umkehrbarkeit der Wanderung erhöht dabei die Qualität der beiden Orte.
Die Senioren schaffen sich in Spanien einen selbstbestimmten und unverbindlichen Freiraum für Freizeitaktivitäten, während Deutschland für den verpflichtenden Raum der Familie und Vergangenheit steht. Deutschland wird nicht aufgegeben, da der Bruch und die damit verbundenen Kosten zu hoch wären (z.B. ein Verlust der Lebensmuster und Sozialrollen). Das aktive, unabhängige Leben in Spanien steht nicht im Widerspruch zu dem Leben in Deutschland, es wird zu einem ergänzenden Element jenseits von Identitätskonflikten.
Sicherheit finden die Rentner innerhalb der deutschsprachigen Community. Während die starke Kollektivität auf der einen Seite Freiheit und Unabhängigkeit minimiert, bietet sie auf der anderen Seite soziale Mechanismen gegen Einsamkeit. Zahlreiche Aktivitätsangebote gewährleisten ein erfolgreiches Altern. Die Strategie der Kollektivierung reduziert die psychosozialen Kosten, die durch den multilokalen Lebensstil entstehen. Die deutsche Sprache dient hierbei als Fundament der Lebensweltkonstruktion. Entfremdung und Entwurzelung können erst gar nicht entstehen. Die gemeinsame Sprache schafft Kontinuität und damit auch Sicherheit. Sie bildet die Eintrittskarte in die kollektive Identität.
Interessant ist hierbei der Vergleich von deutschen Ruhesitzwanderern mit „Zugvögeln“: Auch sie ziehen in gewohnten Bahnen, haben zwei Heimaten, befinden sich in kollektiven Strukturen und sind insbesondere durch klimatische Bedingungen motiviert. Hühn evaluiert anhand der Zugehörigkeitsgefühle und Bindungen, der kommunikativen Fähigkeiten und Gewohnheiten sowie Aufenthaltsmuster drei Identitätstypen, die jenseits von Einwanderung und Tourismus stehen: die Pioniere, die Snowbirds und die Rastlosen, wobei die Mehrheit der untersuchten Senioren dem Typus „Snowbirds“ angehört. Es zeigt sich, dass die meisten Senioren keine klassischen Migranten sind, sondern multilokale Akteure/Transmigranten, die sich zwischen Deutschland und Spanien bewegen. Da sie hauptsächlich in den Wintermonaten bleiben, ist nicht die spanische Aufnahmegesellschaft maßgebend, sondern vielmehr die deutsche Community. Durch die Netzwerke der Community wird auch ein Stück deutscher Heimat nach Spanien transferiert. Gleichzeitig übernehmen sie auch spanische Anteile, sodass eine transkulturelle Lebenswelt jenseits von Dazwischen- und Zerrissensein entsteht. Das bilokale Leben in der Altensubkultur wird als Bereicherung gesehen.
Bei ihrer Analyse der transkulturellen Lebenswelt erkennt Hühn, dass die kollektive Identitätskonstruktion der deutschen Ruhesitzwanderer nach bestimmten Mechanismen abläuft: „Die Senioren verzichten nicht auf die Standardisierungen bzw. Gewohnheiten, die vorteilig für sie sind oder sich nur schwer ablegen lassen. Gleichzeitig eignen sie sich nichts Neues an, das nur schwierig oder mit großem Aufwand an die bereits etablierte Identitätskonstruktion angepasst werden kann“ (259 ff). Die dabei entstehende Kultur der Ruhesitzwanderer bezeichnet sie als „Annehmlichkeitskultur“.
Abgeschlossen wird mit Kapitel 6 (S. 249-253), in dem sie auf ebendiese „Perspektive: Die Annehmlichkeitskultur“ näher eingeht. Hierbei wird mit der thesenartigen Abstraktion der Forschungsergebnisse die neue Kultur der Ruhesitzwanderung beschrieben.
Das Leitbild des erfolgreichen Alterns gehört zum Lebensstil der deutschen Senioren. Fundamental ist hierfür die Annehmlichkeitskultur. Die Identität der deutschen Ruhesitzwanderer basiert im Sinne der transkulturellen Ausrichtung nicht auf der nationalen Zugehörigkeit, sondern allein auf der gemeinsamen Sprache und den Lebensstilen, die transferiert und transformiert werden.
Die Theorie der Annehmlichkeitskultur resultiert aus der lebensweltlichen Analyse. Hühn beschreibt diese anhand folgender Kategorien:
- Annehmlichkeit als primäres Handlungsziel: Die deutschen Ruhesitzwanderer möchten im Alter ein angenehmes und erfülltes Leben führen. Migration wird damit zu einem Vorteilsdrang, zu einer selektiven Anpassung. Hühn Beschriebt dies folgendermaßen: „Nach Annehmlichkeiten zu handeln heißt, sein Leben dem Amüsement zu widmen, Probleme aus der Lebenswelt auszublenden, seinen privilegierten Status auszunutzen und Rechtfertigungsstrategien aufzubauen, die dieses Handeln plausibilisieren“ (S. 250 ff).
- Überschuss an Wohlstand und Möglichkeiten:Maßgebend für die Annehmlichkeitskultur ist das Vorhandensein von Ressourcen. Als Wohlstandsmigranten sind die Ruhesitzwanderer auf der Suche nach mehr Lebensqualität, Sozialleben oder wärmerem Klima. Zeitliche und finanzielle Ressourcen garantieren die Zugehörigkeit zu besonderen Kollektiven und exquisiten Lebensstilen.
- Wanderung und Verortung: Die Annehmlichkeitskultur geht mit Wanderung und Verortung einher. Allerdings darf Verortung nicht als Identifikation und noch weniger als Integration missverstanden werden. Gerade die Nicht-Integration schafft Freiheiten für Annehmlichkeiten.
- Entgegen dem Geworfensein – Der Ort als freie Entscheidung: Die Fremde gibt den Wanderern die Freiheit. Die Wanderung löst bestehende Rollen und Zugehörigkeiten auf (sei es auch nur zeitweise) und eröffnet neue Handlungs- und Entwicklungsperspektiven.
- Verwirklichung durch Brüche und Machtasymmetrien: Die Annehmlichkeitskultur bedeutet nicht nur Entfaltungsmöglichkeiten, sondern auch Zwänge und Irritationen. Vor allem für die Einheimischen. Diese müssen sich anpassen und dem finanziellen Tenor beugen. Ganze Ortschaften und Landschaften verändern sich. Zersiedelung und Umweltzerstörungen sind einige Beispiele.
Zielgruppen
Das detaillierte, aber dennoch transparent geschriebene Buch richtet sich an SoziologInnen, ErziehungswissenschaftlerInnen, EthnologInnen und SozialpädagogInnen insbesondere aus dem Bereich der altenspezifischen Migrationsforschung. Sowohl DozentInnen als auch StudentInnen werden darin wichtige Anregungen für ihre Arbeit in der Theorie, aber auch Praxis finden. Aber auch das nichtwissenschaftliche Publikum (hier seien vor allem reisewillige Rentner genannt!) wird hier wichtige Informationen und Anregungen zum Thema „Alter und Mobilität“ finden.
Diskussion
Torrox bietet heute für viele Menschen ein neues Zuhause. Die enormen wirtschaftlichen, infrastrukturellen, sozialen und vor allen Dingen kulturellen Auswirkungen sind kaum zu übersehen. Hühn spricht zu Recht von einer „Aneignung des Ortes durch die Deutschen“ (S. 36). Es ist die Rede von „Rentnerghetto“ und „Deutschenkolonie bzw. -enklave“. Der nicht immer sensibel verlaufende Transfer eigener Gewohnheiten und Eigenschaften in ein anderes Land ruft Erinnerungen an die aggressive Expansionspolitik des deutschen Reiches im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wach. Die dominierende Präsenz der älteren europäischen Ausländer hat in Spanien zu Konflikten um Macht und Raum geführt. Gleichzeitig entstehen aber neue, grenzenfreie Sozialbeziehungen, die der europäischen Idee gerecht werden.
Torrox ist ambivalent: abstoßend und anziehend zugleich. Und Melanie Hühn stellt den Ort mit all seinen unterschiedlichen Ortsteilen, räumlichen und kulturellen Brüchen ohne Schönfärberei dar. Der Autorin gelingt es, das vorherrschende Klischee über die Unausweichlichkeit von Alter und Morbidität, die Unvereinbarkeit von Alter und Mobilität abzuschwächen. Sie beweist auch, dass sich Alter und Aktivität gerade unter den postmodernen Bedingungen der heutigen Globalisierung und Technisierung gegenseitig bedingen. Alter ist heute nicht mehr zwangsläufig mit Schwächen und Gebrechen verbunden. Es stellt kein unausweichliches Risiko mehr dar.
Die interessante Arbeit schließt auf dem Gebiet der Alten- und Migrationsforschung große Lücken und ist auch aufgrund des demografischen Wandels und der zunehmenden Verlagerung der Lebenswelt ins Ausland als ein besonders wichtiger Leitfaden für privat Betroffene und auch politisch Verantwortliche zu bewerten. Das Insiderwissen eröffnet die verborgene Lebenswelt der deutschen Ruhesitzwanderer.
Fazit
Obwohl immer mehr Rentner aus Deutschland ein Rentnerdasein im Süden bevorzugen, wissen wir viel zu wenig über das deutsche Phänomen „Altern und Mobilität“. Im Hinblick auf ältere türkische Pendelmigranten gibt es bereits einige Forschungen (siehe hierzu auch die Rezension).
Gerade ä1tere Menschen sind zu Vorreitern postmoderner Globalisierungsprozesse und Transmigrationskulturen geworden. Sie beweisen mit ihren Lebensstrategien, dass ein Leben im Ausland weder mit kultureller Selbstaufgabe, noch mit kolonialer Kulturherrschaft einhergehen muss. Wir können viel von ihnen lernen. Bleibt also zu hoffen, dass weitere wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema folgen.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz
Migrationsforscher.
Freiberufliche Tätigkeit in der Migrationssozialberatung und Ganzheitlichen Nachhilfe
Es gibt 18 Rezensionen von Yalcin Yildiz.