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Wolfgang Welsch: Homo mundanus

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 21.12.2012

Cover Wolfgang Welsch: Homo mundanus ISBN 978-3-942393-41-6

Wolfgang Welsch: Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2012. 1004 Seiten. ISBN 978-3-942393-41-6. D: 78,00 EUR, A: 80,20 EUR.

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Maß oder Disparität?

Geist hat sich evolutionär entwickelt und kann nicht als das Alleinstellungsmerkmal des Humanum angesehen werden; dieser revolutionäre Perspektivenwechsel im philosophischen Denken hat Konsequenzen – etwa die, dass es zu hinterfragen gilt, ob es wirklich stimmt, dass menschliches Denken und Tun auf „einer grundsätzlichen Andersheit der menschlichen Seinsweise gegenüber allem Weltlichen“ beruht, Menschen also alles nur nach menschlichem Maß erfahren, erkennen und bestimmen können. Bei der Kritik am „anthropischen Denken“ sind wir darauf angewiesen, die menschliche Existenz im Diesseits einzumessen und zu begreifen: „Wir sind von dieser Welt“. Der Mensch „ist grundlegend nicht ein weltfremdes, sondern ein welthaftes Wesen“.

Diese Auffassung vertritt der Jenenser Philosoph Wolfgang Welsch. Er gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Theoretiker der Postmoderne. Welsch bricht mit der anthropologischen Auffassung, dass nur dem Menschen Rationalität eigen sei (vgl. dazu auch: Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13512.php) und geht davon aus, dass der Mensch nicht „homo humanus, sondern homo mundanus ist“, ein „Welt“-Mensch also, weil alles Lebende auf der Erde Evolution ist.

Aufbau und Inhalt

Die Denkarbeit des Autors umfasst ein gehörig Maß an qualitativer und quantitativer Anstrengung. Der Weg, auf dem er sich macht, um seine These von der „Welthaftigkeit“ des Menschen zu begründen, ist gewunden; und die vorgegebenen Hinweisschilder zeigen dabei nicht selten in scheinbar gerade, „gängige“ Richtungen. Aber Wege sind eben dazu da, dass man sie geht, Schritt für Schritt, ob bei Regen oder Sonnenschein, bei Sturm oder Windstille. Denn philosophisches Denken ist kein Biertischgetöse, sondern bedachtsames Vorangehen hin zu den Alltäglichkeiten und Geheimnissen,. Gemeinheiten und Gemeinsamkeiten des Lebens auf der Erde. Da ist es erlaubt, nach der Sinnhaftigkeit des Humanen zu fragen, und zwar nicht vom Anthropo-Podest aus, sondern von der (neuen) Erkenntnis, „dass der wahre Begriff des Menschen ein anderer ist… (nämlich)… den Menschen … nur aus und in den Prozessen der Welt zureichend verstehen“ zu können.

Der Autor gliedert sein umfangreiches Werk in fünf Teile. Im ersten zeichnet er „Historische Konturen der Problematik“ nach; im zweiten wird „Die Tiefenstruktur der modernen Konstellation: Die Opposition zwischen Mensch und Welt“ thematisiert; im dritten geht es um „Indizien einer grundlegenden Verbundenheit mit der Welt“; im vierten diskutiert Welsch „Mensch und Welt im Licht der Evolution“, und im fünften und letzten Teil setzt er sich mit „Ontologie und Epistemologie“ auseinander.

Weil ein so radikal vollzogener Paradigmenwechsel beim anthropologischen Denken und Philosophieren nicht ohne epistemologische Anstrengung auskommt, liegen den Reflexionen immer auch Reproduktion von Vorhandenem, Gewordenem, Gewohntem und Etabliertem zugrunde, wie ebenso (aber das ist wissenschaftlich „normal“) Rekonstruiertem (vgl. dazu auch: Arno Bammé, Homo occidentalis. Von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt ; Zäsuren abendländischer Epistemologie, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14403.php).

Im folgenden werden einige ausgewählte Aspekte dazu diskutiert: Die historische Nachschau darüber, wie sich Betrachtungen von Mensch und (seiner Um-)Welt etabliert und verändert haben, und zwar von der Antike bis zur Gegenwart, macht deutlich, dass die beiden wesentlichen Grundpositionen -- "Die eine besagt, dass wir Menschen weltverbundene Wesen, dass wir nach dem Maß der Welt gemacht, dass wir Weltwesen sind. Die andere behauptet, dass wir keineswegs weltentsprechend, sondern … genuine Weltfremdlinge sind“ – bestimmend für das jeweilige Weltbild von Individuen und Gemeinschaften sind. Die aus der Antike überlieferten Sichtweisen, von Heraklits Lógos-Struktur, Anaxagoras‘ Geist-Erkenntnis, Platons Ideen-Konstrukt, Aristoteles‘ Geistnatur, und die Gegenpositionen, wie sie sich in Xenophanes‘ Speziesismus, Protagoras‘ Soziomorphismus, Sexus Empiricus‘ Relativität, die Welt-Mensch-Kongruenz von Leukipp, Demokrit, Epikur, Lukrez und Cicero; die im Mittelalter und der Frühen Neuzeit christlich motivierten Denkformen, wie sie Nikolaus von Kues und andere in die Welt gebracht haben; weitergehend zur „kopernikanischen Revolution“, mit dem Perspektivenwechsel vom geo- zum heliozentrischen Weltbild; mit René Descartes‘ noozentrischen Anschauungen, Galileo Galileis mathematischer Rationalität, Blaise Pascals Absage an die Erkenntniskompetenz des Menschen; schließlich mit der „Rückwendung zum Menschen“ die für die Zeit der Aufklärung bestimmenden Positionen von Gottfried Wilhelm Leibnitz, John Locke, David Hume, Immanuel Kant, Johann Heinrich Lambert, Johann Gottfried Herder…, die das „anthropische Prinzip“ etablierten und, am Beispiel des Kantschen Denkens erläutert, die Grundlegung der modernen Denkform entstand, und sich gewissermaßen im Idealismus verfestigte, mit Johann Gottfried Fichte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Goethes Geistlichkeits- und Natürlichkeitsdenkens. Die Weiterentwicklung der anthropischen Denkform vollzog sich im 19. Jahrhundert, etwa im Historismus Leopold von Rankes, im Anthropologismus Ludwig Feuerbachs, Karl Marx‘, Friedrich Nietzsches, und im Evolutionismus Denis Diderots, den Welsch als den Protagonisten des anthropischen Denkens ausmacht, natürlich mit Charles Darwins Erkenntnis, dass der zôon „das Tier namens Mensch“ sei und Ernst Haeckels engagierte Verteidigung. Auch im 20. Jahrhundert entwickelt sich anthropisches Denken weiter, wird aber bereits kritisiert, etwa von Gottlob Frege, der die Objektivität des Logischen anzweifelt, von Edmund Husserl, der die Frage danach, ob Wahrheit relativ oder absolut sei, in den philosophischen Diskurs einbringt (vgl. dazu auch: Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13980.php). Mit Scheler, Heidegger und Merleau-Ponty melden sich die Phänomenologen zu Wort. Und schließlich die Einsprüche, wie sie vom Poststrukturalismus ausgehen, mit Michel Foucault, Theodor W. Adorno, Jean-François Lyotard, bis hin zu den radikalen Konstruktivisten wie die von Humberto Maturana und Niklas Luhmann.

Während im ersten Teil gewissermaßen das Grundgerüst für eine kritische Bestandsaufnahme zum anthropischen Prinzip gelegt wird, kommt im zweiten Teil die Frage nach den grundlegenden Ursachen dieser „Festung“ zum Tragen, also zum einen die Tiefenstruktur zu verdeutlichen, die hinter der anthropischen Denkform steht, die besonderen Symptome des Verfangenseins in den Problemen dieser Tiefenstruktur aufzuzeigen, und daraus die Gründe zu finden, warum in der zeitgenössischen Philosophie weiterhin dem Prinzip gefolgt wird. Die moderne Denkweise nämlich ist bestimmt vom „Widerspiel von Idealismus und Realismus“ und der Annahme einer „Mensch-Welt-Opposition“. Trotz (oder wegen?) des in der analytischen Philosophie vollzogenem linguistic turns (vgl. dazu auch: Stephan Moebius, Hg., Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung, Bielefeld 2012, 308 S., www.socialnet.de/rezensionen/14406.php) zeigt sich in der Realität des Mensch-Welt-Dualismus, wie ihn die linguistische Philosophie zu überwinden trachtete und sich doch in der „Box des zôon lógon echon“ einigelte.

Im dritten Teil unternimmt der Autor, nachdem er die Beweisführung der Unmöglichkeit einer anthropischen Bildhaftigkeit abgeschlossen hat, den Versuch, Indizien dafür aufzuzeigen, „dass unser grundlegendes Weltverständnis nicht eines der Disparität zur Welt, sondern der Verbundenheit mit der Welt ist“. Er benötigt dazu wiederum die Sprache als Weltdeutungsmittel. Gleichzeitig aber steht er vor dem Dilemma der „sprachliche(n) Nichtausschöpfbarkeit des Sinnlichen“. Hilfreich sind ihm dabei die „Erfahrungen einer Gemeinsamkeit von Welt und Mensch“, wie auch von „Gemeinsamkeiten mit nicht-menschlicher Natur“. Dabei sollte die intellektuelle und existentielle Erfahrung wirksam werden, dass das Eigentlich-Menschliche sich zum einen im Humanen, zum anderen im Nicht-Humanen zeigt und zu der Erkenntnis führt, „dass wir eines Verstehens auch der nicht-menschlichen Bestandteile der Welt fähig sind“.

Im vierten Teil wendet sich Wolfgang Welsch dem eigentlich längst in unser Weltbewusstsein eingegangenem Junktim zu, dass wir Menschen evolutionäre Lebewesen sind, eine Tatsache, die sich jedoch im menschlichen Denken und Tun eher hierarchisch, trennend und machtbestimmt denn evolutionär und verbindend zeigt. Dabei betrachtet er Evolution nicht nur als einen biologischen, sondern ebenso als einen kosmischen und kulturellen Prozess. Denn das Verständnis von der Entstehung von nicht-menschlichem und menschlichem Leben auf der Erde verlangt, dass wir uns als menschliche Lebewesen im Einklang mit den zugehörigen kosmischen Prozessen befinden, ebenso wie wir uns als Homo sapiens des evolutionären biotischen Prozesses in unserem anatomischen Bestehen, unserem Verhalten und unserer Kognition bewusst sein sollten. Der Mensch als Kulturwesen ist zôon, Tier und anthrôpos und zôon politikon, sprach-, kultur- und vernunftbegabtes Lebewesen (Aristoteles) zugleich. Das Dilemma, dass sich dabei Animalität und Rationalität kreuzen und sich im traditionellen philosophischen Denken eher trennen als verbinden, gilt es zu erkennen und aufzulösen. Der Autor unternimmt den Versuch mit der Frage: „Wie können wir Menschen zugleich Tiere und Vernunftwesen sein?“ – und, bezugnehmend auf die conditio humana, „Wie kann Kultur aus Natur hervorgehen?“. Nicht in der hierarchischen, verschiedenwertigen Denke, sondern in der Ebenbürtigkeit und Gleichwertigkeit; und siehe da, wir sind dabei mitten drin in den Herausforderungen, wie sie sich als biologische, kulturelle… Vielfalt darstellen und mit den Begriffen Umwelterkennung und -bewahrung neue evolutionäre und intellektuelle Türen aufmachen; wir sind bei der Frage angelangt, wie aus dem homo oeconomicus ein homo empathicus (siehe dazu: Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9048.php) und ein homo mundandus entstehen kann, der sich bewusst wird, dass der Mensch kein Weltfremdling, schon gar kein „Weltbesitzer“, sondern ein Weltwesen ist: „Die evolutionär begründete Welthaftigkeit des Menschen“, die sich darin zeigt, dass wir Menschen „grundlegend weltverbundene sowie weltinstruierte sowie zur Artikulation der Welt fähige Wesen… Der Mensch ist von innen her ein Wesen der Welt“. Interpretiert heißt das nichts anderes als dass der Mensch als homo civilis, als zivilisiertes, kulturbegabtes und -bewusstes Lebewesen noch einen Schritt weiter gehen muss, um zum homo mundandus zu werden. Nicht als Rezepte, sondern als Empfehlungen, wie Veränderungen in unserem Denk- und Handlungsbewusstsein möglich sind, werden dabei vom Autor „Holismus und Relationalismus“, nämlich der „Übergang zu ganzheitlichen Denkformen und … zu einem Denken der Situiertheit bzw. Kontextualität“.

Die Schlüsselfrage „Wie hältst du Mensch es mit der Welt?“ und das richtige Schloss für den richtigen Schlüssel zum Aufsperren eines Bewusstseinswandels, stellt Wolfgang Welsch im fünften und letzten Teil seiner umfassenden Analyse; nämlich mit der Überzeugung, dass es uns Menschen gelingt, uns und die Dinge der Welt „zunehmend in ihren Zusammenhängen (relational), im Ganzen (holistisch) und prozessual (genetisch)“ zu betrachten. Den Perspektivenwechsel vollzieht der Autor von der „Anthropologie zur Ontologie“, und zwar einer „Ontologie von grundsätzlich evolutionärem (genetischem) Zuschnitt“. Eine Erzählung nämlich, utopisch, realistisch oder relational, fordert immer auch die Beweiskraft für Existenz; deshalb sieht der Autor im ontologischen einen inhärenten Zusammenhang zum epistemisch-kognitiven Denken; und damit weist er der Kognition die Bedeutung zu, Sein zu erkennen und zu artikulieren.

Fazit

Damit „Mensch-in-der-Welt-sein“ nicht mehr (nur) anthropisch, sondern (auch) mundan verstanden werden kann, bedarf es eines Perspektivenwechsels dahingehend, dass es „beim Erkennen nicht mehr um ein Erkennen des Ansichseins gehen (kann)“, sondern dass „Erkennen ontologisch fundiert und situiert ist“. Es ist die (neue) Einsicht von der Welthaftigkeit der menschlichen Existenz, die die bisherigen anthropischen Denkformen und Philosophien aus den Angeln hebt. Der Mensch kann nicht mehr nur vom Menschen aus verstanden werden; vielmehr kann man den Menschen „nur aus und in den Prozessen der Welt zureichend verstehen. Der Mensch ist eine der vielen Konkretionsformen der Welt und in allem mit dieser Welt verbunden, die zu ihm geführt hat und in ihm wirkt“.

Auf 37 Seiten mit fast 800 Literatur- und Quellenhinweisen legt der Philosoph Wolfgang Welsch das (Lebens-?) Werk seines jahrzehntelangen, vielfältigen und vielörtlichen Lehr- und Forscherlebens vor. Es ist sein Unbehagen an den modernen, etablierten Denkformen, die zugrunde legen, dass alles menschliche Denken und Handeln „rein menschlich bestimmt und beschränkt“ sei. Seine These, dass „unser Verstehen der Welt das Verstehen unserer Welt ist“ – die Betonung liegt dabei auf dem Adjektiv – besagt, der Mensch ein welthaftes Lebewesen ist und seine Existenz sich aus den planetarischen und evolutionären Prozessen ergibt.

Es ist anzunehmen, dass dieser Perspektivenwechsel von der Zunft der traditionellen Wissenschaften erst einmal misstrauisch beäugt wird; sie arbeitet aber passgenau und aktuell den Überzeugungen zu, die lokal- und global-ökologisch überzeugt sind, dass die EINE WELT nur als Ganzheit und Gemeinsamkeit alles Existierenden auf der Erde verstanden werden kann, und die damit die menschliche Denk- und Verantwortungsfähigkeit herausfordert.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 21.12.2012 zu: Wolfgang Welsch: Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2012. ISBN 978-3-942393-41-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14323.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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