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Per Jepsen: Adornos kritische Theorie der Selbstbestimmung

Rezensiert von Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller, 14.12.2012

Cover Per Jepsen: Adornos kritische Theorie der Selbstbestimmung ISBN 978-3-8260-4533-2

Per Jepsen: Adornos kritische Theorie der Selbstbestimmung. Verlag Königshausen & Neumann (Würzburg) 2012. 196 Seiten. ISBN 978-3-8260-4533-2. 39,80 EUR.
[Epistemata / Reihe Philosophie] Epistemata, Reihe Philosophie - Band 494.

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Thema

Zu den bekanntesten Schriften Adornos zählt die Aufsatzsammlung „Erziehung zur Mündigkeit“. Sie darf auch heute noch als Schlüsseltext gelten: nicht nur für die Kulturgeschichte der Bundesrepublik, sondern auch für eine Pädagogik, die sich nicht bloß als Anpassungs- und Karrierewissenschaft versteht. Mündigkeit ist ein Zentralbegriff demokratischer Bildung. Sie ist notwendiges Element der Fähigkeit zur Selbstbestimmung, soll diese mehr meinen als das Ausleben von Launen. Jepsen bestimmt den Begriff der Mündigkeit als Fähigkeit zum eigenen und begründeten Urteil und stellt ihn in den Kontext von Adornos Überlegungen zur Selbstbestimmung.

Hauptziel der vorliegenden Arbeit ist es, so der Autor in seiner Einleitung, „die Konturen einer kritischen Theorie der Selbstbestimmung freizulegen“. (S. 13) Adornos Theorie der Selbstbestimmung ist eine kritische Theorie, weil sie die „gesellschaftliche Verunmöglichung genuiner Subjektautonomie“ behauptet und darlegt. ( S. 14) Subjektautonomie ist nur „problematisch“ gegeben. Aufgezeigt und angegriffen werden die gesellschaftlichen Strukturen und Bedingungen, die der Selbstbestimmung entgegen sind. Diese Blickrichtung verlangt ein neues Verständnis von praktischer Philosophie.

Entstehungshintergrund

Die Arbeit des dänischen Autors ist seine Dissertation, die 2010 von der Universität Kopenhagen angenommen worden ist.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in vier Teile mit je zwei Kapiteln gegliedert.

Im ersten Teil beschäftigt sich Jepsen mit den traditionellen Begriffen von Selbstbestimmung bzw. praktischer Philosophie. Adornos Theorie der Selbstbestimmung ist kritisch auch gegen die idealistischen Autonomieansprüche, die sich gegen die Sinnlichkeit wenden und die Besinnung auf die Natur im Subjekt verweigern. Nach der Analyse der „Dialektik der Aufklärung“ ist, wie Jepsen ausführt, eine Freiheit, die im Namen von Selbsterhaltung auf Selbstverleugnung hinausläuft, widersprüchlich.

Im zweiten Teil wendet sich Jepsen der Gegenwartsdiagnose Adornos zu, die sich von der grundlegenden Autonomie der Selbstbestimmung „insofern zu unterscheiden scheint als (sie) die Widersprüchlichkeit der individuellen Autonomie zugunsten der These ihres tendenziellen Verschwindens aufzugeben scheint.“ (S. 58) Sind beide Theoreme miteinander unvereinbar? Davon kann, wie Jepsen feststellt, keine Rede sein. Die historische Dynamik muss vielmehr nach der Adornoschen Diagnose zur Entleerung eines abstrakten Selbst führen, dessen Liquidation freilich nur als Tendenzbegriff fungieren kann. Jepsen stellt die beiden Theoreme zunächst getrennt dar. Die grundlegende Antinomie wird verdeutlicht an Kant und Sartre und mit Hilfe der Adornoschen Rezeption und Kritik des Freudschen Instanzenmodells erläutert. Sodann wendet sich der Autor der zeitdiagnostischen These von der Liquidation des Subjekts zu. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der Unmündigkeit bestimmt als Unfähigkeit zu einem adäquaten Bewusstsein der eigenen Lebensbedingungen.(S. 101)

Im dritten Teil geht es um die gesellschaftstheoretischen Grundlagen der Subjekttheorie. Heteronomie wird nicht von Gesellschaft im allgemeinen, sondern von der Form kapitalistischer Vergesellschaftung hervorgebracht. Dass Adorno das Tauschprinzip als den grundlegenden sozialen Tatbestand bezeichnet, scheint Jepsen nicht bedenklich, und mit der Bestimmung des Kapitalismus als antagonistischer Gesellschaft vereinbar. (S. 123 ff.) Eher beunruhigt den Autor die Ambivalenz in der Einschätzung der Emanzipationsmöglichkeiten in der bürgerlichen Gesellschaft. Laut der Diagnose einer „verwalteten Welt“ sind die Freiheitsmöglichkeiten im Abbau begriffen. Jepsen stellt zu Recht fest, dass dem Theorem der verwalteten Welt eine gewisse Unbestimmtheit eignet, weil Adorno auf eine soziologische Definition des Verwaltungsbegriffs verzichtet. Im Sinne der Ambivalenzthese plädiert er dafür, die Diagnose eines Verlusts individueller Autonomie von der Vorstellung einer „Totalisierung der Entwicklung hin zur verwalteten Welt“ zu lösen. (S. 147) Die „freiheitsermöglichenden Aspekte der bürgerlichen Gesellschaft“ dürften nicht unterschätzt werden. (S. 126)

Im vierten Teil beschäftigt sich der Autor mit dem auch von anderen monierten „Defizit der politischen Theorie im Denken Adornos“. (S. 153, 164) Dessen Utopie lässt sich mit der Idee eines gesellschaftlichen Gesamtsubjekts bezeichnen, die mit der Versöhnung von Vernunft und Impuls – aber auch, wie Jepsen erwähnt, von Gesellschaft und äußerer Natur (S. 170) – zusammen gedacht werden muss. Es soll ferner gezeigt werden, „dass diese Perspektive analytisch mit einem Hauptstrom der neueren Selbsttheorien übereinstimmt – nämlich mit der sog. Identifikationstheorie von Harry G. Frankfurt und Gerald Dworkin.“ (S. 167f.) Ob diese Übereinstimmung wirklich so stark ist, wie Jepsen es sieht, muss bezweifelt werden. Die „Wünsche erster Stufe“, die in der Identifikationstheorie auf einer zweiten Stufe beurteilt werden, scheinen mir nicht in den Begriff des Impulses bei Adorno übersetzbar. Dass es auch grundlegende Unterschiede gibt, legt Jepsen überzeugend dar: „Während von Frankfurt und der Identifikationstheorie die höherstufigen Volitionen dem personalen Kern des Subjekts zugerechnet werden, wäre wohl eben im Hinblick auf diese der Verdacht gerechtfertigt, sie spiegelten eher die gesellschaftlichen Ansprüche an das Individuum wider.“ (S. 179) Ferner scheint auch das Ideal einer „harmonischen Integration des Selbst“ mit jenem „Eingedenken der Natur im Subjekt“ nicht vereinbar zu sein, das die Entfremdung zur äußeren Natur nicht verleugnen, sondern seiner zerstörerischen Gewalt entledigen will.

Diskussion

Neben der Rolle des Tauschprinzips und der Konfrontation mit zeitgenössischen Theorien der Willensfreiheit bedürfen weitere Begriffe und Theoreme der Diskussion. Da ist zunächst die Rede vom „Spätkapitalismus“, derer sich Adorno in den 60er Jahren bedient hatte und der sich Jepsen anschließt. Sie erinnert ein wenig an das berühmte Pfeifen im Walde. Der Begriff scheint die Aufgabe zu haben, eine fehlende Theorie des gegenwärtigen Stadiums kapitalistischer Vergesellschaftung zu verdecken und, analog etwa dem Begriff der Spätantike, ein baldiges Ende erwarten zu lassen. Darüber wissen wir freilich nichts und deshalb würde ich lieber ganz auf den Begriff „Spätkapitalismus“ verzichten.

Eine grundsätzliche Frage ist mit Jepsens These des „Problematischwerdens der praktischen Philosophie“ (S. 14 u. öfter) aufgeworfen. Ist sie auf die „Unmöglichkeit einer positiven Bestimmung der Subjekt-Autonomie“( S. 180) zurückzuführen? So viel ist klar: Um praktisch werden zu können, d.h. um das Handeln bestimmen zu können, muss Philosophie positive Aussagen in dem Sinne treffen können, dass sie Zwecke bestimmt. Wenn das unmöglich ist; wenn es nur ein „wie man es macht, ist es falsch“ geben sollte – und es sind durchaus Situationen denkbar, in denen dieser Satz gilt – dann ist praktische Philosophie obsolet geworden. Es ist aber fraglich, ob dies wirklich der Fall und ob dies Adornos Position ist. Eine kritische Theorie der Selbstbestimmung setzt auf die Reflexion der gesellschaftlichen Widersprüche, muss die Möglichkeit praktisch verbindlicher Aussagen aber nicht generell verneinen. Das ganze Problem scheint ohne eine konkrete historische Besinnung nicht lösbar.

Fazit

Jepsen hat eine reflektierte, informative und beziehungsreiche Studie zu Adornos Theorie der Selbstbestimmung vorgelegt, die zur Diskussion einer Reihe von wichtigen Fragen im Zusammenhang mit der Möglichkeit von praktischer Philosophie anregt.

Rezension von
Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller
Vormals Professor für Sozialphilosophie und -ethik
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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Es gibt 31 Rezensionen von Hans-Ernst Schiller.

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Zitiervorschlag
Hans-Ernst Schiller. Rezension vom 14.12.2012 zu: Per Jepsen: Adornos kritische Theorie der Selbstbestimmung. Verlag Königshausen & Neumann (Würzburg) 2012. ISBN 978-3-8260-4533-2. [Epistemata / Reihe Philosophie] Epistemata, Reihe Philosophie - Band 494. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14324.php, Datum des Zugriffs 31.05.2023.


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