Peter Rieker, Sven Huber et al. (Hrsg.): Hilfe! Strafe!
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 13.03.2013

Peter Rieker, Sven Huber, Anna Schnitzer, Simone Brauchli (Hrsg.): Hilfe! Strafe! Reflexionen zu einem Spannungsverhältnis professionellen Handelns.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2012.
275 Seiten.
ISBN 978-3-7799-2845-4.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Soziale Probleme - Soziale Kontrolle.
Thema
Hilfe und Strafe spielen in vielen Bereichen professionellen sozialen Handelns traditionell eine zentrale Rolle. Das sich daraus ergebende Spannungsverhältnis definiert dieses Handeln in Abhängigkeit von sozialpolitischen und disziplinären Rahmenbedingungen. Die Diskussion um eine Positionierung professioneller Arbeit im Sozial- und Erziehungsbereich wird bislang eher von außen herangetragen und setzt diese durch die Kritik an einer vermeintlich strafunwilligen, „verwahrlosten“ Disziplin unter Druck. 14 Einzelbeiträge greifen diese Thematik und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für Erziehungs- und Bildungsprozesse in unterschiedlichen Feldern der Sozial-, Kultur- und Bildungsarbeit aus historischer, systemvergleichender, ethnologischer sowie sozial- und erziehungswissenschaftlicher Perspektive auf und wollen so „Perspektiven für den Selbstverortungsprozess der Sozialen Arbeit innerhalb des … Spannungsverhältnisses [zwischen Hilfe und Strafe] eröffnen“ (8).
Autoren und Herausgeber
Die Herausgeber arbeiten als wissenschaftliche Assistenten oder Hochschulprofessor (Peter Rieker) am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich. Die Einzelbeiträge wurden von renommierten Wissenschaftlern aus der Schweiz, den Niederlanden, Deutschland, Österreich, Großbritannien, Australien und Neuseeland verfasst.
Aufbau und Inhalt
Der Band erfasst die Thematik unter einer multiperspektivischen Perspektive. Vier Hauptabschnitte des Sammelbandes beleuchten
- die psychische und kulturelle Dimension des Strafens,
- die Strafpraxis im internationalen Ländervergleich,
- das Verhältnis von Hilfe und Strafe im sozialpolitischen Kontext,
- sowie im Praxisfeld des Strafvollzugs.
Zu 1. Psychische und kulturelle Strafaspekte
Die zwei Beiträge des Abschnitts analysieren aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive psychische und kulturelle Dimensionen des Strafens. Unter psychoanalytischem Blickwinkel betrachtet Mario Erdheim Strafe und deren unbewusste Dimensionen. Relevant sind ihm die psychischen Mechanismen des Strafenden (Ambivalenz, Spaltung, Projektion im Umgang mit Konflikten) welche erklärt und damit bewusst gemacht werden. Diese Benennung unbewusster Anteile, die in der Projektion des Strafens verborgen sind bergen die Chance „das Böse auf uns selber [zu] beziehen … und unseren Mitmenschen – zu denen auch Regel- und Gesetzesbrecher gehören- unvoreingenommener zu begegnen“ (28). Aufbauend auf eine selbst durchgeführte ethnologische Studie zum Umgang mit dem Phänomen Strafen in Kenia öffnet Caroline Archambault die Perspektive auf den afrikanischen Kulturraum. Dort kommt der Körperstrafe, zumindest auf informeller Ebene, v. a. als Erziehungsmittel gegenüber Kindern eine gewisse Bedeutung und Wertschätzung zu, kontrastierend zum Körperstrafeverbot in Europa. Auch wenn die Gründe für diese Strafpraxis schwer nachvollziehbar sind, ist das Verständnis der Hintergründe, ihre sozial-strukturelle Einbettung notwendig, „bevor politische Maßnahmen zu ihrer Abschaffung Aussicht auf Erfolg haben können“ (39).
Zu 2. Strafpraxis im internationalen Ländervergleich
Drei Beiträge fokussieren auf Strafe und Punitivität in systemvergleichender Perspektive. Einleitend unterzieht Helge Peters die Entwicklung von „Politiken und Konjunkturen des Strafens“ einer soziologischen Analyse unter besonderer Fokussierung auf Strafaspekte im Kontext des Herrschaftserhalts in Gesellschaften. Die historische Entwicklung, so zeigt der Autor auf, lässt unterschiedliche Strafmotive (Herrschaftsdemonstration, Konformität, Abschreckung) erkennen. Die heutige gesellschaftliche Funktion des Strafens diskutiert Peters im Zusammenhang sozialer Prozesse und Phänomene sowie politischer Interessenslagen, welche von einer Dramatisierung der Kriminalität profitierten. Strafen und das Strafrecht können demnach unter dem Aspekt des sozialen Ausschlusses und als Mittel der sozialen Spaltung gesehen werden, wodurch – so eine weitere These- die Marginalisierung unterer sozialer Schichten erreicht wird. Der Autor nähert sich diesen Thesen unter Verweis auf die dazu publizierten Fachbeiträge aus unterschiedlichen Bereichen der Kriminologie, arbeitet daraus jedoch heraus, dass eine tatsächliche Datenbasis, die z. B. die Zunahme des Strafbedürfnisses der modernen – z. B. bundesdeutschen – Gesellschaft belegen könnte, nicht vorliegt. Was bleibt ist demnach ein enorm großer Forschungsbedarf. Die dazu gehörigen Fragestellungen und Thesen finden sich im vorliegenden Beitrag.
Helmut Kury unterzieht den Aspekt der Punitivität einem Systemvergleich zwischen Ost (ehem. DDR, Sowjetrepubliken) auf der einen, Westdeutschland bzw. USA auf der anderen Seite. In diesem Beitrag wird deutlich, dass sich das Phänomen der Punitivität bei unscharfer Definition und Konzeption kaum einem internationalen Vergleich unterziehen lässt, zumal in einzelnen Studien und Berichten oft Einzelaspekte (z. B. Todesstrafe, oder Strafmaß für bestimmte Deliktarten) herausgearbeitet werden, die keine allgemeine Einschätzung zulassen. Ein deutlicher Befund ist jedoch, dass die Strafhärte und Sanktionsfolgen im US-Amerikanischen Raum deutlich schwerer ausfallen als im kontinentaleuropäischen Raum. Im Bereich der ehemaligen Sowjetrepubliken fällt, ausgehend von einer härteren Sanktionseinstellung im gesellschaftlichen und staatlichen Übergang der 1990er Jahre eine allmähliche Abnahme der Sanktionshärte auf. Kury verweist auf die Rolle der Kriminologie, welche in der kritischen Begleitung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse (wie sie in der westlichen und östlichen Hemisphäre zu beobachten sind) durch Forschung und entsprechende Beschreibung und Erklärung der Bereiche Kriminalität, Strafrechtsentwicklung und Sanktionspraxis liegt.
Ein abschließender Beitrag gibt einen Einblick in die Sanktionspraxis skandinavischer Staaten, die sich durch niedrigere Kriminalitäts- und Inhaftierungsraten von der z. B. angloamerikanischen Situation unterscheiden und eine stärker auf Resozialisierung und Prävention ausgerichtete Vollzugsstruktur aufweisen. Die Autoren John Pratt und Anna Eriksson gehen in diesem Beitrag auch auf die sozial-strukturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (sozialdemokratisches Modell des Wohlfahrtsstaates) dieser besonderen Strafkultur ein.
Zu 3. Hilfe und Strafe im sozialpolitischen Kontext
In fünf Beitragen wird der Zusammenhang zwischen realer professioneller Praxis und sozialpolitischen Rahmenbedingungen erörtert. Die Einzelbeiträge befassen sich mit der Entwicklung in den Bereichen Jugendpolitik (am Beispiel Englands), Beschäftigungspolitik und Integrationspolitik (in Deutschland und der Schweiz) und zeigen, dass fachlich begründete Maßnahmen der Förderung strukturelle Elemente der Überwachung und Kontrolle („Fördern und Fordern“) beinhalten und von den NutzerInnen dieser Programme oft als Strafmaßnahme erlebt werden. Da sich die in politischen Gesamtprogrammen verankerten Hilfsprogramme oft ausschließlich auf Einzelpersonen richten, die z. B. bestimmte Leistungen zu erbringen haben um konkrete Leistungen zu erhalten (etwa in schriftlichen Integrationsvereinbarungen), bleibt die Ebene gesellschaftlicher Entwicklung, z. B. die Notwendigkeit einer Öffnung der Mehrheitsgesellschaft, oder strukturelle Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, unbearbeitet. „Integrationsprobleme“ werden so als Makel individuellen Versagens definiert und als Begründung der Verweigerung weiterer Fördermaßnahmen und Rechte verwendet. Der Abbau von Integrationsschranken (in der Gesellschaft) bleibt dabei, so die Autorin, völlig außer Acht. Den AutorInnen dieses Abschnitts ist neben der theoretischen und politischen Fundierung daran gelegen, die anstehende Diskussion von Strafaspekten in der Sozialen Arbeit auch auf Grundlage empirischer Daten zu führen „da die Debatte sonst Gefahr läuft, an Wirklichkeit und Erfordernissen der Praxis vorbeizulaufen“ (13). Entsprechend weisen einzelne Beiträge dieses Kapitels eine empirische Basis, teils auf Grundlage eigener Forschungsarbeit auf.
Zu 4. Hilfe und Strafe im Vollzug
Der letzte Abschnitt befasst sich mit dem Verhältnis von Strafe und Hilfe im Strafvollzug. Mit Bezug auf die historische Entwicklung in diesem Bereich arbeitet Désirée Schauz in einem einleitenden Beitrag das Spannungsverhältnis zwischen Hilfe, Schutz der Gesellschaft und Resozialisierung heraus. Die Zielkonflikte des modernen Strafvollzugs sieht die Autorin in diesen historischen Entwicklungslinien verortet, z. B. in den getrennt laufenden Prozessen der Strafrechtswissenschaft und der Gefangenen- und Entlassfürsorge. Die persönliche Entwicklung der Gefangenen in und nach Haft findet, und das wird an reichhaltigen Beispielen der Anstalten der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft belegt, im Spannungsfeld zwischen staatlich-sanktionierenden, religiösen und pädagogischen Rahmensetzungen statt. Ob und in welchen Fällen eine Rückkehr des Straftäters in die Gesellschaft überhaupt erwünscht ist, diskutiert die Autorin abschließend am Beispiel der aktuellen Debatte um die Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung.
Einen weiteren Einblick in die (jüngere) Strafvollzugsgeschichte gewährt Verena Zimmermann. Ihr Beitrag „Den neuen Menschen auf eine neue Weise schaffen“, befasst sich mit der Praxis der Umerziehung von „sozial fehlentwickelten und straffälligen Jugendlichen“ im Jugendstrafvollzug der ehemaligen DDR. Am Beispiel des geschlossenen „Jugendwerkhof Torgau“ belegt die Autorin die disziplinierende Praxis der Einschüchterung und Demoralisierung, welche die Basis für eine Erziehung im sozialistischen Sinn schaffen sollte. Die „pädagogischen“ Prinzipien der Kollektiverziehung, Arbeitserziehung und Disziplinierung im (geschlossenen) DDR-Heimsystem markieren den staatlichen Anspruch auf ein klar definiertes Persönlichkeitsideal, der durch die klare Präsenz von Strafen im Alltag verankert war.
Zwei Beiträge befassen sich abschließend mit der Praxis Sozialer Arbeit in Strafvollzug und Bewährungshilfe. An den Beispielen der Praxis in Österreich und der Schweiz wird aufgezeigt, dass die strukturellen Rahmenbedingungen der Kontrolle und Risikoorientierung eine Herausforderung an die Soziale Arbeit darstellen, die sich in ihren Methoden entsprechend weiter entwickeln muss. Eine solche Entwicklung wird am Beispiel des erfolgreich seit Jahren eingeführten Risk Assessment vorgestellt. Hinweise auf die fachliche Expertise der Sozialen Arbeit, die nicht nur auf eine veränderte Rahmensetzung orientiert ist, werden nicht gegeben.
Zielgruppe
Der Band will „dazu beitragen, Perspektiven für den Selbstverortungsprozess der Sozialen Arbeit“ im Spannungsfeld zwischen Hilfe und Strafe zu eröffnen und richtet sich entsprechend vorwiegend an PraktikerInnen in den Arbeitsfeldern der Straffälligenhilfe, Resozialisierung und Gefährdetenhilfe.
Diskussion
Der Band greift die seit Jahren innerhalb der jeweiligen Disziplinen geführten Diskussionen um das Verhältnis von Strafe und Hilfe auf. In Abgrenzung zu den oftmals als Selbstvergewisserungsschleifen geführten Diskursen wird als neuer Ansatz eine multiperspektivische Perspektive angeboten, welche neue Diskussionsansätze ermöglichen soll, etwa um neue Deutungsdimensionen sozialer Phänomene zu erschließen. Dazu erschließt der Band die aktuellen Diskussionsstränge aus Kriminologie, Sozial- und Kulturwissenschaften und unterlegt diese teilweise mit empirischem Material, wodurch eine differenziertere Auseinandersetzung ermöglicht wird. Der gesellschaftliche Wandlungsprozess und in der Folge die abnehmende Bereitschaft, abweichende, störende und gefährdende Individuen zu re-integrieren wird als Hauptrahmen der Diskussion um das Spannungsfeld von Hilfe und Strafe gesetzt. Aspekte der Sozialarbeitswissenschaft und ethische Fragestellungen kommen in dieser Diskussion leider zu kurz. Für die Soziale Arbeit wird richtig formuliert, dass sie den gesellschaftlichen Auftrag einer kritischen Begleitung und Förderung von z. B. straffälligen Menschen annehmen muss und in sichere methodische Handlungsansätze, etwa die Risikoorientierung, umsetzen muss. Der Beitrag der Disziplin Sozialer Arbeit wie Ressourcenorientierung, Netzwerkbildung, Gemeinwesenorientierung etc. kommt im vorliegenden Band zu kurz. Auch wäre hier die Diskussion zu führen gewesen, unter welchen Voraussetzungen die Soziale Arbeit als Leitdisziplin fungieren könnte und müsste, um die Brücke zwischen marginalisierten Gruppen und der Gesellschaft zu bauen. Leider haben die Herausgeber auf die Einbeziehung der Praxis Sozialer Arbeit, die dort bestehenden Ansätze und Erfahrungen, auch deren kritische Evaluation (z. B. in der Bewährungshilfe) verzichtet, so dass der lobenswerte Ansatz eines interdisziplinären Diskurses nicht vollständig umgesetzt wird. Für die Disziplin und Profession Soziale Arbeit bietet der vorliegende Band die Chance ihr eigenes Verständnis von Hilfe und Helfen zu hinterfragen, in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang zu stellen und eine tragfähige Basis für Hilfsprozesse zu entwickeln. Für das Arbeitsfeld der Straffälligenhilfe gilt dabei, dass aus den Strafgesetzen selbst kein pädagogischer Ansatz zu entwickeln ist, das Verhältnis zwischen Strafe, Hilfe und Erziehung – und das belegt der Band umfassend – nur von der (Sozial)pädagogik her zu bestimmen ist.
Fazit
Ein wichtiger Diskussionsbeitrag über die Rahmenbedingungen professioneller sozialer Praxis im Spannungsfeld zwischen Hilfe und Strafe. Die hier angebotene historische, theoretische, ethnologische und empirische Fundierung der Debatte um Hilfe und Strafe in der Sozialen Arbeit bietet die Chance einer neuen Verortung der sozialen Praxis. Gefragt sind Disziplin und Profession Sozialer Arbeit, vor diesem Hintergrund ihre eigenständigen Beiträge weiter auszuformulieren und so eine deutlichere Grenzziehung zwischen Strafe und Hilfe zu realisieren.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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