Gunther Graßhoff (Hrsg.): Adressaten, Nutzer, Agency
Rezensiert von Prof. Dr. Heiko Hoffmann, 18.03.2013
Gunther Graßhoff (Hrsg.): Adressaten, Nutzer, Agency. Akteursbezogene Forschungsperspektiven in der Sozialen Arbeit. Springer VS (Wiesbaden) 2012. 338 Seiten. ISBN 978-3-531-18300-8. 44,95 EUR.
Thema
Spätestens seit der lebensweltorientierten Hinwendung zu der Adressatin oder dem Adressaten, wird darüber diskutiert, wie Menschen, die Angebote Sozialer Arbeit in Anspruch nehmen oder nehmen müssen, verallgemeinernd zu benennen sind. Die Relevanz liegt darin begründet, dass mit solchen Etiketten immer auch (notwendige) Reduzierungen und Präsuppositionen einhergehen, welche die Haltung der Professionellen prägen: Klient/in bspw. beschreibt eine Abhängigkeitsbeziehung (lat. cliens: Hörige/r, Halbfreie/r), die mit professionellen Zielsetzungen kollidiert; der Begriff der Kundin/ des Kunden suggeriert gleichgestellte Austauschbeziehungen auf ökonomischer Basis, die den Status eines anspruchsberechtigten Bürgers ausblendet usw. Während in unterschiedlichen Handlungsfeldern vorzufindende Angebote (Patient/in, Bewohner/in o.ä.) gänzlich ungeeignet erscheinen, die Beziehung des Sozialarbeiters bzw. der Sozialarbeiterin zum Gegenüber begrifflich angemessen zu fassen, prosperieren in aktuelleren Debatten Begrifflichkeiten, welche der Beteiligung und Eigeninitiative der Adressatinnen oder der Adressaten Rechnung tragen sollen. Deren theoretische Rückbindung ist allerdings nicht immer unumstritten.
Des Weiteren verlangen Leistungsträger/innen oder andere (politische) Akteure vermehrt Nachweise über die Leistungsfähigkeit Sozialer Arbeit und setzen die Profession damit verstärkt unter Legitimationsdruck. So stellte auch die Fachgruppe Forschung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit die Jahrestagung 2010 unter das provokante Motto: „Professionell ist, was wirkt?“ Professionelle Praxis droht, auf das reduziert zu werden, was vergleichbar gemessen werden kann. Es stellt sich die Frage, wie die Nichtstandardisierbarkeit professionellen Handelns (vgl. Oevermann 2002) mit standardisiert verfahrender Wirkungsforschung abgebildet werden kann – oder ob nicht gerade professionelles Handeln als unwirksam bewertet wird. Zudem verbindet sich mit der ausgerufenen Nutzer/innen- oder Akteursorientierung eine Berücksichtigung von eigensinnigen Handlungsvollzügen und nicht pauschal verallgemeinerbaren Zielen, die – konsequent vollzogen – eine Vergleichbarkeit der Resultate von Wirkungsforschung zu verunmöglichen drohen.
Herausgeber
Dr. Gunter Graßhoff ist Dipl.-Pädagoge und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz. Seine Arbeitsschwerpunkte bilden Jugendhilfeplanung und Adressatenforschung.
Aufbau
Siebzehn Beiträge sind unterschiedlichen Aspekten dieser beiden thematischen Stränge und insbesondere ihrer Verflechtung gewidmet. Sie sind in fünf Kapitel gegliedert:
- Adressatenforschung,
- Nutzer- und Nutzungsforschung,
- Wirkungsforschung,
- Agencyforschung,
- Diskurs- und Konversationsanalysen.
Dem Band sind zudem zwei einleitende Beiträge – sowohl des Herausgebers wie auch Hans Thierschs – vorangestellt.
Inhalt
Zunächst charakterisiert Graßhoff die Soziale Arbeit als forschende Disziplin, die sich nach professions- und organisationsbezogener Selbstvergewisserung erst in jüngerer Zeit vermehrt den Adressatinnen und Adressaten zuwende. Wie das damit verbundene Versprechen, die Betroffenen auch selbst als Akteure zu begreifen und einzubinden, einzulösen ist, sei im Kontext der dieses Anliegen flankierenden Diskurse zu erörtern. Graßhoff skizziert dahingehend subjektkritische Positionen des (Post-)Strukturalismus, sozial- und bildungspolitische Aktivierungsabsichten und die (qualitativ-)empirische Wende der Forschung in der Sozialen Arbeit.
Thiersch bereitet sodann ein Fundament für die folgenden Beiträge, indem er die Berücksichtigung der Adressatinnen- und Adressatenperspektive im Lichte seines einflussreichen Theorieentwurfs diskutiert. Im beanspruchten „Programm der neueren Sozialen Arbeit“ (23) sei mit lebensweltlichen Ambivalenzen gleichermaßen respektvoll wie kritikfähig zu arbeiten. Gerade der Respekt vor der Subjektivität der Adressatinnen und Adressaten sei aber nur bedingt eingelöst und drohe, in der radikalisierten Moderne vollends aufgekündigt zu werden. So würden Betroffene unerhört bleiben und „mit der neuen Dominanz des kapitalistisch orientierten Neoliberalismus soziale Probleme dethematisiert werden“ (31). Trotz Thierschs deutlicher Kritik an umgekehrt einseitig subjektivistischen Überziehungen sei der von Betroffenen erzählte Eigensinn der gesellschaftlichen „Dominanz des kapitalistisch orientierten Neoliberalismus“ (31) entgegenzustellen und als Moment einer kritischen Sozialen Arbeit zu begreifen, „die offensiv in den gegebenen politischen Tendenzen auf ihrem Auftrag insistiert“ (ebd.).
Im ersten Beitrag des Kapitels zur Adressatenforschung setzen sich Bitzan und Bolay eine relationale Bestimmung des Adressatenbegriffs zum Ziel, um letztlich „die Dichotomie Individuum/Institution aufzuheben“ (48); begrifflich-analytisch bleibt diese binäre Kategorisierung allerdings bestehen. In diesem Spannungsfeld werden dann die „Adressat_innen eher als ‚schwache Akteure‘ mit einem begrenzten Potential an Handlungsmächtigkeit“ (41) konzipiert. Auch wenn damit der einleitend referierten Kritik am Adressatinnen- bzw. Adressatenbegriff generell, er reduziere Betroffene auf ihren Status als Zielgruppe (vgl. 40), nicht gänzlich begegnet werden kann, gelingt der Autorin und dem Autor eine differenzierte Beschreibung des Wechselspiels von Subjekt, Sozialität allgemein und institutionalisierter Hilfe im Speziellen. Dabei binden sie die klassischen sozialpädagogischen und modernisierungstheoretischen Diskurse ein, die auch sie mitgeprägt haben.
Finkel wertete im Rahmen ihrer Dissertation drei Einzelinterviews mit jungen Frauen aus dem Materialfundus der von Thiersch geleiteten JULE-Studie zu Leistungen und Grenzen der Heimerziehung aus. In ihrem Beitrag stellt sie nun anhand des von ihr praktizierten Designs dar, dass ein biographieanalytischer Zugang nicht zwangsläufig „den individuellen Aspekt der Erfahrungsaufschichtung fokussiert und (…) das soziale Umfeld vernachlässigt“ (60). Bezugnehmend auf Bitzan und Bolay sieht sie das zentrale Merkmal der Adressatinnen- und Adressatenforschung in der „Verschränkung von Subjekt- und Strukturperspektive“ (53). Um dem Rechnung zu tragen, argumentiert sie für eine systematische Berücksichtigung der von Schütze herausgearbeiteten kognitiven Strukturen, „die neben den individuellen Entwicklungslinien (…) die sozialen Rahmungen“ (61) konzeptualisieren.
Graßhoff beschließt dieses Kapitel mit einer den vorgelagerten Beiträgen ähnlichen Argumentation für den Adressatenbegriff (insbesondere in Abgrenzung zu dem des Akteurs, vgl. 71-72) und mit dessen originärer Verortung in Thierschs Lebensweltorientierung (vgl. 69). Aufschlussreich gestaltet sich die anschließende Darstellung eines aufwendigen Mehrebendesigns, welches den mit dem Adressatenkonzept verbundenen theoretischen Prämissen konsequent Rechnung tragen soll. Dieses wird aber gerade „weder theoretisch noch empirisch verabsolutiert“ (73), sondern zum Ausgangspunkt kritischer Anmerkungen zu Anforderungen und Dilemmata der Adressatenforschung – hier: in der Jugendhilfe.
Oelerich und Schaarschuch eröffnen mit ihrem Beitrag das Kapitel zur Nutzer/innen- und Nutzungsforschung. Ausgangspunkt ist die materialistische Aneignungstheorie. In diesem Lichte werden Nutzer/innen als selbstproduktive Subjekte konzeptualisiert, deren Logik das professionelle Handeln als ko-produktives erst folgt (vgl. 88). Dennoch dürften gesellschaftliche und institutionelle Determinismen nicht ausgeblendet werden (vgl. 90) – die Qualität dieser Determination in Relation zum selbstproduktiven, subjektiven Handeln wird hier allerdings nicht ganz deutlich. Oelerich und Schaarschuch entwickeln einen Analyserahmen für Nutzer/innen- und Nutzungsforschung. Im Zentrum stehen dabei der Nutzen als spezifische Form und Inhalt sowie die Nutzung als Prozess und Art und Weise „der Aneignung des Nutzens“ (93). Gerahmt werden diese durch einen subjektiven und einen institutionellen Relevanzkontext, aufgrund derer soziale Dienstleistungen erst „als gebrauchswertig erachtet werden“ (95).
Im Gegensatz dazu bestimmt Hanses Subjektivität von ihren Grenzen her. Ausgehend von machttheoretischen Bezügen bei Bourdieu und Foucault, sei zunächst „das Subjekt als konkret gegebene Einheit so nicht denkbar“ (101), weil es zuvorderst sozial konstituiert sei. Davon ausgehend begibt sich Hanses dennoch auf eine Suche nach Spuren subjektiven Sinns und wird fündig in eigensinnigen Brechungen gesellschaftlicher Strukturierung. Anstatt diese eo ipso hinzunehmen und unbegründet an Subjektivität und Eigensinn als Ausnahme von der Regel festzuhalten, entwickelt der Autor gerade in Kohärenz mit den strukturalistisch-machttheoretischen Grundlagen eine aufschlussreiche und gehaltvolle Argumentation: Von dominanten Diskursen disqualifizierte Wissensbestände, soziale Räume, an denen Diskurse an Plausibilität und Verbindlichkeit einbüßen, und Kohärenzzerreißungen im zeitlichen Gefüge ließen Formen der Subjektivität temporär sichtbar werden (vgl. 113).
Beckmann und Maas skizzieren eine Studie zu Kooperationsbeziehungen in der Sozialpädagogischen Familienhilfe. Sie legen der Untersuchung den durch Schaarschuch geprägten Nutzer/innen-Begriff (vgl. 119) zugrunde und werten qualitative Daten aus dem von diesem und Otto verantworteten DFG-Projekt zur Dienstleistungsqualität in der Sozialen Arbeit inhaltsanalytisch aus. Die dargestellten Vorüberlegungen zeigen die Relevanz der Fragestellung auf: Dadurch dass auf den herkömmlichen Kontrollauftrag der Professionellen nun im Zuge neuer Steuerungsmechanismen Kundinnen- bzw. Kundenbefragungen treffen, „kontrollieren sich die Akteursgruppen der Fachkräfte und der Familien gegenseitig vor einem dritten, dem (lokalen) Staat“ (127). Nach dargestellter Datenlage hat dies (bisher) aber weder zu der befürchteten Zerrüttung des wechselseitigen Vertrauens geführt, noch bildet sich ein (durchaus wünschenswerter) Ausbau der demokratischen Beteiligung der Nutzerinnen und Nutzer ab (vgl. 134).
Der Beitrag „Empirische Alltagsforschung als Kritik“ von Bareis und Cremer-Schäfer lässt sich als Kritik in mehrfachem Sinne verstehen: u.a. als Kritik an der Verdinglichung und Verdoppelung des Alltags durch Wissenschaft (vgl. 139), als Kritik an einer funktionalen Fassung von Partizipation, wodurch Konflikte und sozialer Ausschluss auch überdeckt werden können (vgl. 144-145), und als Kritik an Wohlfahrtspolitik „von oben“, welche „die vorhandenen Alltagsroutinen und die Alltagskompetenz der Akteure nachhaltig enteignet“ (151-152). In Kontrast dazu entwickeln die Autorinnen ein konsequent interaktionistisches Forschungsdesign kritischer Alltagsforschung, das „von unten“ her fragt (153). Im Fokus stehen dabei nicht Personen, die psychologisierend auf Eigenschaften hin untersucht werden sollen, sondern Situationen und Handlungsstrategien, deren Sinnhaftigkeit sich an konkreten Episoden verdeutliche. Als ein zentrales Ergebnis, welches das Kapitel des Bandes stimmig beschließt, stellen sie dem „Ko-Produktionsmodell von Nutzen (…) mit dem Begriff der Nutzbarmachung ein Modell des Arbeitsaufwands“ (157, Hervorh. d. HH) gegenüber und verweisen damit auf die Relevanz der Akteure, welche sich u.U. Dienstleistungen auch erst erschließen müssen.
Das Kapitel zur Wirkungsforschung eröffnen Albus und Ziegler mit einer kritischen Betrachtung, ob die damit verbundenen Versprechen eingelöst werden konnten. Während Effekte im Sinne einer Stärkung der Adressatinnen und Adressaten in ihren Rechten oder der Verbesserung des Passungsverhältnisses zwischen Bedarfen und Maßnahmen bezweifelt werden (vgl. 164-169), begründet die Frage, ob – oder besser: wie – eine Verbesserung der Lebensverhältnisse durch Wirkungsforschung abgebildet und infolge forciert werden kann, eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Frage nach einer angemessenen Operationalisierung für die zumeist standardisiert vollzogene Forschungspraxis. Albus und Ziegler spannen mit ethisch zu begründenden Interessen und Bedürfnissen einerseits und mit dem Produktionsmodus andererseits zwei Dimensionen für ihren Vorschlag einer Einordnung von Wirkungsindikatoren auf (vgl. 171). Diese beiden Dimensionen können entweder gemeinschaftlich oder individualistisch ausgeprägt sein und bringen damit vier Typen hervor: eine Humankapitalperspektive, eine kommunitaristische, eine utilitaristische und eine Perspektive, die auf Teilhabegerechtigkeit abzielt. Letztere wird infolge präferiert, da die ethische Fundierung auf das Wohl jedes Individuums gerichtet ist, dabei aber Verwirklichungschancen, die in der Gesellschaft begründet sind – hier als Capabilities gefasst (vgl. 175-176) – nicht aus dem Blick verloren würden.
Im Anschluss daran entwickelt auch Micheel eine Kritik an einer „managerialistischen Wirkungsorientierung“ (191) – dies allerdings weniger als Resultat einer ethischen oder fachlich-inhaltlichen Diskussion denn als Konsequenz methodischer Überlegungen. Der Autor orientiert sich an einer Evidenzhierarchie, an deren Spitze zwar die zufallsstichprobenförmigen, kontrollierten Experimentalstudien stehen; aber deren „Ergebnisse lassen sich keinesfalls auf andere als die geprüften Kontexte und Programmgestaltungen übertragen“ (188). Daher wendet sich Micheel mit Blick auf die mannigfaltigen Kontextbedingungen Sozialer Arbeit der zweiten Stufe o.g. Hierarchie zu: quasiexperimentellen Designs. Denn diese zielten eben nicht darauf, „Kontexteinflüsse (…) auszuschließen, sondern möglichst umfassend zu erheben“ (190). Micheel präferiert diese Verfahrensweise, da auf dieser Grundlage die Übertragbarkeit auf andere Kontexte zumindest diskutiert werden könne. Dies wirft allerdings die Frage auf, ob der vorgeschlagene „Abgleich der sog. ‚Kontextbedingungen‘“ (190) zur Bildung (nur) einer Kontrollgruppe ausreichend sein kann, um deutliche Kontrastierungen zu ermöglichen, oder ob diese Zielsetzung nicht eher auf die Vorzüge von Verfahren verweist, die am Ende der vom Autor darstellten Evidenzhierarchie platziert werden: qualitative Studien, die mit Stichproben maximaler Varianz arbeiten.
Polutta präsentiert Ergebnisse des Modellprogramms „Qualifizierung der Hilfen zur Erziehung durch wirkungsorientierte Ausgestaltung der Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsvereinbarung nach §§ 78a ff SGB VIII“, an dem neben ihm mit Albus, Messmer und Micheel noch drei weitere Beitragende des vorliegenden Bandes mitgewirkt haben. Auf Grundlage einer Inhaltsanalyse der Vereinbarungsdokumente arbeitet Polutta 15 Maßnahmen heraus, die von den teilnehmenden Kommunen mit dem Ziel der wirkungsorientierten Steuerung entworfen wurden und gliedert sie nach Methoden im Hilfe(planungs)prozess, Evaluationsinstrumenten und Bewertungsverfahren. Steuerungsinstrumente, die sich auf Adressatinnen und Adressaten beziehen, sind dabei einerseits von einem Eigenverantwortungsimpetus geprägt, zeigen aber andererseits einen direktiven Charakter – z.B. „verpflichtende Elternkurse“ (200). Zur Steuerung der Einrichtungen und Professionellen werden in „wettbewerblicher Rationalität (…) Daten und Kennzahlen einzelner operativer Einheiten gesammelt, auf deren Basis anschließend Bewertungen erfolgen: Teams und Abteilungen in Jugendämtern und/oder bei freien Trägern werden für Erfolge und Misserfolge belohnt. Die Einrichtungs- und teambezogenen Bonuszahlungen etwa setzen solche Anreize.“ (203) Die Darstellung der Steuerungselemente, die zum Einsatz kamen, wirkt etwas unkritisch („Wettbewerb um die besten Ergebnisse“, „neue Freiheiten“, 203), zumal sich der Nutzen dieser Instrumente als beschränkt erwiesen hat (vgl. 206-207) und sie eine Vielzahl ethischer, professions- und sozialtheoretischer Fragen aufwerfen, die diskussionswürdig erscheinen.
Macsenaere leistet in seinem Beitrag zu „Wirkungsforschung in der Erziehung“ zweierlei: die Zusammenfassung einer Auswertung von ca. 100 wirkungsorientierten Studien im deutschen Bundesgebiet und eine Darstellung, wie eine institutionsübergreifende Plattform der Wirkungsforschung zur Qualitätsentwicklung genutzt werden kann. Neben einem historischen Abriss liefert die Literaturanalyse eine Aufschlüsselung empirisch nachgewiesener Wirkfaktoren: eine möglichst frühzeitige Reaktion auf Hilfebedarf, Ressourcenorientierung, eine gute Kooperationsbeziehung mit Eltern und jungen Menschen sowie die Mitarbeiterqualifikation. In einer Systematisierung der Diagnostik wird eine Unterstützung vor allem für unerfahrene Kolleginnen und Kollegen gesehen, welche die Zuweisungsqualität erhöht und so Karrieren im Verlauf unterschiedlicher nicht passgenauer Angebote entgegenwirken kann. (vgl. 215-218) Im zweiten Teil zeigt der Autor Möglichkeiten der trägerübergreifenden Plattform „Evaluation erzieherischer Hilfen (EVAS)“ auf, mit der innerhalb von zwölf Jahren 30.000 Fallverläufe vergleichbar erfasst wurden (vgl. 219).
Scherr leitet das Kapitel zur Agencyforschung mit einer grundsätzlichen Bestimmung des Agencybegriffs ein. Dabei grenzt er sich zum einen deutlich von oberflächlichen Rezeptionen ab, die Agency als essentialistische und voraussetzungslose Fähigkeit von Individuen verstanden wissen möchten, und damit der Komplexität des Agencydiskurses nicht gerecht werden (vgl. 232). Eine Gefahr solcher Verkürzungen bestehe insbesondere in der politischen Instrumentalisierbarkeit zur Begründung eines Abbaus sozialstaatlicher Leistungen (vgl. 239). Zum anderen grenzt er sich aber auch deutlich gegenüber deterministischen Sozialtheorien ab, die menschliches Handeln durch soziale Strukturen bestimmt sehen (vgl. 235). In diesem Spannungsfeld sei der Gewinn der Agencyperspektive für Theorie und Forschung in der Aufforderung zu sehen, „die sozialen Strukturen und Prozesse zu analysieren, durch die Individuen und Gruppen als je besondere Akteure (…) hervorgebracht werden“ (236). Letztlich werde die Soziale Arbeit durch differenziertere Beschreibungen des Zusammenwirkens von Handlung und Struktur, welche Agencykonzepte liefern können, dazu „veranlasst, die Scheinalternative zwischen einem Verständnis ihrer Adressaten als autonome Subjekte ihrer Lebenspraxis oder als passive Opfer der Verhältnisse endgültig zu verabschieden.“ (241)
Ein Zugewinn des Akteurbegriffs gegenüber Alternativbezeichnungen besteht auch darin, dass er ein Interesse an Kontexten begründet – auch außerhalb einer hegemonialen Gesellschaftsordnung (sozial Benachteiligte/r) oder Sozialer Arbeit (Klient/in, Adressat/in, Nutzer/in) –, wo Menschen (dennoch) handlungsmächtig in Erscheinung treten. Schröer und Schweppe folgen diesem Ansatz und fragen, „wie sich die Herstellung von Handlungsfähigkeit in transnationalen Alltagswelten von unterschiedlichen Akteuren (…) charakterisieren lässt.“ (249-250) Der Beitrag von Akteuren wird am Beispiel transnationaler Alltagswelten deutlich, wenn diese „auf entsprechende Übersetzungs- und Adaptionsleistungen in der Konstitution der Handlungsfähigkeit der Akteure angewiesen sind.“ (250) Leider etwas kurz werden Ergebnisse aus dem DFG-Graduiertenkolleg „Transnationale Unterstützung“ skizziert.
Ausführlicher ist dies einer der Stipendiatinnen und Stipendiaten, Lena Huber, gemeinsam mit Désirée Bender und Tina Hollstein, Mitarbeiterinnen des Kollegstandortes an der Universität Mainz, im anschließenden Beitrag möglich. Sie stellen zentrale Ergebnisse einer Studie vor zu „transnationalen Verbindungen und deren Bedeutung für die Lebenssituation und Lebensbewältigung von Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland unter Bedingungen der Armut leben“ (259). Das Datenmaterial umfasst zehn leitfadengestützte Interviews, die in Anlehnung an die Grounded Theory rekonstruktiv ausgewertet werden sollen. Die Autorinnen arbeiten heraus, „dass die Lebenssituationen in den Herkunftsländern oft durch ein Erleben von Handlungsohnmacht“ (260) geprägt waren, im Zielland „Handlungsbegrenzungen durch den erlebten elementaren Mangel an Informationen“ (261) erfahren wurden ebenso wie rechtliche Restriktionen (vgl. 265-267). Auch zeigen sie interaktive Momente durch Stellvertretung (vgl. 267) und das Handeln in Kollektiven auf (vgl. 268). Die Darstellung der Ergebnisse ist differenziert und anschaulich. Allerdings wirken die einzelnen sprachlichen Konstruktionen bisweilen „verinselt“ und Interpretationen eher am „Was“ als am „Wie“ des Gesagten orientiert. Nicht nur deshalb hätte sich die Berücksichtigung zahlreicher methodologischer Bezüge angeboten (vgl. u.a. Lucius-Hoene/ Deppermann 2004: 59-60, Lucius-Hoene 2012; Helfferich et al. 2010: 252-253), anstatt etwas voreilig zu konstatieren, dass bisher noch keine „Auseinandersetzung mit (Möglichkeiten) der empirischen Untersuchung von Agency“ (258) vorläge.
Ein solcher Bezug zu unterschiedlichen (auch den o.g.) methodologischen Diskussionslinien wird durch Griese schwerpunktmäßig für Diskurs- und Konversationsanalysen geleistet. Zunächst wird die Diskursanalyse ausgehend von ihrem theoretischem Fundament skizziert, wonach dem Subjekt, seinem Denken und Handeln „der Diskurs konstitutiv und vorgängig sei“ (278) und nicht umgekehrt. Dies schlage sich in einer Methodik nieder, die sich von einer Individuenzentrierung abgrenze und stattdessen Wissensordnungen in den Fokus rücke (vgl. 284). Während diskurstheoretische Angebote in der Sozialen Arbeit durchaus rezipiert werden (vgl. 281), seien empirische Diskursanalysen noch deutlich unterrepräsentiert (vgl. 283). Ähnlich verhalte es sich mit konversationsanalytischer Forschung (vgl. 289), die sequenzanalytisch der Vollzugswirklichkeit von Gesprächsinteraktionen folgt und eigene Vorannahmen zu minimieren sucht (vgl. 288). Damit stellt Griese vor dem Hintergrund des normativen Anspruchs von Adressatinnen- und Adressatenorientierung ein mögliches Hindernis für eine Rezeption von Diskurs- und Konversationsanalyse heraus: „Adressatenforschung ist diskurstheoretisch wie diskurs- oder konversationsanalytisch schwer umzusetzen, werden Adressatinnen als Individuen mit autonomen (Konsum-)Interessen, Bedürfnissen und Bedarfen oder als Handelnde jenseits institutioneller bzw. sozialer Arrangements verstanden.“ (296) Damit wirft die Autorin eine spannende und für die Soziale Arbeit als Profession und forschende Disziplin in ihrer weiteren Entwicklung unumgängliche Frage auf, der sich auch der folgende Beitrag widmet.
Unter schwerpunktmäßiger Betrachtung der „Archäologie des Wissens“ ordnet Kessl den Ansatz Foucaults als poststrukturalistischen ein, da er, trotz des Interesses an Strukturmustern der Ordnung, diese „nicht mehr als präexistent begreift“ (310) und in Konsequenz die direkte „Praxis der Diskurse fokussiert und nicht den diskursiven Praktiken vorgängige Sprech- und Sprachkulturen“ (ebd.) Wenn Foucault seinen Ausgangspunkt auch nicht bei (kompetenten) Akteuren nimmt, so komme mit der Verlagerung der Aufmerksamkeit vom strukturellen Unterbau hin zur konkreten sozialen Praxis der „Diskurs als Möglichkeitsfeld der Positionierung von AkteurInnen“ (311) in den Blick. Um die Diskursanalyse für die Akteursforschung fruchtbar zu machen, sei (wie auch von Griese formuliert), „die Vorannahme eines (…) souveränen Subjekts in Frage zu stellen“ (315) und sich stattdessen den diskursiven Subjektivierungsweisen zuzuwenden (vgl. ebd.). Auf der anderen Seite seien aber auch Unschärfen hinsichtlich Foucaults Subjektkritik zu klären. Im Zuge einer deutlicheren poststrukturalistischen Konturierung, sei die „praxistheoretische Dimension der Diskursanalyse auszuformulieren, (…) um nicht doch wieder in strukturalistischen Verkürzungen stecken zu bleiben.“ (314)
Messmer stellt im abschließenden Beitrag Resultate aus dem von Otto verantworteten DFG-Projekt „Reflexive Hilfeplanung in der Jugendhilfe als kommunikativer Aushandlungs- und Entscheidungsprozess“ zur Diskussion. Dazu werden 14 Hilfeplangespräche, die unterschiedliche Phasen des Hilfeprozesses kontrastieren, konversationsanalytisch ausgewertet (vgl. 322). Der Autor geht dabei gerade nicht von Akteurs-, Nutzer/innen- oder Adressatinnen- bzw. Adressatenkonzepten aus, mit denen konkrete Vorstellungen der Handlungsfähigkeit oder Position im Prozess verbunden sind. Handlungspraxen werden induktiv erst aus dem Material herausgearbeitet. Die Darstellung der ergiebigen Auswertungsergebnisse anhand explizierter Gesprächspassagen ist sehr gut nachvollziehbar und anregend. Messmer arbeitet auf Grundlage des Materials heraus, wie Kindern und Jugendlichen eine Identität als Klient/in erst zugeschrieben wird, um sie in Institutionen zu inkludieren (vgl. 329), und wie sie gegen Ende des Hilfeprozesses wieder deklientifiziert werden (vgl. 329-333). Die vorgenommenen Zuschreibungen erscheinen dabei nicht als Resultat objektiver Eigenschaften der Betroffenen, sondern als „Teil der institutionellen Wirklichkeitskonstruktion“ (vgl. 333), um das eigene Tätigwerden und damit letztlich auch die Funktion der Institution zu legitimieren. Neben der offensichtlichen Frage, wie die so konstruierten Klientinnen und Klienten „auf die sie betreffenden Wirklichkeitsproduktionen einwirken“ (334) können, besteht eine weitere Problematik darin, dass den Professionellen diese Herstellungsmechanismen selten bewusst seien. Infolge erwachse daraus ein Konflikt mit Normvorstellungen der Professionellen: Frustration und Phänomene wie „Scheinpartizipation“ seien dann zu befürchten (335). Der zu leistende Beitrag vorurteilsfreier – hier: konversationsanalytischer – Forschung zu Sozialer Arbeit (ob sie dann akteurs-, nutzer/innen- oder klientenzentriert sei) wird deutlich: Hier „bräuchte es näher an der Realität entwickelte Konzepte und Leitvorstellungen fachlichen Handelns, damit professionelles Handeln (selbst)kritisch hinterfragt und hinsichtlich seiner Wirksamkeit überprüft werden kann.“ (336)
Diskussion
Die allgemein hohe theoretische und/oder methodische Qualität der einzelnen Beiträge wurde jeweils bereits bei der Zusammenfassung der Inhalte (s.o.) dargelegt und in den diese ergänzenden Kommentierungen gewürdigt. Daher seien an dieser Stelle einige Anmerkungen zum Band insgesamt gestattet: Der Herausgeber hat sich zum Ziel gesetzt, eine kaum zu bewältigende Breite abzudecken. Das Themengebiet umfasst unterschiedliche Ansätze und Diskussionsstränge, die fachlich-konzeptionell, sozialtheoretisch und methodisch/methodologisch aufzuarbeiten wären. Für Adressatinnen und Adressaten-, für Nutzer/innen-, für Agencyforschung usw. wäre jeweils zu fragen: Welche Ziele bringt Soziale Arbeit darin zum Ausdruck? Dann: Halten diese Ansprüche einer wissenschaftlichen Analyse stand? Und: Welche Heuristiken bieten sich an, das zu untersuchen, bzw. wie ist fachlichen und theoretischen Implikationen bei der Operationalisierung Rechnung zu tragen? Ganz abgesehen von jeweils unterschiedlichen Perspektiven darauf.
Die Beiträge sind so zusammengestellt, dass in der Tat möglichst viele Facetten dieser unterschiedlichen Bereiche gewürdigt werden. Zu begrüßen ist die ausgewogene Mischung von etablierten Akteuren bis hin zu jungen Autorinnen und Autoren, so dass sich zu Darstellungen einflussreicher Diskurse „aus erster Hand“ immer auch innovative Weiterführungen finden lassen. Daher stellt der vorliegende Band eine hoch informative Zusammenstellung dar, die eine für das Themengebiet beispiellose Breite aufweist.
Mit einer inhaltlichen Breite ist allerdings auch das Risiko verbunden, dass sich ungewollte Lücken auftun. Selbst wenn ein Anspruch auf Vollständigkeit grundsätzlich nicht erhoben werden kann, kommt ein Band, der Forschungsperspektiven aufzeigen will und in dem die soziale Konstituierung des Subjekts einschließlich seines Handelns, einem roten Faden gleich, die theoretischen Auseinandersetzungen durchzieht, nur schwer ohne Bezüge zur sozialen Netzwerkanalyse aus. Wenn zudem ausdrücklich „relationale“ Bestimmungen beansprucht werden, wäre ein Beitrag hilfreich, der Bezüge zum internationalen Diskurs herstellt, der sich teils deutlich von dem hier praktizierten Verständnis unterscheidet. Auch hätte eine systematische Einbindung „fremder“ Perspektiven das Portfolio bereichern können, sind die hier vertretenen Beitragenden doch mehrheitlich miteinander assoziiert und die akademischen Prägungen nicht unähnlich. Und letztlich konzentriert sich eine Vielzahl der Beiträge, trotz des erhobenen Anspruchs auf Relevanz für die allgemeine Soziale Arbeit, doch eher auf die Kinder- und Jugendhilfe. Eine inhaltliche Eingrenzung im Untertitel des Bandes wäre da hilfreich gewesen.
Unberührt von diesem Verweis auf ergänzende Aspekte bleibt der Verdienst des Herausgebers, eine reiche Zusammenschau von Forschungsperspektiven zu leisten, die sich den „Menschen, um die es im Feld Soziale Arbeit eigentlich geht“ (Klappentext) ins Zentrum rücken. Dies gelingt besonders im „Längsschnitt“, so dass die jeweiligen Erträge und Akzentuierungen von adressatinnen- bzw. adressaten-, nutzer/innen- und akteursorientierten Ansätzen in ihrem jeweiligen Kontext dargestellt und zueinander in Bezug gesetzt werden.
Fazit
Der Band richtet sich in erster Linie an Forschende der Sozialen Arbeit und liefert ihnen eine Zusammenstellung hoch relevanter Beiträge zu Ansätzen, die sich um eine Berücksichtigung der Adressatinnen/ Adressaten, Nutzer/innen und Akteure bemühen. Der/die Leser/in erhält anregende Impulse auf aktuellem Stand der disziplinären Diskussion. In ihrer Gesamtheit verdeutlichen die Beiträge, dass Soziale Arbeit mit der Vermittlung – oder: mit der Relationierung – von notweniger Normativität in der Praxis einerseits und vorurteilsfreier (qualitativer) bzw. objektiver (standardisierter) Forschung andererseits noch vor einer zu bewältigenden Aufgabe steht. Die repräsentierten Forschungsperspektiven illustrieren verschiedene Möglichkeiten des Umgangs damit und lassen sich in dieser sehr gut aufbereiteten Form gewinnbringend für anschließende Überlegungen nutzen.
Rezension von
Prof. Dr. Heiko Hoffmann
M.A.
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Zitiervorschlag
Heiko Hoffmann. Rezension vom 18.03.2013 zu:
Gunther Graßhoff (Hrsg.): Adressaten, Nutzer, Agency. Akteursbezogene Forschungsperspektiven in der Sozialen Arbeit. Springer VS
(Wiesbaden) 2012.
ISBN 978-3-531-18300-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14334.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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