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Kerstin Herrnkind: Maries Mörder. Die Geschichte einer Spurensuche

Rezensiert von Dr. Alexander Brandenburg, 28.06.2013

Cover Kerstin Herrnkind: Maries Mörder. Die Geschichte einer Spurensuche ISBN 978-3-940636-23-2

Kerstin Herrnkind: Maries Mörder. Die Geschichte einer Spurensuche (Euthanasie). Paranus Verlag (Neumünster) 2012. Erweiterte Neu- Auflage. 288 Seiten. ISBN 978-3-940636-23-2. D: 17,95 EUR, A: 18,50 EUR.

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Thema

Die Autorin beschreibt die Geschichte ihrer Familie über mehrere Generationen bis in die Gegenwart. Im Mittelpunkt steht dabei die 1900 geborene Lina Marie S. – eine Großtante der Autorin – die als chronisch psychisch Kranke 1942 in Schweidnitz ermordet wird. Wie es im Einzelnen dazu kam, wie die Familienstränge und Familienereignisse dazu beitragen, wie die Lebensgeschichte unter zunehmenden sozialen Schwierigkeiten vorläuft und wie Marie unter diesen Umständen handelt und lebt, wie die staatlich verordnete Psychiatriepolitik auf sie zerstörerisch, ja tödlich einwirkt und wie die Täter und Handlanger dieser Politik in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit ein gutes Unterkommen finden, diese unerfreulichen Tatsachen sind das Thema.

Autorin

Kerstin Herrnkind, geb. Schneider, hat zunächst als Anwaltsgehilfin gearbeitet und nach längerer Anlaufzeit Bibliothekswissenschaften und Literaturwissenschaft studiert. Zwischendurch immer wieder als Journalistin tätig, hat sie für verschiedene Zeitungen geschrieben und ist zurzeit beim Stern beschäftigt (siehe: www.kerstinherrnkind.com). Keine Frage: Der Leser merkt sofort, dass die Autorin zu schreiben versteht und ihre Thematik lebendig und klar darzustellen weiß. Auch die in ihrem Buch unter Beweis gestellte Fähigkeit zur Recherche zeugt von journalistischem Können.

Entstehungshintergrund

Marie – so begründet die Autorin ihre Spurensuche – war die Schwester meines Großvaters. Als ich geboren wurde, war sie schon 25 Jahre tot. Aber sie spukte noch immer durch unsere Familiengeschichte. Vielleicht war das der Grund dafür, warum ich mich auf der Suche machte nach ihr. Unerwähnt soll es nicht bleiben, dass dieses Buch in der ersten Auflage unter dem Titel „Maries Akte -Das Geheimnis einer Familie“ bereits 2008 unter dem Mädchennamen der Autorin aufgelegt wurde.

Inhalt

Lassen wir die Spurensuche mit ihren Reisen, Besuchen, Kontaktaufnahmen, Gesprächen und dem Studium der Akten einmal beiseite, nicht weil es uninteressant wäre, sondern weil wir uns auf Marie konzentrieren wollen. Auch beschäftigen uns nicht die weiteren Mitglieder der Familie, von denen Maria Magdalena Kade (1835 – 1905) mit ihrer Marienerscheinung eine besonderer Fall war und eine mit Marie vergleichbare Krankengeschichte hatte; auch übergehen wir dabei Henry, den Bruder Maries und den Großvater der Autorin, mit seinen fünf Kindern von drei Frauen und seinem abenteuerlichem Leben. Beiden widmet die Autorin zurecht auch viel Aufmerksamkeit.

Die in Neugersdorf, einer kleinen Stadt in der Oberlausitz bei Zittau, geborene Marie blieb bis zu dem Tode ihres Vaters Gustav S. im Familienkreis. Der Tod des Vaters ließ die Familie auseinanderbrechen. Marie zog nach Dresden und war dort als Dienstmädchen, Bedienung und später als Telefonistin bei der Deutschen Reichspost beschäftigt. Am Arbeitsplatz bei der Reichspost gab es viele Unfälle, von denen Marie auch betroffen war. Der von der Reichspost bestellte Gutachter, der Berliner Psychiater Prof. Ewald Stier, sah die Schuld für diese Unfälle bei den Frauen liegen, die seinem Urteil nach eine „konstitutionelle Unterwertigkeit“ besaßen. Es war der erste Kontakt mit der Psychiatrie und ihrer inhumanen Diktion. Als Marie ein uneheliches Kind von einem Tischler bekam, der die Vaterschaft abstritt, erhielt sie die Kündigung von der Reichspost. Sie fand in der Fabrik Anton Reiche in Dresden einen neuen Arbeitsplatz, der es ihr ermöglichte trotz der schlechten Zeiten die Tochter Marie Erika (1920-1979) und sich selbst zu ernähren. Dann trat sie einer religiösen Sekte bei, die die Rettung vor dem Weltuntergang versprach und eine asketische Lebensweise einforderte. Während der Arbeit wird sie von einem religiösen Wahn befallen und ins Krankenhaus gebracht, wo man Dementia praecox, Jugendirresein diagnostizierte. Sie litt unter Schizophrenie. Ihre Tochter wird einer Schwester übergeben. Im November 1928 wird Marie in die Psychiatrie, die Landesanstalt Arnsdorf, eingeliefert und bleibt bis zu ihrem Lebensende eine Gefangene der Psychiatrie.

Was die psychiatrische Behandlung angeht, so erhält sie in den folgenden Jahren Zwangsernährung mit einer Sonde, Insulinschocks, Zwangsjacke und Aufenthalte in der geschlossenen Station und wird nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses sterilisiert. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass man erst in den 50er Jahren Möglichkeiten der Behandlung der Schizophrenie findet, so ist man über eine solche Psychiatriepraxis erschüttert. Doch es sollte noch schlimmer kommen: Am 1.9.1939 unterzeichnet Adolf Hitler ein Schriftstück, das es Ärzten erlaubt, bei unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes den Gnadentod zu gewähren (T4-Aktion). Mit der Schizophrenie fällt Marie, die infolge der in den Anstalten praktizierten Verhungerungsstrategie nur noch 31 Kilo wiegt, unter diese Kategorie und wird am 7.1.1942 nach Großschweidnitz verlegt. Der Chefarzt der Anstalt ist ein Dr. Alfred Schulz, der als überzeugter Nazi nichts dagegen hat, seine Patienten mit Luminal zu vergiften. Auch der Abteilungsarzt des sogenannten Sterbehauses der Anstalt, in das Marie verlegt wird, Robert Eduard Herzer ist überzeugter Nazi und hat nie eine Prüfung zum Arzt bestanden. Erstaunlich (oder auch nicht) ist seine spätere Karriere als Arzt in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Gemeinsam mit der Nazi-Pflegerin Elsa Sachse kümmert sich Herzer um Marie, die einen Monat nach der Aufnahme in Großschweidnitz tot ist.

Am Ende der Neuauflage berichtet die Autorin über die Folgen, die die Erstauflage gehabt hat: Die Gemeinde Großschweinitz will eine Gedenkstätte für die über 5000 Opfer der NS-Euthanasie errichten, und Marie, die bisher keinen Gedenkstein hatte, hat einen Stolperstein und eine Gedenkfeier in Dresden erhalten. Dass es in Dresden für den Verfasser der erbbiologischen Kartei, die den Nazis als Basis ihrer gezielten Vernichtungspraxis gedient hat, immer noch eine Fetscher-Straße und einen Fetscher-Platz gibt, das ließe sich jedenfalls nach dieser Auflage noch heilen.

Diskussion

Sicherlich gibt es eine Fülle insbesondere wissenschaftlicher Literatur zur Verfolgung psychisch kranker Menschen im Nazi-Deutschland. Doch oft bleiben die Texte abstrakt und die bemühten Zahlen unvorstellbar. Es entstehen bei der Lektüre Distanz und Kühle zum Geschehen. Diese lokale und auf eine Familie beschränkte Aufarbeitung zeigt, wie viel engagierte Detailforschung an Verborgenem noch zu heben und ans Licht zu bringen vermag und -zweitens- dass dabei die für eine produktive Auseinandersetzung notwendige Nähe zum Geschehen entstehen kann.

Fazit

Nicht umsonst wird dieses Buch neu aufgelegt: Es kann sowohl als Einführung in die Politik der Euthanasie gelesen werden als auch als Geschichte einer Familie im Nazi-Deutschland. Es enthält überdies die Aufforderung, die gegenwärtige Situation psychisch kranker Menschen im Auge zu behalten.

Rezension von
Dr. Alexander Brandenburg
Leiter der Abteilung Gesundheitsförderung und Gesundheitsplanung bei der Stadt Herne
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Es gibt 99 Rezensionen von Alexander Brandenburg.

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Zitiervorschlag
Alexander Brandenburg. Rezension vom 28.06.2013 zu: Kerstin Herrnkind: Maries Mörder. Die Geschichte einer Spurensuche (Euthanasie). Paranus Verlag (Neumünster) 2012. Erweiterte Neu- Auflage. ISBN 978-3-940636-23-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14370.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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