Jürgen L. Müller, Michael Rösler et al. (Hrsg.): EFPPP Jahrbuch 2012
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 23.05.2013

Jürgen L. Müller, Michael Rösler, Peer Briken, Peter Fromberger, Kirsten Jordan (Hrsg.): EFPPP Jahrbuch 2012. Empirische Forschung in der forensischen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (Berlin) 2012. 166 Seiten. ISBN 978-3-941468-76-4. 39,95 EUR.
Thema
Die empirische Forschung in der forensischen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (EFPPP) ist trotz der hohen gesellschaftlichen Bedeutung des Fachs nur schwach ausgeprägt. Die Gründe liegen u. a. in der geringen Anzahl forensischer Lehrstühle in Deutschland und den dadurch fehlenden Möglichkeiten für NachwuchswissenschaftlerInnen, die zudem ihre Forschungsergebnisse kaum einem breiteren Fachpublikum näher bringen können. Dennoch leistet der wissenschaftliche Nachwuchs einen erheblichen Beitrag zur Entwicklung des Fachs, wurden in den letzten Jahren bemerkenswerte Forschungsprojekte mit zukunftsweisenden Ergebnissen durchgeführt. Die EFPPP-Jahrbuchreihe will diese Arbeiten an die Fachöffentlichkeit transportieren, insbesondere, weil sie auch für die klinisch-praktische Tätigkeit hohe Relevanz besitzen. Neben Tagungsbeiträgen einer Wandertagung der Universitäten Göttingen, Hamburg und Homburg enthält der Band auch mit Fachpreisen der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, der Südwestdeutschen Akademie für Forensische Psychiatrie und der Asklepios Niedersachsen GmbH ausgezeichnete Forschungsprojekte. Die Themenschwerpunkte umfassen neueste Erkenntnisse zur Neurobiologie des Lügens und zu gewalttätigem und aggressivem Verhalten, zu Stoffwechselprozessen bei schizophrenen forensischen Patienten, methodische Ansätze zur Erfassung der Emotionswahrnehmung und Verarbeitung bei psychopathischen und gewalttätigen Patienten, neuen Ansätzen im Bereich der Diagnostik und der Messverfahren, sowie Möglichkeiten und Grenzen aktueller forensischer Prognoseinstrumente sowie Aspekten im Einsatz antiandrogener Pharmakotherapie.
Herausgeber und Autoren
Die Herausgeber arbeiten als Lehrende und Forschende im Institut für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie der Georg-Augusut-Universität Göttingen (Müller, Jordan & Fromberger), im Institut für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie am Uniklinikum Homburg (Rösler) und dem Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg (Briken). Die Verfasser der Einzelbeiträge arbeiten als Hochschullehrende, bzw. wissenschaftlich Mitarbeitende an Universitäten und Fachinstituten in Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und Österreich.
Aufbau
Das Jahrbuch versammelt in vier Abschnitten Beiträge zu
- neurobiologischen und neuropsychologischen Aspekten,
- indirekten Messverfahren in der Diagnostik,
- aktuellen Forschungserkenntnissen in der Therapie und
- neue Ansätze in der Risiko- und Prognoseeinschätzung.
Ein zusätzlicher Abschnitt erläutert die Preisnamenstifter und Preisträger der von den Fachgesellschaften vergebenen Forschungspreise.
Zu 1. Neurobiologische und neuropsychologische Aspekte
Der erste Abschnitt beinhaltet sechs Arbeiten die sich mit neurobiologischen, bzw. -psychologischen Aspekten befassen. Die Beiträge geben einen Einblick in unterschiedliche Forschungsstrategien (bildgebende Verfahren, Messung der Blickbewegung, Veränderungen der Gehirnstruktur im Zusammenhang mit Problemverhalten, Hirn-Stoffwechselphänomene bei Problemverhalten, Serumdiagnostik/Biomarker bei eingeschränkter kognitiver Leistungsfähigkeit) und beziehen sich jeweils auf eine forensisch relevante Patientengruppe, z. B. Psychosepatienten oder Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die Einzelbeiträge geben jeweils einen Überblick zu aktuellen internationalen Forschungsergebnissen und führen diese zusammen. Teilweise werden von den Autoren selbst durchgeführte, bzw. noch laufende Forschungsprojekte skizziert und Implikationen für die Praxis (Diagnostik, therapeutische Strategien, Kriminalprognostik) abgeleitet. Die Relevanz neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse für das Verständnis und mögliche Behandlungsstrategien werden von den Autoren vorsichtig eingeschätzt, bzw. als erste Forschungsbefunde klassifiziert, die weitere Forschungsfragen und -anstrengungen implizieren. Deutlich wird allerdings der Anspruch naturwissenschaftlicher Disziplinen, objektive, d. h. genau messbare Grundlagen für die Diagnostik und Behandlung forensisch relevanter Störungsbilder zu schaffen. Z. B. formulieren Römer et al. in diesem Band: „Der Einsatz geeigneter Biomarker könnte zukünftig zur Verbesserung und Differenzierung der Diagnostik z. B. durch die Demaskierung zugrunde liegender Endophänotypen und der Verlaufskontrolle beitragen und damit die forensisch-psychiatrische Prognose präzisieren helfen und so das individuelle professionelle Risikomanagement … unterstützen und noch weiter verbessern“ (55f). Verkürzt formuliert steht die forensische Psychiatrie an der Schwelle dazu, Aussagen zum Rückfallrisiko (auch) anhand von Bluttests festlegen zu können, bzw. zu wollen.
Zu 2. Indirekte Messverfahren in der Diagnostik
Mit dem Problem psychometrischer Messverfahren in der forensischen Psychiatrie befassen sich vier Einzelbeiträge. Persönlichkeitstests die auf Grundlage von Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren aufgebaut sind werden bereits länger als unzureichend für die forensische Persönlichkeitsbeurteilung kritisiert, da sie z. B. Antwortverzerrungen nicht angemessen berücksichtigen können. Abhilfe können, so die Autoren, indirekte, für den Probanden nicht durchschaubare und dadurch wenig beeinflussbare Messmethoden bieten, die als zusätzliche Verfahren eingesetzt werden. Solche indirekten Messmethoden (funktionelle Magnetresonanztomografie, Elektromyografie, Hautleitfähigkeitstest, transkranielle Magnetstimulation, Reaktionszeitmaßen) werden vorgestellt und in ihrer Aussagestärke eingeschätzt. Indirekte Messverfahren wecken in der forensischen Diagnostik gegenwärtig große Hoffnungen für eine differenzierte Falleinschätzung, entsprechend wird an den wenigen Lehrstühlen im deutschsprachigen Raum für forensische Psychiatrie umfangreich zu Verfahren und deren Aussagekraft geforscht. Die in diesem Abschnitt versammelten Forschungsprojekte weisen auf erste Fortschritte in neuen Diagnoseverfahren, welche allerdings insgesamt noch nicht das Stadium der Anwendungsreife erreicht haben.
Zu 3. Aktuelle Forschungserkenntnisse in der Therapie
Der Unterabschnitt beinhaltet lediglich einen Beitrag zur „Verbreitung antiandrogener Therapieverfahren in der Sexualstraftäterbehandlung in Deutschland“. Klinische Behandlungsleitlinien empfehlen eine kombinierte Behandlung von Sexualstraftätern mit medikamentösen antiandrogenen („triebdämpfender“) und psychotherapeutischen Therapiestrategien. Briken berichtet über eine jüngst durchgeführte Studie, welche sich mit der Behandlungsrealität in deutschen Maßregelvollzugseinrichtungen befasst. Nur 15% aller Sexualstraftäter (n = 611) wurden tatsächlich mit Antiandrogenen behandelt, die Häufigkeit dieser Behandlungsform hat allerdings in den letzten Jahren, insbesondere seit Zulassung eines speziellen Medikaments zur Behandlung schwerer Paraphilien in Deutschland zugenommen.
Zu 4. Neue Ansätze in der Risiko- und Prognoseeinschätzung
Mit vier Beiträgen weist der Abschnitt zu neuen Ansätzen in der Risiko- und Prognoseeinschätzung einen erheblichen Umfang auf. Zwei Texte befassen sich mit der Rolle von Schutzfaktoren bei der strukturierten Erfassung kriminalprognostisch relevanter Aspekte von Sexualstraftätern. Die vorgestellten Instrumente (u. a. „Screening Tool for the Assessment of Young Sexual Offenders' Risk – STAYSOR“ und „Structured Assessment of Protective Factors for violence risk – SAPROF“) werden in ihrem Aufbau ausführlich beschrieben. Erste Validierungsstudien belegen, so die Autoren, die Zuverlässigkeit der Instrumente und deren Beitrag zur Risikoeinschätzung. Dieser liegt in der Ressourcenerfassung und -veränderungsmessung, wodurch eine sinnvolle Ergänzung zu den klassischen Risikoeinschätzungsinstrumenten erfolgt.
Ein über mehrere Jahre angelegtes Forschungsprojekt befasste sich mit den Möglichkeiten und Grenzen kirminalprognostischer Instrumente bei Sexualstraftätern. In dieser Längsschnittstudie wurden die dominierenden Instrumente aus dem angloamerikanischen Raum ins deutsche übersetzt und hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit und Zuverlässigkeit überprüft. Die Autoren fundieren damit den Einsatz der international üblichen Prognoseverfahren (z. B. Static-99, SORAG – Sex Offender Risk Appraisal Guide) für den deutschsprachigen Raum.
Ein weiteres Forschungsteam beschreibt erste Erfahrungen im Einsatz eines Instruments zur Erfassung expliziter und impliziter Risiko-Einstellungen bei Straftätern.
Zu den Preisnamenstiftern und Preisträgern
Im letzten Abschnitt werden die Preisnamenstifter und Preisträger von Forschungspreisen der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, der Südwestdeutschen Akademie für Forensische Psychiatrie und der Asklepios Niedersachsen GmbH vorgestellt. Die Texte würdigen die wissenschaftliche Bedeutung der Namenstifter Eberhard Schorsch, Herrmann Witter und Ludwig Meyer, sowie den Forschungsbeitrag der letztjährigen Preisträger.
Diskussion
Das Jahrbuch versammelt Beiträge vorwiegend aus dem Bereich der Grundlagenforschung und weist hier eine stark biologisch-naturwissenschaftliche Orientierung auf. Das nach wie vor drängende Thema der diagnostischen Erfassung von Risikokonstellationen wird ebenfalls breit behandelt. Die drängenden Fragen der Straftäterbehandlung werden allerdings in nur einem einzigen Beitrag aufgegriffen. Die Disziplin beschäftigt sich offensichtlich kaum mit Wirkfaktoren in der forensischen Kriminaltherapie, obgleich hier nach wie vor erhebliche Probleme und Fragestellungen bestehen. Die Beschäftigung mit sozialen Aspekten forensisch relevanter Störungen und ihrer Behandlung ist offensichtlich (noch) kein Thema in der Forschungscommunity.
Generell: die jährliche Zusammenfassung aktueller Forschungsergebnisse in der Fachdisziplin ist zukunftsweisend. Die Forensische Psychiatrie entwickelt sich gegenwärtig rasch, verglichen mit der Situation der 1970er und 1980er Jahre rasant. Der Transfer empirischer Forschungsergebnisse in die Praxis ist ein anstehender logischer Schritt. Mit der jetzt begonnenen Jahrbuchreihe wird die Basis dafür gelegt. Gegenwärtig dominieren naturwissenschaftlich orientierte Forschungsprojekte. Die Beschäftigung mit der Praxis der Straftäterbehandlung, mit deren (Er)Folgen und Langzeitwirkungen, den nach wie vor bestehenden Behandlungshindernissen, Fragen der Wiedereingliederung oder langfristigen Begleitung therapeutisch nicht erreichbarer Patientengruppen etc. steht noch weitgehend aus. Entsprechend groß ist die Erwartung an die künftigen Bände der Jahrbuchreihe.
Fazit
Ein äußerst lobenswertes Projekt. Die jährlich publizierte Zusammenfassung neuester Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Forensischen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie war überfällig. Der jetzt anstehende Transfer empirischer Forschungsergebnisse in die Praxis der Straftäterbehandlung wird durch diese Publikationsreihe ermöglicht und befeuert.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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