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Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 10.01.2013

Cover Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität ISBN 978-3-518-29595-3

Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2012. 408 Seiten. ISBN 978-3-518-29595-3. 16,00 EUR.

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Das Kreativitätspositiv

„Sei kreativ – und du bist erfolgreich!“ – das ist die Botschaft, die überall wo Menschen handeln, sich bewegen und entfalten ertönt (vgl. dazu: Siegfried Preiser / Nicola Buchholz, Kreativität, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/8567.php). Creare, das schöpferische Tun, hat seit Jahrtausenden einen süßen Klang, wie gleichzeitig ein Versprechen, dass kreatives Schaffen Menschsein zu ungeahnten Höhen befördert, Emanzipation und Freiheit ermöglicht und zu einer „Ästhetisierung des Sozialen“ führt. Im gesellschaftskritischen, wissenschaftlichen Diskurs ergibt sich dabei ein Spagat, der sich zwischen Faszination, Unbehagen und Distanz bewegt. Die Chance wie der Zwang zur Kreativität bringen dabei gewollte und ungewollte Aufforderungen und Herausforderungen mit sich ( vgl. dazu auch: Yvonne Leonard, Hg., Kindermuseen. Strategien und Methoden eines aktuellen Museumstyps, 2012, Rezension in Socialnet).

Entstehungshintergrund und Autor

Bei der Frage, was Kreativität ist, wie sich dieses individuelle und soziale Phänomen im Menschsein darstellt, welche Herausforderungen, Erwartungen, Erfolge wie auch Enttäuschungen und Misserfolge sich zeigen, erwächst nicht selten das befreiende wie frustrierende Aha-Erlebnis: „Everything has been done“ (Grupo Azorro, 2003). Immer aber entsteht dabei der Anspruch, aus Bestehendem Neues zu schaffen und weiter zu entwickeln. Eine ästhetische, vielleicht sogar existentielle Antwort darauf können Soziologen, Psychologen, Anthropologen und Kulturwissenschaftler geben: „Das Neuartige im Sinne des Kreativen ist dann nicht lediglich vorhanden wie eine technische Errungenschaft, es wird vom Betrachter und auch von dem, der es in die Welt setzt, als Selbstzweck sinnlich wahrgenommen, erlebt und genossen“.

Der Lehrstuhlinhaber für Vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Mitglied des Beirats „Wissenschaft und Zeitgeschehen“ des Münchner Goethe-Instituts und Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), School of Language and Literature, Andreas Reckwitz, hat sich bereits in mehreren Studien und Analysen zu Fragen der „Kreativität“, „Subjektivität“, „Kulturtheorie“, „soziologische Perspektiven der Gegenwart“ und „Kulturen der Moderne“ geäußert und beim Forschungsprojekt „Genealogie und Praxis des Kreativitätssubjekts“ an der Universität Konstanz mitgearbeitet.

Aufbau und Inhalt

Neben der Einleitung gliedert Reckwitz das Buch in acht Kapitel: Im ersten geht es in „Ästhetisierung und Kreativitätsdispositiv“ um das gesellschaftliche Regime des ästhetisch Neuen; im zweiten in „Künstlerische ‚Schöpfung‘ zwischen Geniesubjekt und Publikum“ um die Formierung des modernen Kunstfeldes; im dritten in „Zentrifugale Kunst“ um die Selbstentgrenzung der Kunstpraktiken; im vierten in „Der Aufstieg der ästhetischen Ökonomie“ um die Aspekte einer permanenten Innovation in „creative industries“ und „Designökonomie“; im fünften in „Die Psychologisierung der Kreativität“ um die Spannweite vom pathologischen Genie bis zur Normalisierung des Ressourcen-Selbst; im sechsten in „Die Genese des Starsystems“ um die Konstruktion expressiver Individualität; im siebten in „Creative Cities“ um die Kulturalisierung der Stadt; und im achten und letzten Kapitel werden in „Ästhetisierungsgesellschaft“ aktuelle Strukturen, Dissonanzen und Alternativen diskutiert.

Mit dem Foucaultschen Konzept des „Dispositivs“, als „soziales Netzwerk von gesellschaftlich verstreuten Praktiken, Diskursen, Artefaktsystemen und Subjektivierungsweisen, die nicht völlig homogen, aber doch identifizierbar durch bestimmte Wissensordnungen koordiniert werden“, wird die historische und gesellschaftliche Genealogie des Kreativitätsdispositivs in vier Phasen dargestellt.

In der modernen Gesellschaft (vgl. dazu auch: Arno Bammé, Homo occidentalis. Von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt. Zäsuren abendländischer Epistemologie, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/14403.php) hat sich die Kunst als (prägende) Form des Sozialen mit unterschiedlichen Ein-, Aus- und Entgrenzungsprozessen herausgebildet, die mit Ansprüchen eines „ästhetisch Neuem“ belegt, als Setzungen postuliert und im lokal- und globalgesellschaftlichen Diskurs relativiert werden.

Interne und externe Zuschreibungen und Absentismen des Künstlerischen haben Kreativitäts- und Produktionstechniken und -methoden hervorgebracht, die sich in Gewohnheiten, Provokationen und kultur-hegemonialen Prozessen zeigen und Auswirkungen auf künstlerisches, handwerkliches und alltägliches Denken und Handeln der Menschen haben (vgl. dazu auch: Richard Sennett, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14034.php).

Im Kontext der „Kultur der Ökonomie“, wie sie sich im „Modell des Technischen“ in der industriellen und postindustriellen Moderne und in den kapitalistischen und neoliberalen Systemen darstellt, entwickeln sich Ideen einer „ästhetischen Ökonomie“, die sich in unterschiedlichen Konzepten und Vorstellungen artikulieren und sich in Richtung einer Etablierung der creative industries und Designökonomie bewegen (vgl. dazu auch: Janina Karolewki / Nadja Miczek / Christof Zotter, Hrsg., Ritualdesign. Zur kultur- und ritualwissenschaftlichen Analyse "neuer" Rituale, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13966.php).

Die Frage nach der „guten Form“ ist, abgeleitet von den unterschiedlichen Vorstellungen vom „guten Leben“, immer auch bezogen auf die psychischen Potenzen und menschlichen Zu- und Unzulänglichkeiten., was sich z. B. in der „psychologischen Pathologisierung des Genies“ ausdrückt und in der Intelligenzforschung zeigt: „Das Ziel der positiven Psychologie des Kreativen ist dann eine pragmatische Ästhetisierung der Lebensführung, in der die kreative Praxis Selbstzweck des expressiven Subjekts und Mittel zum Zweck für beruflichen und privaten Erfolg zugleich ist“.

Das „kreative Subjekt“ nämlich ist es, das die massenmediale Konstruktion von expressiver Individualität ermöglicht. Die Aufmerksamkeit und die Stilisierung von Idolen hat der „Performance-Kreativität“ Tür und Tor geöffnet und das „performing self“ alltagstauglich gemacht: „Das Starsystem ermöglicht … ein gesellschaftliches Dispositiv, das jene Subjekte auszeichnet, die ästhetisch anerkannt Neues kreieren – und unterhöhlt es zugleich“.

In der „kreativen Stadt“ als ein neues kulturelles Ideal kreativen Lebens entsteht eine Verdichtung des Sozialen und gleichzeitig des urbanen Materiellen. Die Herausforderungen, wie sie sich für Stadtplanung und kulturorientierte Gouvernementalität ergeben, pendeln zwischen der Schaffung des Atmosphärischen und der Bereitstellung von Lebensqualität für die Bewohner. Dadurch entsteht eine „Politisierung der Kreativität“ (siehe dazu auch: Mara-Daria Cojocaru, Die Geschichte von der guten Stadt. Politische Philosophie zwischen urbaner Selbstverständigung und Utopie, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13713.php).

Wir sind angelangt bei der „Ästhetisierungsgesellschaft“ in all ihren positiven und negativen Ausprägungen. Der (realutopische) Entwurf eines Kreativitätsdispositivs wird getragen von der Entdeckung einer ästhetischen Sozialität und der Aufmerksamkeit und Fähigkeit der Menschen für ästhetische Mobilität, Gesellschaftskritik und Alltagsästhetik und -ethik, eine lokale und globale, die Existenz der Menschheit gewährleistende Herausforderung, die eingebunden sein sollte in eine kreative „positive Subversion“ (Hans A. Pestalozzi) und „gezielten Verlangsamungen und Konzentrationen“ auf das humane Kreative im Menschen (vgl. dazu auch: Luc Boltanski / Laurent Thévenot, Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft, 2007, www.socialnet.de/rezensionen/6071.php).

Fazit

Andreas Reckwitz hat mit seiner Studie über die (neue) Erfindung der Kreativität auf die neue (alte) Erfahrung hingewiesen, dass creare eine doppelte Bedeutung hat: „Zum einen verweist sie auf die Fähigkeit und die Realität, dynamisch Neues hervorzubringen…, zum anderen nimmt Kreativität Bezug auf ein Modell des ‚Schöpferischen?, das sie an die moderne Figur des Künstlers, an das Künstlerische und Ästhetische insgesamt zurückbindet“. Wenn es so ist, dass jeder Mensch ein Künstler ist (Joseph Beuys), zumindest in der Lage ist, Ästhetisches zu gestalten und zu leben, sind wir herausgefordert, kreativ zu sein; freilich nicht in dem Sinne, uns ein materielles Immer-mehr zu erwerben, sondern Kreativität in unser Lebenszentrum zu bringen. Das freilich erfordert einen Perspektivenwechsel, wie ihn die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 2005 formuliert hat: Die Menschheit ist aufgefordert, „umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1702 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245