Stephan Moebius (Hrsg.): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual studies
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 17.12.2012
Stephan Moebius (Hrsg.): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual studies. Eine Einführung.
transcript
(Bielefeld) 2012.
308 Seiten.
ISBN 978-3-8376-2194-5.
D: 25,80 EUR,
A: 25,50 EUR.
Reihe: Edition Kulturwissenschaft - Band 21.
Gesellschaft ist ein zusammenhängendes Ganzes
Tantum oder Tautologie? Krise oder Prozess? Theoretische Formatierungen mit dem Anspruch, wissenschaftlich, philosophisch und sozialpolitisch fundierte Begrifflichkeiten empirisch anschlussfähig zu gestalten, sind angewiesen auf die Einbeziehung von historisch, kulturell und konkret entstandenen, gesellschaftlichen Strukturen; gleichzeitig aber dürfen sie sich ihnen nicht ausliefern – diese Janusköpfigkeit ist Anspruch und Dilemma zugleich, wenn es darum geht, gesellschafts- und kultursoziologische Transformationsprozesse zu reflektieren. Mit Verweis auf die vielfältigen Diskurse, wie Selbst- und Weltverständnisse theoretisch beschrieben, empirisch ermittelt und in lebensweltlichen Bezügen wirksam gemacht werden können (vgl. dazu: Florian von Rosenberg, Bildung und Habitustransformation. Empirische Rekonstruktionen und bildungstheoretische Reflexionen, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12015.php), ergeben sich differenzierte Fragestellungen, die den Bogen von traditionellen bis hin zu explizit „anderen“ Reflexionsaspekten spannen (siehe auch: Iris Dzudzek, Hrsg., Diskurs und Hegemonie. Gesellschaftskritische Perspektiven, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14330.php).
Insbesondere bei den aktuellen Kulturforschungen wird der Blick auf die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, Erklärungsmuster und Analysen gerichtet. Bei den „Turns“, etwa den „Cultural Turns“, die sich als Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften darstellen (Doris Bachmann-Medick, 2010), wird der Anspruch erhoben, als interdisziplinäre Theorie- und Forschungsfelder in den Sozialwissenschaften wirksam zu werden und eine (gesellschafts-), sozial- und kulturkritische Auseinandersetzung favorisiert. Dadurch wollen die Vertreter der Forschungsrichtung erreichen, die „strikte Trennung zwischen Materiellem und Kulturellem“ aufzuheben. In der Weiterentwicklung der Kulturforschung in der sich immer interdependenter, entgrenzender und sich ambivalent (und ungerecht) entwickelnden (Einen?) Welt bedarf es einer auf den sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschungsfeldern beruhenden Ausdifferenzierung und Profilbildung.
Entstehungshintergrund und Herausgeber
Die auf den „Turns“ beruhenden Annahmen, dass mit den wissenschaftlichen Theorien und Forschungsmethoden „Kultur als Bedeutungsraum“ erfasst werden könne (vgl. dazu: Christian Berndt / Robert Pütz, Hrsg., Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn, 2007, www.socialnet.de/rezensionen/6651.php; Jörg Döring / Tristan Thielmann, Hrsg., Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/6606.php; Moritz Csáky / Christoph Leitgeb, Hg., Kommunikation, Gedächtnis, Raum. Kulturwissenschaften nach dem „Spatial Turn“, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/7645.php), haben sich als nicht voll tragfähig erwiesen. Insbesondere in den englischsprachigen Forschungsdiskursen haben sich die „Studies“ entwickelt, die „das Soziale… nicht mehr von den Strukturen, dem bloß Diskursiven oder den Individuen her (denken)“, sondern zum einen in der „praxistheoretischen Perspektive“ die sozio-kulturellen Wandlungsprozesse zu erfassen versuchen; zum zweiten sich durch eine „sozial- und kulturkritische Sicht auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Prozesse“ darstellen; und zum dritten die Bedeutsamkeit der „Materialität und Medialität“ hervorhebt und eine „Operationalisierung und empirische Fruchtbarmachung poststrukturalistischer Theoriekonzepte“ ermöglicht. Daraus entwickeln sich fächerübergreifende Forschungsvorhaben, die Fächer wie Kulturanthropologie, Soziologie, Psychologie, Kommunikationswissenschaft u. a. zusammenfasst und als „Cultural Studies“ eigenständige Wissenschaftsinitiativen hervorbringt. Die Spannweite der transkulturellen und transdisziplinären Forschungsbereiche reicht dabei hin bis zu den „Visual Studies“, wie sie sich etwa in den „Gender Studies“ ausdrücken.
Den Einführungsband in die neuere Theorie- und Forschungsentwicklung der Kulturwissenschaften gibt der an der Grazer Karl-Franzens- Universität lehrende Kultursoziologe, Sprecher der Sektion Kultursoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, wie auch der Sektion Soziologische Theorie der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie, Stephan Moebius heraus.
Aufbau und Inhalt
Die Einführung in die neueren Entwicklungen der Kulturforschung der Gegenwart, bringt, neben der Einleitung in den Forschungsbereich der Studies durch Stephan Moebius, ausgewählte Aspekte „der gegenwärtigen Ausdifferenzierung der Forschungen und Neuorientierungen im kulturtheoretischen Feld“. Stephan Moebius stellt die Theoriegeschichte und -konzeptionen der Cultural Studies vor, verdeutlicht die Methodologie und wendet diese am Beispiel der Cultural-Studies-Analyse des Thatcherismus an. „Dabei entpuppen sich ‚Kultur?, ‚Kreativität?, ‚Macht‘ und ‚Identität‘ als die Schlüsselbegriffe der Cultural Studies“.
Der Medienwissenschaftler an der Friedrichshafener Zeppelin-Universität, Udo Göttlich, setzt sich mit dem uneinheitlichen Feld der „Media-Studies“ auseinander. Es sind insbesondere „die machtbezogenen Probleme einer Medienkulturanalyse“, die den unterschiedlichen Konzeptionen und Theorien zur Mediatisierung zu einer neuen Bedeutung bringen und die Media Studies zu einem politischen Projekt machen.
Die Münchner Soziologin Paula-Irene Villa reflektiert Fragen zu den „Gender Studies“. Sie weist darauf hin, dass das Forschungsfeld zwar aus den geschlechterbezogenen Emanzipationsbewegungen entstanden ist und ihre Thematik darin gefunden hat; doch Gender Studies haben sich als inter-, trans- und postdisziplinäre Konstellationen ausgeweitet und in der Biopolitik und Ethik die neuen Herausforderung des Alltagswissens aufgenommen.
Der Hannöversche Soziologe Lutz Hieber diskutiert die Entwicklung und Etablierung der in den US-amerikanischen Forschungen entstandenen „Queer Studies“. Die Grundlagen dafür bilden die sozialen Bewegungen, die sich als „Counter Cultures“ und „queer movement“ artikulieren. Sie wenden sich gegen die traditionellen, etablierten Auffassungen von Sexualität und plädieren für eine politische Dimension und Durchsetzung für queere Meinungs- und Informationsfreiheit.
Die Romanistin an der Universität Bremen, Karen Struve, nimmt das breite Forschungsfeld der „Postcolonial Studies“ auf, indem sie über Theoriegeschichte und -konzeptionen des Postkolonialen informiert und die Methodologie darstellt. Am Beispiel von Edward Saids Analyse „Kultur und Imperialismus“ zeigt die Autorin die Bedeutung postkolonialer und poststruktureller Phänomene auf und stellt die Relevanz der Postcolonial Studies für die Klärung des „vermeintlich ‚Eigenen‘ und dem Fremden und ‚anderen‘ und die Deutungshoheit darüber“ heraus.
Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl für allgemeine und theoretische Soziologie an der Universität Jena, Lars Gertenbach, nimmt die Tatsache zum Anlass, dass die Regierungs- und Machtverhältnisse in der Moderne im Spannungsfeld von Ökonomie, Staat und Subjekt zu finden sind. Die „Governmentality Studies“, die sich an den theoretischen Arbeiten Michel Foucaults orientieren, messen den Verhältnissen von Macht, Wissen und Subjektivität eine herausragende Bedeutung zu. Als „politische Analytik“ und „politische Intervention“ sollen die Governmentality Studies dazu beitragen, ein neues Bewusstsein von einer „Regierung des Sozialen“ zu schaffen.
Der Augsburger Soziologe Werner Schneider und die Kölner Soziologin und Politikwissenschaftlerin Anne Waldschmidt fordern in ihrem Beitrag „Disability Studies“ dazu auf, „(Nicht-)Behinderung anders (zu) denken“. Sie verweisen darauf, dass „im Grunde ( ) nicht die Ausnahme (ist), die es zu kurieren gilt, sondern die Regel, die in ihren vielfältigen Erscheinungsweisen zunächst einfach zu akzeptieren wäre“. Sie stellen verschiedene Konzeptionen und Forschungspraxen vor, um die gesellschaftliche und politische Zielsetzung zu verdeutlichen, dass es des „gezielten Sichtbar- und des Sagbar-Machens und damit des Gesehen-Werdens, des Mitsprechen-Könnens, der selbstbestimmten Lebensgestaltung“ bedarf.
Leon Hempel, wissenschaftlicher Koordinator für Sicherheits- und Innovationsforschung an der TU Berlin, übersetzt „Surveillance Studies“ als „Überwachungsstudien“. Mit seinem Beitrag schlägt er den Bogen vom kybernetischen Diskurs zur Praxis. In der sich zunehmend mobilisierenden, vernetzenden und entgrenzenden Informationsgesellschaft kommt der „Überwachung als soziale Sortierung“, insbesondere im Verhältnis von Schutz und Kontrolle, eine besondere Aufmerksamkeit zu: „Dies heißt, den Konflikt um die Proportionen von care and control immer wieder neu auszufechten und zu politisieren“.
Sophia Prinz und Andreas Reckwitz von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder thematisieren mit den „Visual Studies“ die Bedeutsamkeit und „Analyse …des Sehens sowie der Strukturierung und Aneignung von Bildwelten in ihren sozial-kulturellen, historisch spezifischen Formen und Kontexten“. In den semiotischen und psychoanalytischen Bildtheorien, wie auch in der Medientechniktheorie versammeln sich Praktiken des Sehens und der Visualisierung, die sich in „Wahrnehmungsformen, Wissensordnungen, Praktikkomplexen und Subjektivierungsweisen“ darstellen und sich als „Soziologie des Ästhetischen“ äußern.
Die Marburger Soziologen Laura Kajetzke und Markus Schroer plädieren mit „Space Studies“ für die „Abkehr von der Kehrtwende: Vom SPATIAL TURN zu den SPACE STUDIES“. Es sind die gewandelten Raumverständnisse von der „Container-Theorie“ hin zum „relationalen Raum“, die den Space Studies in ihrer theoretischen wie methodologischen Bedeutung eine neue Aufmerksamkeit bringen und mit der Verräumlichung des Sozialen neue Aspekte und Analyseinstrumente anbieten.
Die Theaterwissenschaftlerin von der Freien Universität Berlin, Erika Fischer-Lichte, verweist mit ihrem Beitrag „Performative / Performance Studies“ auf das Performative, das sich im „Ausführen von Sprechakten, in der materialen Verkörperung von Bedeutungen und in der Inszenierung von theatralen, rituellen, spielerischen, sportlichen u.a. Handlungen“ zeigt. Mit der Darstellung der theoretischen und praxeologischen, performativen Prozesse wird deutlich, dass sich in den begrifflichen Festlegungen und Interpretationen theoretische und praxisbezogene Unterscheidbarkeiten zwischen den Performance Studies und den Perfomative Studies zeigen und eine grundlegend andere Sichtweise auf Kultur erfordern.
Der Anthropologe und Leiter des Sound Studies Lab an der Berliner Humboldt-Universität, Holger Schulze, stellt die „Sound Studies“ vor. Er verweist deutlich darauf, dass sein Forschungsfeld nicht „Klangwissenschaft“ ist, sondern es stellt sich dar als „Erkundung der Klänge als sounds“, als umweltbezogene „Acoustic Ecology“ und „Sonic Fictions“, bis hin zur „Aural Architecture“, als „Sinneserzählungen“ gewissermaßen und in der politischen Bedeutung von sensorisch-materiellen Kulturen.
Die Literaturwissenschaftlerin von der Goethe-Universität in Frankfurt/M., Astrid Erll, ist uns bereits bekannt durch ihre Forschungsarbeiten zu Erinnerungs- und Gedächtniskulturen (Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12634.php). Sie stellt „Cultural Memory Studies“ (Kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung) vor. Sie zeigt den wissenschaftlichen Entstehungs- und Forschungsprozess auf und referiert die verschiedenen, prägenden Theoriekonzepte. Mit der Frage „Quo vadis, Memory Studies“? weist sie auf den individuellen, gesellschaftlichen, lokalen und globalen Prozess von kulturellen Erinnerungen „in komplexen sozialen und plurimedialen Netzwerken“ hin und mahnt, Gedächtnisforschung nicht nur als „Erinnerungsarbeit“ zu verstehen, sondern als „kulturspezifische Denkschemata, sozial konstruierte Vergangenheitsnarrative, Mediationen und Remediationen machtvoller Mythen“ zu begreifen.
Der Wissenschaftstheoretiker von der Schwäbisch-Gmünder Hochschule für Gestaltung, Georg Knerr, zeigt auf, dass mit „Science Studies“ ein Perspektivenwechsel in der Wissenschaftsforschung aufgezeigt wird. „Mit der radikalen Kontextualisierung der Wissenschaften“ werden die traditionellen Innen- und Außenansichten der Wissenschaften in Frage gestellt und der Trennung von anderen gesellschaftlichen Bereichen eine Absage erteilt. Es gilt, so der Autor, „dem Verhältnis von disziplinärer und interdisziplinärer Wissenschaft“ eine größere Aufmerksamkeit zu widmen.
Fazit
Die von ausgewiesenen Expertinnen und Experten verfassten Analysen und Bestandsaufnahmen von „Studies“ – Initiativen öffnen einen Diskurs, der die Denk-Entwicklungen von den Cultural zu den Visual Studies dokumentiert und nachvollziehbar macht. Immanent ist allen Beiträgen gemeinsam: Die Theoriebildungen in den Sozial- und Kulturwissenschaften sind prozessual zu verstehen und kultursoziologisch und -wissenschaftlich zu bearbeiten und „Gesellschaft wieder als ein zusammenhängendes Ganzes zu begreifen und die Analyseobjekte der Studies als spezifische und wichtige Analysen von Teilaspekten der … sich nicht auf Kultur reduzierenden Gesellschaft zu betrachten“. Der Einführungsband „Kultur“ richtet sich in erster Linie an Lehrende und Studierende der Sozialwissenschaften.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 17.12.2012 zu:
Stephan Moebius (Hrsg.): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual studies. Eine Einführung. transcript
(Bielefeld) 2012.
ISBN 978-3-8376-2194-5.
Reihe: Edition Kulturwissenschaft - Band 21.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14406.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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