Johannes Bilstein, Micha Brumlik (Hrsg.): Die Bildung des Körpers
Rezensiert von Prof. Dr. Jochen Schmerfeld, 17.02.2014

Johannes Bilstein, Micha Brumlik (Hrsg.): Die Bildung des Körpers.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2012.
300 Seiten.
ISBN 978-3-7799-1270-5.
D: 32,95 EUR,
A: 33,90 EUR.
Reihe: Beiträge zur pädagogischen Grundlagenforschung.
Thema
Es geht um den Körper bzw. den Leib im Kontext von Bildung und Erziehung, aus historischer, anthropologischer, kulturwissenschaftlicher Perspektive.
Herausgeber
Johannes Bilstein ist Professor für Pädagogik an der Kunstakademie Düsseldorf und Mitglied des Fachbereichsrates Kunstbezogene Wissenschaften und des Senats der Kunstakademie Düsseldorf
Micha Brumlik war bis zu seiner Emeritierung Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt „Theorie der Erziehung und Bildung“. Daneben leitete er von Oktober 2000 bis 2005 als Direktor das Fritz Bauer Institut, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, in Frankfurt am Main.
Entstehungshintergrund
Der Band enthält Beiträge einer Tagung der Kommission „Pädagogische Anthropologie“ der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.
Aufbau
Die einzelnen Beiträge sind thematischen Schwerpunkten zugeordnet:
- historische Perspektiven auf die Bildung des Körpers
- anthropologische Perspektiven auf die Bildung des Körpers
- Kontrolle des Körpers und Kultur
- Pädagogik des Körpers und Kultur
Das Buch nimmt sich eines wichtigen Themas an und tut dies ohne theoretische Engführung. So wird bewusst auf eine explizite Trennung zwischen Körper- und Leibkonzeptionen verzichtet (6). Ausgangspunkt war die Annahme, „dass einerseits alle Körperlichkeit universellen, letztlich biologisch fundierten Bedingungen unterliegt – Bedingungen, die aus der Perspektive einer pädagogischen Anthropologie rekonstruiert werden können und dass andererseits der menschliche Leib auf je besondere Weise in soziale und kulturelle Kontexte eingebunden ist, und zwar so, dass wir ihn in den historisch wandelnden Diskursen allererst als jeweils konkreten Leib konstituieren.“ (7)
Zu Teil I: Historische Perspektiven
Jörg Zirfas: Die Zivilisierung des Körpers. Zur Benimmerziehung bei Erasmus von Rotterdam beschäftigt sich mit einem Text von Erasmus von Rotterdam: „De civilitate morum puerilium“. Mit Bezug auf Norbert Elias´ ‚Prozess der Zivilisation‘ wird die Schrift des Erasmus eingeordnet in den Prozess der Etablierung eines gesellschaftlichen Zwangs zum Selbstzwang. Dabei spiele die Selbstbeobachtung eine besondere Rolle: „… der soziale Körper (braucht, J.S.) die Selbstbeobachtung zur richtigen Abschätzung der Entwicklungsrichtungen.“ (29) Obwohl das Erziehungsprogramm des Erasmus auf die Anwendung von Gewalt verzichte, seien seine Folgen nicht unproblematisch: „Denn der Zwang zum Selbstzwang im Dienste des (ästhetischen und moralischen) Einklanges von innerlichen Tugenden wie Selbstkontrolle, Triebunterdrückung und Langsicht und äußerlichen Haltungen wie Höflichkeit und Zurückhaltung … führt zu enorm zwanghaften Psychologisierungs- und Rationalisierungsprozeduren, die die Gewinne einer Kultivierung des Körpers hinsichtlich Aggressivität, Hygiene und Reflexivität vielfach in Frage stellen.“ (29f)
Johannes Bilstein: Haare Ein Ungewöhnliches Thema, das gleichwohl seinen Reiz bei der Lektüre entfaltet. Ausgehend von der Feststellung, dass der Mensch im Verlauf der Evolution seine Haare weitgehend verloren habe bis auf einen Rest, der dann in eine symbolische Ordnung geraten neue Funktionen übernehme: „Es ist aber kein direkter, physischer Schutz mehr, den wir unserer Körperbehaarung verdanken, sondern ein in der Welt der symbolischen Ordnungen und der bedeutungsträchtigen kleinen Differenzen wirkender Zeichenschutz“ (35). Dieser Gedanke wird im folgenden unter den Überschriften ‚Zieren‘ und ‚Täuschen‘ weiter entfaltet, um am Ende auf den Leib zurück zu kommen: „Nur durch die Verbindung und die Verbundenheit mit dem Leibe, zu dem es gehört, bekommt das Haarkleid seinen Sinn und die physischen, praktischen und symbolischen Kontexte, innerhalb derer es die Funktion einer Bekleidung wahrnehmen kann. Es ist der eine, ganze Leib, als dessen Teil die Haare ihre Bedeutung und ihren Wert gewinnen.“ (41)
Stefan Schweizers Beitrag: Didaktik der Aufklärung in der Anthropologie. Zur pädagogischen Moralerziehung auf Gymnasien untersucht zwei Lehrbücher der Anthropologie, eins aus dem Jahr 1800 und eins von 1805 auf die darin behandelten anthropologischen Inhalte, die diese flankierenden pädagogisch-didaktischen Strategien, das Verhältnis von Lehrbuchform und disziplinärem Inhalt sowie die intendierten Lehren und deren Übereinstimmung mit den Zielen der Aufklärung. Dazu werden zunächst die wichtigsten Entwicklungsmerkmale der Aufklärung sowie der ideengeschichtliche Einfluss Kants behandelt, um dann die beiden Lehrbücher zu analysieren. Schweizer kommt zu dem Ergebnis, die pädagogischen Ziele beider Autoren seien, „die Schüler zu einem selbstbestimmten, in moralisch ethischen Fragen korrekt denkendem und handelndem Wesen zu machen. Konkret bedeutet das, dass die Schüler die bestehende gesellschaftliche Ordnung nicht ernsthaft in Frage stellen und der Gesellschaft nicht zuträgliches Verhalten unterlassen sollen.“ (61)
Micha Brumlik: Die Lehre des Körpers. Eine Notiz zu Konvergenzen im Denken Jean-Jacques Rousseaus und des Marquis de Sade. Brumlik findet mehrere Konvergenzen im Denken Rousseaus und de Sades: In der Bezugnahme auf den Leib als Alternative zur cartesianischen Trennung von Körper und Geist, die sie beide damit unter die Herrschaft des Gefühls stellen, in der Schaffung imaginierter Orte, an denen die aus ihrer Sicht wahre Natur des Menschen sich entfalten könnte: „pädagogische Provinzen, die – hier die Landerziehung, dort die verschwiegenen Gemächer, die Boudoirs und die abgelegenen Landschlösser – der normativen Kontrolle der Gesellschaft entzogen sind“ (69). Schließlich finde sich bei beiden eine Verbindung ihrer leibbezogenen pädagogischen Entwürfe mit politischen Programmen.
Yvonne Ehrenspeck: Die Bildung der Aufmerksamkeit. Pädagogische Konstruktionen eines Wahrnehmungs- und Bewusstseinsphänomens im 18., 19. und 20. Jahrhundert „Aufmerksamkeit ist ein systematisch wichtiges Phänomen unseres Menschseins, da es sich um ein ubiquitäres, leiblich-fundiertes elementares anthropologisches Phänomen handelt“ (72). So eröffnet die Autorin ihren Beitrag, den sie dann in vier Schritten gliedert: im ersten Schritt geht es um die aktuelle Konjunktur des Konzepts der Aufmerksamkeit, im zweiten Schritt rekonstruiert sie die Entwicklung des Begriffs im 18.Jahrhundert, im dritten Schritt werden Strategien der Aufmerksamkeitsteuerung anhand der pädagogischen Konzepte von Basedow und Campe analysiert und im letzten Schritt wird auf die gegenwärtigen Transformationen des Aufmerksamkeitsdiskurses durch Psychiatrie, Neurobiologie und Kognitionswissenschaft verwiesen. Sie kommt schließlich zu diesen Ergebnis: „Aufmerksamkeitsdefizite werden im Verlauf des 20.Jahrhunderts immer seltener als Willensschwäche und Erziehungsdefizit gedeutet, wie dies noch im 18. und 19.Jahrhundert der Fall war, sondern werden spätestens seit den 1980er Jahren vermehrt biopsychiatrisch gedeutet und als neurobiologische Vorgänge beschrieben, auf die zunächst mit pharmazeutischen Interventionen zu reagieren ist, bevor pädagogische Maßnahmen überhaupt greifen können.“ (86)
Adrian Schmidtke: Disziplin, Kontrolle, Grenzüberwindung. Die Formierung des Jungenkörpers in der Erziehung des Nationalsozialismus. Schmidtke identifiziert als Leerstelle in der pädagogischen Historiographie eine Beschäftigung mit der Bedeutung des Körpers in der NS-Erziehung und situiert seinen Beitrag damit an dieser Stelle. Aus der Beschäftigung mit einschlägigem Bildmaterial aus dem Archiv des Deutschen Historischen Museums und des Bildarchivs Preußischer Kulturbesitz kommt er zu „Einsichten in eine umfassende und sehr differenziert arbeitende Maschinerie des erzieherischen Zugriffs auf den Körper, die mit Begriffen wie ‚Gleichschaltung‘ ‚Formierung‘ oder ‚Abhärtung‘ zum Zweck der Kriegsvorbereitung und Mobilmachung zwar keineswegs unzutreffend, bei genauer Betrachtung aber doch sehr unzureichend beschrieben ist.“ (91) Diese Facetten des erzieherischen Zugriffs auf den Jungenkörper arbeitet er an einer ausgewählten Fotografie (‚Der Wagenlenker‘) mit der Methode der ikonografisch-ikonologischen Einzelbildinterpretation nach Erwin Panofsky heraus. Die analysierte Fotografie zeige – so kann man zusammenfassen – wie „Überforderung, Grenzerfahrung und Disziplinarmechanismen fotografisch so aufbereitet werden, dass sie als Spiel, Begeisterung und Abenteuer interpretiert werden“ (100f).
Zu Teil II: Anthropologische Perspektiven
Ursula Stenger: Der Leib als Erkenntnisorgan. Thematisiert werden der Leib des Forschenden wie der Leib des Pädagogen. Die Frage, der der Beitrag nachgehen will, lautet: „Wie nutzen oder ignorieren wir in pädagogischen Prozessen oder aber in Forschungsprozessen der teilnehmenden Beobachtung unseren Leib als ein Erkenntnisorgan, als ein Mittel und Werkzeug, um mehr und anderes zu verstehen, als die Analyse des Gesprochenen oder des äußerlich sichtbaren Verhaltens allein es vermag?“ (104) Am Modell der Kunstwahrnehmung entwickelt sie einen skizzenhaften Gegenentwurf zu den Verfahren, die „eine Kodifizierung von Eindrücken nahelegen“ (115) oder zu einer „Normierung des Blicks“ (115) führen.
Helga Peskoller: Ausgesetzte Körper. Peskoller geht dem Verhältnis von Körper und Raum an vier Beispielen aus der Kunst (Great Wall Walk, ein Gang von zwei Personen auf der chinesischen Mauer), dem Alltag (Gehen in der Großstadt), aus dem Bergsport (Big Wall Climbing) und dem Extremsport (B.A.S.E. Jumping) nach. Im Resümee stellt sie fest, dass sich bei der Analyse mit dem Ziel einer Erweiterung des herrschenden Raum- und Zeitverständnisses die Frage nach der Aufmerksamkeit als produktiv erwiesen habe, „weil sie das Verbindende zwischen Raum und Zeit herausstellte, was sich in Wörtern wie Zeitraum, Zeitpunkt, Rhythmus, Intervall oder Übergang zum Ausdruck brachte.“ (125)
Mie Buhl: On Self Regulation and Laughter: The University Scholar’s Virtual Body in Video Streamed Communication Practices. Es geht um den Einsatz von video streams zum Einsatz von Vorlesungen an verschiedenen Universitätsstandorten und die beobachtbaren Effekte auf eine Lehre, die traditioneller Weise in Face-to-Face Situationen stattfinde: „I wish to discuss the implications of being positioned as something between the physical embedded body and a ‚digital‘ body in the social practise of universities based on face to face interaction.“ (133) Dadurch werde u.a. die üblicherweise nötige räumlich und zeitliche Koordination überflüssig und so eine Art virtueller Präsenz erzeugt. In Bezug auf sein Thema: self regulation and laughter kommt er zu dem Ergebnis: „The self-regulation develops as a reflexiv positioning that suggests consciousness of one´s own position and possible differentiation.“ (138) Und: „I suggest laughter exposes the bodily response to communicative reflexivityporcessed in a practise where vitual participants (…) are part of a present communication practise.“ (139)
Kristin Westphal: Fremd im eigenen Körper. Beobachtet an Beispielen aus Performances mit Kindern vor dem Hintergrund anthropologisch-phänomenologischer Diskurse. Die Autorin will in ihrem Beitrag das Wesen des Fremden beschreiben vor dem Hintergrund anthropologisch-phänomenologischer Thesen und unter Hinzuziehung von Beispielen aus den Künsten geleitet von der Frage: „Ist eine Theorie des Fremden dafür geeignet, den Phänomenen und Erfahrungen wie sie insbesondere in den Performancekünsten mit Kindern … hervorgebracht wurden, eine Orientierung für die Konzepte und Aufführungspraxis selbst und umgekehrt deren Analyse zu sein?“ (141) Sie bezieht sich bei der theoretischen Fundierung ihrer Analyse vor allem auf Plessner und Waldenfels, sowie auf Lippitz und Merleau-Ponty. Anschließend beschreibt sie mehrere Theaterprojekte und kommt zu dem Fazit: „Deutlich hat werden sollen, dass im theatralen bzw. performativen Spiel die Fähigkeit zur Selbst- und Fremdwahrnehmung und Reflexion darüber entwickelt werden kann. Durch die Erfahrung mit anderen Welten und sich/Selbst werden die Grenzen der eigenen Erfahrung erkundet, das Fremde im eigenen Körper entdeckt und dabei gelernt, was durch eine spielerische, ästhetische Praxis ermöglicht wird und diese zugleich hervorbringt.“ (155)
Siegfried Däschler-Seiler: Hand – Handlung – Handlungsorientierung beschäftigt sich mit dem immer noch aktuellen Konzept der Handlungsorientierung in der Pädagogik. Dabei stellt er fest, dass im Lauf der Jahrhundert eine Verschiebung stattgefunden habe: sei es zunächst eine Auszeichnung der Schule gewesen, einen vom alltäglichen und tätigen Leben, das durch den Gebrauch der Hände gekennzeichnet sei, abgegrenzten Raum zu bilden, so sei diese Auszeichnung später Gegenstand der Kritik und von Reformbemühungen geworden. Abschließend plädiert er dafür, die Bedeutung der Hand für das Lernen nicht gering zu schätzen: „Nachhaltige, tiefgreifende Lernprozesse können nur in Gang gesetzt werden, wenn im Sinne einer Handlungsorientierung die Hand des Menschen als ausgezeichnete Funktion seiner Leiblichkeit berücksichtigt wird.“ (167)
Cornelie Dietrich: Handgemenge und Wortgefechte. Symbolgenese zwischen Körpersprache und Sprachkörper. Zwischen Körpersprache und Sprachkörper findet die Autorin einen „Schattenplatz“, den sie in drei Schritten aufsucht: „Die Vermittlung von Leib und Zeichen, von syntagmatischen Sich-zeigen und repräsentativem Etwas-Zeigen geschieht in der Sprechgeste … “ (170) Diesen Begriff erläutert sie im ersten Schritt, im zweiten Schritt betrachtet sie die Übergänge zwischen Körpersprache und Sprachkörper an einem empirischen Beispiel aus einem Forschungsprojekt, in dem das alltägliche kommunikative Handeln von Jugendlichen untersucht wurde und schließt ihren Beitrag mit einem Resümee. In der Sprechgestik unterscheidet sie: die Verbindung von Leib und Zeichen, die Beziehungsstiftung durch das „gestische Vermögen der Sprache“ (171) und die Horizonthaftigkeit: „Durch die materiellen und performativen Eigenschaften einer jeden gesprochenen Rede bilden sich um die Worte und in den Worten ein Horizont von möglichen Bedeutungen, ein Potential an Nicht-Ausgeschöpften, das dem gegenüber der Rede immer mehr als eine Möglichkeit zu antworten gibt.“ (171) Zuletzt gehe es in der Sprechgestik um Sinntradierung und Sinngenerierung, um die „instituierten Sprechgesten, die in langer Tradition ihre Bedeutung gefestigt haben“ (172) einerseits und um „die Neuschöpfung von Sinn“ andererseits. Vor allem die letztgenannte Dimension von Sinntradierung und Sinngenerierung der Sprechgestik findet sie in der ausgewählten Interaktionsszene zwischen zwei Jugendlichen (Max und Dinar): „Während sich Max und Dinar in Form und Inhalt dicht an die Konvention des rituellen Kampfes, sowie an den Verhaltenskodex der Institution halten, fügen sie dem Geschehen im Prosodischen und Handlungspraktischen neue Bedeutungsnuancen zu.“ (179)
Roswitha Staege: Leibliche Zeichen: Ein phänomenologisch-semiotischer Zugang zum frühkindlichen Fiktionsspiel. Ausgehend von der Beschreibung einer Szene kindlichen Spiels setzt sich Staege kritisch mit zwei im Kontext des Theory-of-Mind Ansatzes entwickelten Modellen des kindlichen Als-Ob-Spiels auseinander, die das Spiel aus einer Theorie der mentalen Repräsentation von Wirklichkeit entwickeln. Sie setzt dem entgegen: Die Als-Ob-Handlungen knüpften den Modellen zufolge an die Umdeutung von Objekten an, während man, wenn man vom praktischen Umgang der Kinder mit Objekten ausgehe, zu der Auffassung gelange: „Nicht das ‚Vorstellungsbild‘ …eines Trinkgefäßes oder Telefons bildet dann nämlich die Bezugsinstanz der symbolischen Darstellung im Spiel, sondern die Bewegung(en) des Trinkens bzw. des Telefonierens fungieren als Schemata der Gebrauchsfunktion des jeweiligen Zeugs, die im Spiel durch mimische und gestische Zeichen zur Darstellung gebracht werden.“ (184f) Sie schließt mit der These, dass die primären Zeichen im Als-ob-Spiel kinesische Zeichen seien: „Kinesische Zeichen werden vom Verwender auf andere Weise wahrgenommen als von dessen Spielpartner. Die Wahrnehmung der Zeichen durch den Verwender impliziert ein kriterienloses, nichtidentifikatorisches Wissen des Verwenders …“ (191)
Christoph Wulf: Der mimetische und performative Charakter von Gesten. Perspektiven für eine kultur- und sozialwissenschaftliche Gestenforschung. Wulf beschreibt seinen Ansatz der Gestenforschung, deren Ziel es vor allem sei, „ihre Körperlichkeit, ihren mimetischen und ihren performativen Charakter zu untersuchen“.(195) Weiter entwickelt er vier Dimensionen, die für die Konstitution von Gesten als Forschungsgegenstand von zentraler Bedeutung seien: Gesten als Bewegung des Körpers, als Ausdruck und Darstellung, als Formen von Erziehung und Bildung und als Formen der Sinngebung: „Alle Gesten haben die geringe Instinktgebundenheit und Exzentrizität des Menschen zur Voraussetzung. Sie sind Bewegungen des Körpers, ohne sich auf ihre Körperlichkeit reduzieren zu lassen. Gesten liegt eine Intentionalität zu Grunde, ohne dass sie in ihrer Zielgerichtetheit aufgehen. Gesten sind Ausdruck und Darstellung von Gefühlen und sind auf Gegenstände und andere Menschen bezogen. In Gesten erfährt der Mensch sich selbst und die Welt gleichzeitig.“ (204)
Zu Teil III: Pädagogik und Kontrolle des Körpers
Marga Günther: Die Stimme des Körpers. Somatische Kulturen adoleszenter Mädchen und junger Frauen. Günter geht es in ihrem Beitrag um die ästhetischen Praktiken adoleszenter Mädchen und um die Frage: „welche Bedeutung, Funktion und Praxis mit ihren Körperinszenierungen in Hinblick der Entwicklung einer geschlechtlichen und sexuellen Identität verbunden sind.“ (210) Sie skizziert zunächst den jugendsoziologischen Forschungsstand zum Thema ‚weibliche Körperinszenierungen‘ und entwickelt daran anschließend ein theoretisches Konzept, auf dessen Grundlage sie Interviews mit jungen Mädchen analysiert. Ihr zentrales Anliegen ist es, den erprobenden Umgang mit Sexualität und die dabei vorhandenen Spielräume zu betrachten. In den Ergebnissen zeige sich, „dass der Körper in vielfältiger Weise als Medium zur Ausgestaltung der Beziehungen zur vorausgehenden Generation, zum anderen Geschlecht sowie zu den Peers dient.“ (220) Weiterhin wird gezeigt, „dass die nach außen wahrnehmbaren Inszenierungen des Körpers in einem deutlichen Spannungsverhältnis zum inneren Erleben der adoleszenten Mädchen stehen.“ (221)
Barbara Bräutigam: Die Hoffnung sitzt im linken Fuß. Die (Körper-)Geschichte zweier Schwestern im therapeutischen Prozess. Der Beitrag berichtet von der Therapie zweier Schwestern, wobei auf die thematisierten Körperwahrnehmungen und Körperbilder fokussiert wird. Dabei wird der linke Fuß einer der beiden Schwestern im verbalen Austausch zwischen Therapeutin und Patientin zum Hoffnungsträger, „zu einem Symbol und einem Visionär eines freudvolleren, vitaleren und weniger bedrohten Lebens“. (231)
Christian Rittelmeyer: Vom Nutzen und Nachteil der Gehirnforschung für die Pädagogik. Rittelmeyer geht aus von der Erkenntnis der Gehirnforschung, „dass sich die Hirnarchitektur insbesondere in der Kindheit, aber auch im Erwachsenenalter fortwährend verändern kann, und zwar in Abhängigkeit von den Erfahrungen und geistigen Aktivitäten des jeweiligen Individuums“ (233). Aus dieser Einsicht in die milieuabhängige Plastizität des Gehirns ließen sich wichtige Konsequenzen für Pädagogik ableiten: „ein vielseitiges, jedoch geordnetes und das Kind nicht überforderndes Bildungsmilieu …, eine Erziehung, die Kopf, Herz und Hand gleichermaßen schult.“ (233) Er kritisiert dann an der Gehirnforschung ihre mangelnde historische Selbstvergewisserung (als Beispiel dient ihm die neurotheoretische Willensfreiheitsdebatte), nicht hinreichend reflektierte methodische und philosophische Probleme, die Gefahr einer neurozentrischen Blickverengung: Forschungen hätten deutlich gemacht, „dass Wahrnehmungs- und Urteilsprozesse stets von physiologischen Prozessen im gesamten Körper begleitet werden, die über das ‚innere‘ Sinnessystem in das Gehirn gespiegelt werden und sich dort mit dem visuellen oder akustischen Außeneindruck zur erlebten Phänomenwahrnehmung verbinden.“ (243)
Burkhard Müller: Sozialpädagogik als Körperarbeit. Psychoanalytisch-pädagogische Impulse und sozialpädagogische Empirie. Müller geht es darum, die Bedeutung des Körpers der Sozialpädagoginnen und -pädagogen für die sozialpädagogische Arbeit zu thematisieren. Dazu bezieht er sich theoretisch auf den Psychoanalytiker Leikert, der die Bedeutung des Körpers für die Analyse untersucht hat und beschreibt dann Szenen aus der Heimerziehung in einem Heim, in dem in besonderer Weise mit dem Körper gearbeitet werde, nämlich auf der Basis taoistischer Körperübungen. So kommt er zu der Frage: „Ist die Vermutung richtig, dass die vorgestellten Beispiele eine körperunmittelbare Bildungspraxis zeigen, die von der Bildungstheorie und Empirie noch kaum entdeckt ist? Ist es richtig, dass eine solche Praxis erlernbar ist?“ (257)
Peter Gansen: Leiblichkeit und Sprache. Zur Bedeutung metaphorischen Denkens und Sprechens in der frühen Kindheit. Gansen beobachtet in vielen Lebensbereichen eine zunehmende Beschäftigung mit dem Körper und leitet daraus einen „Corporal Turn“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften ab. Er nimmt an, „dass uns unsere Sprache in Form metaphorischer Konzepte ein Raster der Erfahrungsbewältigung und der Wirklichkeitserfassung zur Verfügung stellt, das wesentlich in unserer leiblichen Erfahrung begründet liegt.“ (262) Er referiert dann fünf Thesen, die er jeweils erläutert: Metaphorische Konzepte wurzelten in unserer leiblichen Erfahrung (1), besonders „wichtigen und häufigen Quellbereichen zur Metaphorisierung liegen in der Regel unmittelbar leiblich geprägte Bildschemata zugrunde“ (267f) (2), dem metaphorischen Denken und Verstehen komme bereits in der frühen Kindheit eine besondere Rolle zu (3), frühe Formen leiblicher Welterfahrung seien grundlegend nicht nur für die sozial-emotionale Entwicklung, sondern auch für die Entwicklung von Begriffen (4), „Sprachbilder und metaphorische Konzepte dienen Kindern dazu, ihrer Lebenswelt Struktur und Sinn zu verleihen und sind damit wichtige Instrumente der kindlichen Weltaneignung bzw. -konstruktion.“ (276)
Zu Teil IV: Kultur
Matthias Winzen: Spiegel aus Holz. Einige Gedanken zu den Skulpturen von Stefan Balkenhol. Der Beitrag von Winzen befasst sich mit Skulpturen des Bildhauers Stefan Balkenhol unter dem Aspekt, welche Veränderungen unserer alltäglichen Wahrnehmung durch sie angeregt werden können und auf welche Probleme des alltäglichen Umgangs mit der dinglichen Welt dadurch sichtbar würden: „in der folgenden Skizze geht es also um das Dreieck Ding-Skulptur-Leib, und zwar in wechselnden Perspektiven von nahsichtiger Betrachtung und Distanz nehmenden, allgemeineren Überlegungen“ (280). Er kommt zu dem Ergebnis, die Künstler übernähmen eine bestimmte Funktion für die Gesellschaft: „Indem sie dem Rest der Gesellschaft konkrete, nicht austauschbare Einzeldinge ohne vorab festliegende Wertgrammatik vorstellen, provozieren sie das Subjekt, auf dass es seinen Kontakt zum konkreten Ding nicht verliere.“ (295) Dabei ginge es nicht um Schönheit, Wahrheit oder Moral, „sondern um genauere Wahrnehmung des konkreten einzelnen Dings, die, das zeigt uns die zeitgenössische Skulptur, auch eine genauere Wahrnehmung unserer eigenen Leiblichkeit ermöglicht.“ (295)
Leopold Klepacki: Theatrale Bildung als leibliches Prinzip anthropologischer (Selbst)Reflexion. Über bildende Differenzerfahrung in artifiziell-performativen Prozessen. Die bildungstheoretische Wirkung des Theaterspiels wird untersucht, dabei wird Theaterspielen bestimmt als „artifizielles Prinzip leiblicher Alienation.“ (299) Für die beim Theaterspielen mögliche Selbst- und Welterfahrung gebe es keine pädagogische Ersatzmöglichkeit. Diese Überlegungen werden konkretisiert an Probenszenen aus einem Theaterprojekt mit Schülerinnen. Klepacki folgert daraus für die Bildungstheorie: „Versteht man zusammenfassend Theater nun als einen Rahmen, der es dem einzelnen Subjekt ermöglicht, auf einer ästhetischen Ebene Möglichkeitsformen von Handlung darzustellen und sich dadurch in einer symbolleiblichen Verweisstruktur zu erfahren, dann muss die theatrale Praxis als Kern theatraler Bildung angesehen werden.“ (304)
Anja Kraus: Das Lernen als Aufmerksamkeitsgeschehen. Der Begriff der Aufmerksamkeit wird in einer empirischen Studie und vor dem Hintergrund der Leibphänomenologie entfaltet. Bei der empirischen Studie handelt es sich um die Kunstaktion „Mirrorlight“, bei der Passanten auf der Straße mit einem Spiegel geblendet und ihre Reaktionen mit einer Kamera aufgezeichnet wurden. Kraus kommt zu dem Ergebnis: „Leibphänomenologisch wird Lernen … als etwas verstanden, das seinen Anfang nicht in uns hat. Es ist abhängig von situativen Faktoren und es kann nicht erzwungen werden. Zentrales Agens des Lernens ist eine Instanz zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Ereignis und Gewohnheit, Denken und Handeln, Fühlen und Wollen etc., in der das Aufmerksamkeitsgeschehen statt hat“ (321)
Gabriele Sorgo: Der groteske und der hybride Körper. Konsumismus als Monolog. Der Beitrag von Sorgo „vergleicht den grotesken Körper, wie Bachtin ihn verstand, mit spätmodernen hybriden Körperkonzeptionen und unternimmt einen ritualtheoretischen Vergleich karnevalistischer Praktiken im vormodernen Europa mit jenen der modernen Konsumgesellschaften.“ (324)
Diskussion
Der Zusammenhang von Körper/Leib und Bildung wird in der Fülle teilweise sehr heterogener Beiträge aus vielen differenten Perspektiven und auf verschiedenen theoretischen Ebenen wie in Bezug auf verschiedene Felder pädagogischer Arbeit und Reflexion beleuchtet. Was sich daraus ergibt, ist kein einheitliches Bild, auch kein Mosaik, eher ein Arbeitsbuch, aus dem man sich herausholt, was man gebrauchen kann, was zu der eigenen Frage, zu den eigenen Interessen passt bzw. Antworten verspricht. Allerdings wird man in diesem Band kaum Antworten finden, aber viele Anregungen zum Weiterdenken, auch zum Forschen und Reflektieren eigener Positionen. Wichtig ist die Beschäftigung mit dem Thema Körper/Leib für die Pädagogik und für die Erziehungswissenschaft auf jeden Fall. Ist dieses Thema doch traditionell und bislang auch im gegenwärtigen Diskurs nicht hinreichend berücksichtigt und behandelt worden.
Fazit
Ein lesenswertes Buch, auch wenn nicht alle Beiträge bei jedem Leser auf Interesse stoßen werden und nicht alle Beiträge sich auf demselben theoretischen Niveau bewegen. Jede Leserin kann Anregungen und Hinweise zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema finden.
Rezension von
Prof. Dr. Jochen Schmerfeld
Professor für Pädagogik an der Katholischen Hochschule Freiburg
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