Herbert Goetze: Familien spielend helfen
Rezensiert von Prof. Dr. phil. habil. Barbara Bräutigam, 11.01.2013
Herbert Goetze: Familien spielend helfen. Mit der Filialtherapie elterliche Ressourcen stärken.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2012.
200 Seiten.
ISBN 978-3-7799-2089-2.
D: 19,95 EUR,
A: 20,60 EUR.
Reihe: Edition Sozial.
Thema
Bei diesem Buch handelt sich um die erste deutschsprachige Darstellung der Filialtherapie als einer Unterkategorie der personenzentrierten Spieltherapie und als eines besonderen Ansatzes in der Elternarbeit. Das Verfahren zeichnet sich dadurch aus, dass Eltern oder Bezugspersonen in die Lage versetzt werden sollen, Beziehungs- und Interaktionsprobleme mit den eigenen Kindern quasi spielerisch zu lösen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Kind und nicht auf dem Erlernen oder der Anwendung spezifischer Techniken.
Autoren und Entstehungshintergrund
Die Filialtherapie wurde in den 60iger Jahren in den USA von Bernard und Louise Guerney entwickelt. Seitdem wurden unterschiedliche Modelle von Filialtherapie u.a. von Rise van Fleet (2005) und Garry Landreth und Sue Bratton (2006) entwickelt und empirisch beforscht. In Deutschland ist die Filialtherapie bislang wenig rezipiert worden. Herbert Goetze ist Professor für Sonderpädagogik an der Universität Potsdam und an der Indiana University Northwest und beschäftigt sich seit langer Zeit mit dem Konzept der Filialtherapie. Er hat u. a. ein Handbuch zur personenzentrierten Spieltherapie veröffentlicht und ist der Herausgeber der Zeitschrift „Heilpädagogische Forschung“.
Aufbau
Das Buch ist in 12 Kapitel gegliedert.
- Kapitel 1-4 beschäftigen sich mit der Darstellung, den Wurzeln und der theoretischen Einordnung des Verfahrens.
- Kapitel 5 – 8 beschreiben die Ziele, die an der Durchführung beteiligten Personen, die äußeren Rahmenbedingungen und den zeitlichen Ablauf des Verfahrens.
- Das neunte Kapitel schildert als ein Herzstück des Buches die an die Eltern zu vermittelnden Kompetenzen, bevor dann in Kapitel 10 auf die empirische Studienlage zur Wirksamkeit des Verfahrens eingegangen und in Kapitel 11 der exemplarische Ablauf einer Filialtherapie beschrieben wird.
- Im letzten Kapitel wird abschließend auf die nach Meinung des Autors ungerechtfertigte Diskrepanz zwischen der nachgewiesenen Relevanz des Verfahrens und seiner im deutschsprachigen Raum unzureichenden Verbreitung hingewiesen.
Inhalt
Bereits in der Einleitung wird der Kerngedanke der Filialtherapie deutlich: „Bezugspersonen wie Eltern sollen ‚filialtherapeutisch‘ in die Lage versetzt werden, Beziehungs- und Interaktionsprobleme mit den eigenen, auch behinderten Kinder unter Zuhilfenahme gemeinsamen Spielens einer Lösung zuzuführen“ (S.7). Als entscheidende Vorteile werden die Niedrigschwelligkeit des Verfahrens und die Stärkung der Eltern bzw. der beteiligten Bezugspersonen beschrieben. Bei der Vorstellung und Abgrenzung des Verfahrens wird darauf hingewiesen, dass die Filialtherapie einen Sonderfall der personenzentrierten Spieltherapie darstellt, in dem die Bezugspersonen die Prinzipien der personenzentrierten Spieltherapie als eine Art Laientherapeuten umsetzen und dabei im Vorfeld eine fachliche Unterstützung durch einen ausgebildeten Spieltherapeuten bedürfen. Die Filialtherapie wird von der Einzel-Gruppen- und Familientherapie und von anderen Formen des Elterntrainings abgegrenzt; als besonderes Merkmal wird der „Verzicht auf eigene Handlungsimpulse der Bezugspersonen“ beschrieben. Als filialtherapeutische Prinzipien werden in Anlehnung an Virginia Axline
- das Prinzip der vollständigen Annahme des Kindes,
- das Prinzip der Herstellung eines Klimas des Gewährenlassens,
- das Prinzip der Achtung vor dem Kind,
- das Prinzip der Wegweisung durch das Kind und
- das Prinzip der Nichtbeschleunigung
genannt. Als wesentliche Ziele der Filialtherapie werden u. a. vermehrtes Verständnis für das Kind und größeres Vertrauen in die elterlichen Erziehungskompetenzen beschrieben (S. 30). Indiziert sind Filialtherapien nach Ansicht des Autors vor allem im primär – und sekundärpräventiven Bereich. „ Im Prinzip geht es darum, Erziehungskompetenzen von in der Regel nicht auffälligen Elternhäusern zu steigern“ (12). Filialtherapeutische Maßnahmen seien beispielsweise für Kinder indiziert, die (noch) keine Auffälligkeiten aufwiesen, aber die von psychosozialen Risiken wie eines bevorstehenden Umzugs oder einer bevorstehenden Scheidung durch die Eltern betroffen seien.
Als Kontraindikationen für diesen Ansatz werden der Verdacht auf Kindesmissbrauch, gravierende psychiatrische Störungen und eine geistige Behinderung des durchführenden Elternteils genannt, aber auch sog. „selbstinkongruente Eltern, die zum Beispiel traumatisiert sind“ (36) oder aber durch Partnerschaftsprobleme nicht ausreichend in der Lage sind, auf die emotionalen Bedürfnisse des Kindes ausreichend einzugehen. Als Spielort wird eine irgendwo im Haus einzurichtende Spielecke empfohlen, die innerhalb von kurzer Zeit eingerichtet und abgebaut werden könnte, die Filialtherapie solle 1x pro Woche für 30min durchgeführt werden. Die Eltern bzw. Bezugspersonen werden innerhalb von zehn Trainingseinheiten auf die Filialtherapie vorbereitet; innerhalb dieser Sitzungen werden sie mit den Prinzipien der Filialtherapie vertraut gemacht, setzen sich aber auch mit den Themen von Grenzsetzung, Mitspielen und Ermutigung statt Lob auseinander. Viel Wert wird darauf gelegt, dass die Eltern die Gefühle ihres Kindes erkennen und reflektieren können. Die empirische weitgehend aus dem angloamerikanischen Raum entnommene Befundlage weist daraufhin, dass sich bei Kindern mit internalen Verhaltensauffälligkeiten wie Ängsten und sozialem Rückzug Erfolge erzielen lassen, während die Effekte bei externalen Verhaltensauffälligkeiten eher gering sind. Nach einer sehr plastischen Fallbeschreibung zieht der Autor am Ende das Fazit, dass Filialtherapie hierzulande deshalb nicht gefördert würde, weil sie nicht in die gegenwärtige Forschungslandschaft passen würde und „starken fachlich-ideologischen Gegenwinden“ (148) ausgesetzt sei.
Diskussion
Das Buch beschreibt einen in Deutschland recht unbekannten aus der nondirektiven Spieltherapie entlehnten Ansatz und richtet sich an all jene, die im weiteren Sinne helfend mit Kindern und deren Eltern arbeiten. Es füllt sicherlich inmitten der Masse von beschriebenen Elterntrainings eine interessante Lücke, da es weniger um handlungsleitende Ratschläge für Eltern geht sondern der Fokus auf der Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Kindern liegt. Dennoch bleibt die Frage offen, warum im Prinzip ausreichend empathische Eltern – denn für andere scheint der Ansatz nicht geeignet – sich für quasi unauffällige Kinder zum Laientherapeuten ausbilden lassen sollen. Der Therapiebegriff wird in diesem Zusammenhang unzureichend reflektiert bzw. es wird nicht verständlich, warum Eltern oder Bezugspersonen ihre Kinder „heilen“ und nicht schlicht mit ihnen spielen sollen.
Fazit
Ein sehr gut verständliches, sehr praxisorientiertes und auch fachlich durchaus anregendes Buch für die Arbeit mit Eltern. Kritisch angemerkt werden muss, dass der Autor bei seiner unverhohlenen Begeisterung für diesen Ansatz die Ausbildung von Eltern zu Laientherapeuten in ihrer kritischen Komplexität zu wenig reflektiert. Sowohl für Praktiker als auch im wissenschaftlichen Kontext eingeschränkt zu empfehlen!
Rezension von
Prof. Dr. phil. habil. Barbara Bräutigam
Professorin für Psychologie, Beratung, Psychotherapie an der Hochschule Neubrandenburg, E-Mail braeutigam@hs-nb.de; Homepage: http://www.hs-nb.de/ppages/braeutigam/
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Es gibt 19 Rezensionen von Barbara Bräutigam.
Zitiervorschlag
Barbara Bräutigam. Rezension vom 11.01.2013 zu:
Herbert Goetze: Familien spielend helfen. Mit der Filialtherapie elterliche Ressourcen stärken. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2012.
ISBN 978-3-7799-2089-2.
Reihe: Edition Sozial.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14422.php, Datum des Zugriffs 07.11.2024.
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