Philippe Pozzo di Borgo, Laurent de Cherisey u.a.: Ziemlich verletzlich, ziemlich stark
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 16.01.2013

Philippe Pozzo di Borgo, Laurent de Cherisey, Jean Vanier: Ziemlich verletzlich, ziemlich stark. Wege zu einer solidarischen Gesellschaft. Hanser Berlin (Berlin) 2012. ISBN 978-3-446-24155-8. D: 10,00 EUR, A: 10,30 EUR, CH: 14,90 sFr.
„Es liegt ein Wunsch nach Veränderung in der Luft“
Die Analysen, Prognosen und Entwicklungsgeschichten zur „Lage der Welt“ sind nicht selten geprägt von pessimistischen, fatalistischen und katastrophistischen Bestandsaufnahmen. Die Haben-Mentalität überlagert scheinbar alles Denken und Tun der Menschen; vom Seins-Modus (Erich Fromm) keine Spur! Die zahlreichen Aufforderungen und Appelle zum Perspektivenwechsel werden vernebelt durch Versprechen: „Die Zukunft der Menschen ist sicher!“. Dabei stehen die Zeichen wie Menetekel an der Wand: Menschengemachte Klimaveränderungen, kapitalistische und neoliberale Wirtschafts- und Finanzkrisen, rassistische und ideologische Intoleranz, lokale und globale soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Den Herausforderungen, „umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“, wie dies die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 eindringlich zum Ausdruck brachte, stehen Egoismen und Ethnozentrismen gegenüber, und die Sorglosigkeit eines „Weiter so“! Nicht wenige Menschen greifen in dieser Situation zur Augenbinde, zur Sprechsperre und zum Hörstöpsel, oder sie lehnen sich zurück und vertrauen darauf, dass Andere, göttliche und menschliche Mächte, sie selbst und vielleicht noch ihre Familie vor den Katastrophen bewahren werden.
Um dieser negativen Einschätzung andere, positive Sichtweisen und Initiativen entgegen zu setzen, muss man suchen. Denn sie liegen eher nicht auf der Straße und werden kaum an den Bier- und Pausentischen diskutiert. Sie sind selten in den Schlagzeilen der Zeitungen zu lesen, werden auch nicht zu den Hauptsendezeiten im Fernsehen ausgestrahlt und stehen nicht in den Parteiprogrammen; vielmehr finden wir sie in den intellektuellen und wissenschaftlichen Diskursen, die kaum zu Bestsellern werden. Wie etwa die Erkenntnis: „Wer mit dem Zustand der Welt und mit sich nicht zufrieden ist, muss philosophieren“ (Eberhard Straub, Zur Tyrannei der Werte, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10807.php); auch in der erzählerischen Bestandsaufnahme über den philosophischen und alltäglichen Begriff des „Habens“ (Harald Weinrich, Über das Haben. 33 Ansichten, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14000.php); oder in der Aufforderung, das Leben zu lernen (Luc Ferry, Leben lernen. Die Weisheit der Mythen, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/9313.php).
Entstehungshintergrund und Autoren
Im Film „Ziemlich beste Freunde“ (2011) treffen zwei „Unberührbare“ aufeinander: Der querschnittgelähmte Tetraplegiker, der nur noch über seine Mimik bestimmen kann, Aristokrat und Erbe eines erfolgreichen französischen Industriekonzerns, Philippe Pozzo di Borgo, und der gerade aus dem Gefängnis entlassene Kleinkriminelle Abdel Sellou. Dem Film liegt das gleichnamige Buch von Philippe Pozzo di Borgo (Paris 2001 / Berlin 2012) zugrunde. Der bei einem Gleitschirmunfall 1993 schwer verletzte Autor und sein Pfleger finden über unbeschreibliche Widerstände, Missverständnisse und Streitereien schließlich zu einem Modus Vivendi und zur Freundschaft. Der Film wird zu einem der größten Kinoerfolge der Nachkriegszeit. Allein in Deutschland haben mehr als 8,5 Millionen Besucher den Film gesehen. Die überwiegend authentische Geschichte hat weltweit zu einer neuen Aufmerksamkeit geführt und ein (neues) Bewusstsein geschaffen: „Behinderungen sind von erschreckender Normalität“.
Philippe Pozzo di Borgo, der Philosoph und Gründer der „Arche“, Jean Vanier, und der Unternehmer und Gründer des Vereins „Simon de Cyrène“, Laurent de Cherisey, haben, in je unterschiedlicher und unvergleichlicher Weise in ihrem Leben erfahren, wie „Verletzlichkeit“ und „Behinderung“ menschliches Dasein beeinflussen und Menschen deklassieren kann. In dem Buch „Ziemlich verletzlich, ziemlich stark“ arbeiten sie die Geschichte des Films und ihres Erfolges heraus und formulieren „Wege zu einer solidarischen Gesellschaft“.
Mit dem Motto „Ziemlich verletzlich, ziemlich stark – Für eine inklusive Gesellschaft“ veranstaltet der Hanser-Verlag und der Verein „Aktion Mensch“ zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung, am 3. Dezember 2012 eine Lesung und Diskussion mit Philippe di Borgo und Abdel Sellou in der Berliner Columbiahalle. De deutschen Film-Stimmen von „Philippe“ und „Driss“, Frank Röth und Sascha Rothermund, lesen aus den Büchern „Ziemlich beste Freunde“ (2011) und „Einfach Freunde“ (2012); die ZDF-Moderatorin und Dressurreiterin, Teilnehmerin der Paralympics 2004 und 2008, Bettina Eistel, und der blinde Bergsteiger Andy Holzer, diskutieren mit di Borgo und Sellou.
Aufbau und Inhalt
Die Redakteurin der Wochenzeitung DIE ZEIT, Elisabeth von Thadden, führt zuerst ein Gespräch mit Philippe Pozzo di Borgo (Der Text erscheint als Vorabdruck in der Beilage ZEIT LITERATUR, Nr. 49 – November 2012, S. 27ff). Mit der Begriff der „Brüderlichkeit“ verdeutlicht di Borgo die Alternativen zum konkreten kapitalistischen „System ohne Sinn und Verstand“. Er prangert die ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Privilegien von Wenigen an und fordert auf, der Gesellschaft etwas davon zurück zu geben (vgl. dazu auch das Konzept der Nobelpreisträgerin von 2009: Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php; den Einspruch der Journalistin: Petra Pinzler, Immer mehr ist nicht genug! Vom Wachstumswahn zum Bruttosozialglück, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13332.php sowie die Vision: Silke Helfrich / Heinrich-Böll-Stiftung, Hrsg., Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13482.php).
Mit einem Appell an die individuelle und gesellschaftliche Solidarität wenden sich die Autoren an die Leser und erinnern an die „Unberührbaren“, die in der Gesellschaft leben: „Das Volk der Unberührbaren“: 12 Millionen Franzosen mit unterschiedlichen körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen, 8,7 Millionen in Deutschland… „Der Wert eines Menschen lässt sich nicht nur an s einer Tüchtigkeit oder an seinen Leistungen ermessen. Er hat auch viel mit der Fähigkeit zu tun, sich auf andere einzulassen“.
„Wer sind wir?“ – Philippe Pozzodi Borgo, Jean Vanier, Laurent de Cherisey. Die kurz gefassten Lebensgeschichten ermöglichen den Leserinnen und Lesern eine persönliche Zuordnung zu den Motivationen der Autoren, Alternativen zu den aktuellen Systemen und Gewohnheiten der Menschen zu entwerfen: „Schluss mit den Lügen“ und Mut, sich auf dem Weg in eine humanere Gesellschaft zu machen – im Erkennen der eigenen Stärken und im Akzeptieren der eigenen Schwächen, und damit einen Perspektivenwechsel zu ermöglichen.
„Geld – ein wichtiger, aber nicht der wesentliche Faktor“, das ist eine Auffassung, die sich durch die Geschichte der Menschheit zieht, mit Pro und Contra, mit Erkenntnis und Ausbeutung: „Es gilt ein Gleichgewicht zu finden zwischen staatlicher Verantwortung und unserem eigenen Einsatz“ (vgl. dazu auch: Michael J. Sandel, Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes, Berlin 2012, 300 S., Rezension in Socialnet).
„Mit der Unsterblichkeit abrechnen“, das ist die schwierige, aber unausweichliche Verpflichtung, den Tod als ein Teil des Lebens zu betrachten und als „eine Grundvoraussetzung, um das Leben in seiner Gänze zu erfassen“ (vgl. dazu auch: Wolfgang Bergmann, Sterben lernen, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12581.php)
„Ein bestimmter Blick“ auf Menschen mit Behinderungen, wie auch deren Blick zurück zu den „Nichtbehinderten“, das sind Reaktionen, die der individuellen und gesellschaftlichen Überprüfung bedürfen – und vielleicht durch gemeinsames Lachen möglich werden.
Mit der Frage „Die Behinderung schüchtert Sie ein?“ wird ein Problem angesprochen, das sich alltäglich beobachten lässt: „Wir sind geneigt, einen Menschen mit Behinderung nicht als vollwertig zu betrachten und ihm das Recht auf eine eigene Meinung abzuerkennen“.
„Wechselseitige Abhängigkeit“, das ist eine Chance, Schwächen zu erkennen und Stärken zu erfahren: „Verletzliche Menschen haben die erstaunliche Fähigkeit, uns dies vor Augen zu führen“.
„Im Wort ‚Unberührbarkeit‘ steckt die Berührung“, eine empathische Entdeckung und eine Möglichkeit, Gefühle wie Zärtlichkeit und Geduld einzuüben: „Geduld ist die wichtigste Voraussetzung, wenn es darum geht, für verletzliche Menschen da zu sein und ihnen Raum geben zu können“.
„Eine innere Revolution“, in dieser Überschrift stecken Vokabeln wie „Umkehr“, „Veränderung“, „Einsicht“, „Verständnis“, „Vergebung“, als Erfahrungen, die in der Stille wachsen können, „so dass wir auf das Andere zugehen und auf diese Weise entdecken können, dass das einzig Wertvolle, für das es sich zu kämpfen lohnt, der Zusammenhalt ist“.
Die Wegemarken hin zu einer solidarischen Gesellschaft münden in der Aufforderung „Zusammenleben“. Die Aufforderung endlich aufzuhören, über Behinderungen bei Menschen zu sprechen, sondern gemeinsam mit ihnen das Leben bewältigen.
Fazit
In den Diskursen und Fallbeispielen der holperigen Wegstrecke vom Egoismus zum Gemeinsinn wird immer wieder auf die von Jean Vanier 1964 gegründete internationale Einrichtung der Arche (L„Arche) Bezug genommen, in der in vielen Ländern der Erde insgesamt 140 Gemeinschaften von behinderten und nichtbehinderten Menschen zusammen leben (www.arch-france.org / www.arche-deutschland.de); ebenso wie auf den Verein „Simon de Cyrène, den 2005 Laurent de Cherisey einrichtete und der sich ebenfalls für ein freundschaftliches und solidarisches Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung einsetzt (www.simondecyrene.org). Beide Organisationen bieten im Rahmen des in Deutschland und Österreich eingerichteten Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) jungen Erwachsenen die Möglichkeit an, in Hausgemeinschaften mit behinderten Menschen zusammen zu leben: „Wer als Freiwilliger zur Arche oder zu Simon de Cyrène kommt, lässt sich auf unerwartete Begegnungen ein, die ihn vielleicht verwandeln werden“ (www.arche-volontaire.org / www.simondecyrene.org/personnes-handicapees).
Der Verein Aktion Mensch e.V. (www.aktion-mensch.de) hat zum Buch jeweils bei den einzelnen Kapiteln die aktuellen gesellschaftlichen und rechtlichen Informationen über die Situation der Behinderten in Deutschland beigesteuert. Im Nachwort stellt sich die Einrichtung vor und zeigt Möglichkeiten zur ehrenamtlichen Mitarbeit wie zur Förderung von Projekten auf.
Film und Buch stellen sichtbare, erlebbare und empathische Möglichkeiten vor, welche vielfältigen Wege hin zu einer sozialen, gerechten und solidarischen Gesellschaft lokal und global gegangen werden können, individuell in Gemeinschaft mit anderen Menschen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 16.01.2013 zu:
Philippe Pozzo di Borgo, Laurent de Cherisey, Jean Vanier: Ziemlich verletzlich, ziemlich stark. Wege zu einer solidarischen Gesellschaft. Hanser Berlin
(Berlin) 2012.
ISBN 978-3-446-24155-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14430.php, Datum des Zugriffs 06.12.2023.
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