Randye J. Semple, Jennifer Lee: Achtsamkeitsbasierte Therapie für Kinder mit Angststörungen
Rezensiert von Dr. Kirsten Oleimeulen, 06.05.2014

Randye J. Semple, Jennifer Lee: Achtsamkeitsbasierte Therapie für Kinder mit Angststörungen. Ein Handbuch.
Junfermann Verlag GmbH
(Paderborn) 2013.
280 Seiten.
ISBN 978-3-87387-893-8.
32,90 EUR.
Aus dem Amerikanischen von Guido Plata.
Was ist Achtsamkeit?
Unter „Achtsamkeit“ versteht man die Fähigkeit, im Augenblick verweilen und ihn dadurch intensiv erleben und genießen zu können. Achtsamkeit (engl. Mindfulness) ist eine spezielle Form der Aufmerksamkeitslenkung. Es ist das absichtsvolle, klare, unabgelenkte, offene und annehmende Beobachten und Gewahrwerden dessen, was im Augenblick der jeweiligen gegenwärtigen Erfahrung geschieht, ohne irgendeine Bewertung positiver oder negativer Art. Vollkommene Achtsamkeit führt zu Freude, zu tief empfundenem Frieden und zu innerer Freiheit. Achtsamkeit hebt die Dualität zwischen dem Betrachter und dem betrachteten Objekt auf. Wir und uns er Atem sind Eins. Wenn der Atem ruhig wird, werden wir ruhig. Unser Atem lässt Körper und Geist ruhig werden.
Funktion und Bedeutung von Angst bei Kindern
Angst kann in einen Primäraffekt (im Sinne einer Zustands-Angst), ein Persönlichkeitsmerkmal (Eigenschafts-Angst) und eine pathologische Angst unterschieden werden. So widersprüchlich es zunächst klingen mag: Die Angst ist etwas Nützliches. Sie ist in Alarmzeichen für drohende Gefahr. Man kann sie mit dem Schmerz vergleichen; wie der Schmerz ein Alarmzeichen dafür ist, dass etwas im Körper nicht stimmt, ist die Angst ein Zeichen dafür, dass etwas von aussen droht. So hat die Angst wie der Schmerz eine Bedeutung fürs Überleben. Keine Angst zu kennen, ist gefährlich. Und weil die Angst eine lebenswichtige Funktion ist, gehört sie auch zur gesunden, normalen Entwicklung eines Kindes. So sind Kinderängste weitverbreitet. Viele dieser Ängste sind entwicklungstypisch,
gehören zu einem bestimmten Alter, und verschwinden mit dem weiteren Heranwachsen wieder – und man kann sagen, dass es eine der bedeutenden Entwicklungsaufgaben in den ersten zehn Lebensjahren ist, mit der Angst umgehen zu können, Angst mit eigenen Methoden bewältigen zu lernen und so zu einem guten Selbstvertrauen zu kommen.
Angststörungen manifestieren sich häufig bereits im Kindes- und Jugendalter; die Trennungsangst kann bereits im Kindergarten die psychosoziale Entwicklung beeinträchtigen. Angststörungen gehen mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung weiterer psychischer Störungen einher; insbesondere sind hier Angststörungen des Erwachsenenalters und affektive Störungen zu nennen.
Autorinnen
- Dr. Randye J. Semple ist wissenschaftliche Assistentin in der Abteilung für Psychiatrie und Verhaltensforschung der University of Southern California.
- Dr. Jennifer Lee arbeitet als klinische Psychologin in eigener Praxis, in einer Kinderklinik und lehrt am Marist College.
Aufbau und Inhalt
Das Buch „Achtsamkeitsbasierte Therapie für Kinder mit Angststörungen“ ist in drei Teile und insgesamt 14 Kapitel aufgegliedert.
Zu I: Ein achtsamkeitsbasierter Ansatz zur Behandlung von Angststörungen in der Kindheit
1. Der Tanz zwischen zwei Welten: Buddhistische Psychologie und kognitive Psychologie. Zu bekommen was wir wollen ist Leid, nicht zu bekommen was wir wollen ist Leid. Jedes Festklammern an irgendeiner vergänglichen Sache ist Leid. Das Leben ist so, wie es ist perfekt, aber es wird nicht immer so sein, wie wir es gerne hätten.
2. Das Problem der Angststörung verstehen. Die Inzidenz von Angststörungen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch erhöht, und die wahrscheinlichste Erklärung hierfür scheint ein Zusammenhang mit Veränderungen in unserer soziokulturellen Umwelt zu sein. Jean Twenge (2000) vertritt die Auffassung, dass Kinder, die sich nicht sowohl sicher, als auch mit anderen Menschen verbunden fühlen, ein deutlich höheres Risiko zur Entwicklung einer Angststörung in sich tragen.
3. Unterschiedliche Paradigmen und unterschiedliche Ziele. Das Bedürfnis nach Veränderung loszulassen ist ein grundlegender Unterschied zwischen achtsamkeitsbasierten Ansätzen und anderen Therapieformen. Die ABKT-K unterscheidet sich zusätzlich im Besonderen durch die Erwartung, dass das, was Sie lehren, auch ein integraler Bestandteil Ihres persönlichen Lebens sein soll. Ebenso wie beim Geigespielen besteht der einzige Weg zum Verständnis von Achtsamkeit darin, viele Stunden persönlicher Erfahrung und Übung zu investieren.
4. Die Anpassung der achtsamkeitsbasierten kognitiven Therapie für Kinder. Die hier folgende Form der ABKT-K basiert auf dem theoretischen Hintergrund der ABSR und der ABKT angepasst an die affektiven und kognitiven Entwicklungen, der Fähigkeit zur Vigilanz und der Einbeziehung der Familie von Kindern. Zur achtsamkeitsbasierten Therapie von Kindern gehört daher:
- der „Ort der Stille“,
- Regeln für achtsames Verhalten,
- der Sorgenkorb,
- die Glocke der Achtsamkeit,
- die Achtsamkeitsliste,
- Gefühlgesichter und
- „Übungen für zu Hause“.
Zu II Die achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie für Kinder
5. Übersicht über die zwölf Sitzungen des Programms. In diesem Kapitel wird das Programm mit seinen zwölf Sitzungen überblicksartig in Tabellenform dargestellt. Anschließend wir das benötigte Material vorgestellt und eine Einführung der Achtsamkeit für Eltern vorgestellt. Das Kapitel wird mit der persönlichen Vorbereitung des/der Therapeuten/-in abgerundet.
6. Eine neue Art des Daseins in der Welt. Die ersten Übungen „Gegenseitiges Kennenlernen“ und „Achtsamkeit in einer Tasse“ werden vorgestellt. Der therapeutische Schwerpunkt der Übungen besteht in der achtsamen Nachbesprechung der Übungen, d.h. das wesentliche Ziel ist es, jedes Kind bei der Beschreibung seiner Erfahrungen zu unterstützen. Dabei gilt die allgemeine Richtlinie, dass die Förderung der natürlichen Präsenz und der angeborenen Fähigkeit zur Achtsamkeit aufseiten des Kindes eher hilfreich sein wird als das Loben der Ergebnisse seiner Bemühungen.
7. Wer bin ich, und warum mache ich das hier? Im Mittelpunkt steht die 3. Sitzung mit der Frage: „Wer bin ich?“ Das „Ich“ ist das, was die Gedanken beim Kommen und Gehen beobachtet. Dabei werden folgende wichtige Punkte vermittelt:
- Gedanken sind nicht „Ich“. Gedanken sind „bloße Gedanken“.
- Gedanken treten in der Gegenwart auf, beziehen sich jedoch oft auf die Vergangenheit oder die Zukunft.
- Gedanken müssen die gegenwärtige Realität nicht zutreffend widerspiegeln. Gedanken sind keine Tatsachen.
- Gedanken können dennoch Gefühle, körperliche Empfindungen und Verhalten beeinflussen.
8. Achtsames Schmecken. Achtsames Schmecken befasst sich mit der Übung „Sich einer Orange öffnen“. Gedanken sind nicht die Orange. Gefühle sind nicht die Orange. Die Orange ist genau so, wie sie ist, perfekt. Wir können uns dafür entscheiden, uns mit Nahrungsmitteln zu ernähren, die höchstwahrscheinlich unsere physischen Bedürfnisse befriedigen und unser emotionales Wohlbefinden steigern.
9. Klangerfahrungen. Zum Thema „Musik in unseren Ohren“ sagte Victor Hugo einmal „Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist“ (Galewitz, 2001, S. 25). Die zentralen Punkte die dabei vermittelt werden sollen sind:
- Wenn wir mit Achtsamkeit hören, werden wir uns unsere Gedanken, Gefühle und körperlichen Empfindungen bewusster.
- Gedanken, Gefühle und körperliche Empfindungen färben darauf ab, wie wir Geräusche erleben, und sie beeinflussen, wie wir andere Ereignisse in unserem Leben wahrnehmen.
- Mit unseren Gedanken erschaffen wir individuelle und einzigartige Beziehungen und Erfahrungen.
10. Klar sehen. Die Übung „Das Sehen üben“ möchte die Aufmerksamkeit durch absichtsvolles Sehen steigern. Sich im Beobachten anstatt im Beurteilen der Dinge zu üben kann zu einer Geisteshaltung führen, die eine teilnahmsvolle Akzeptanz von uns selbst und den Ereignissen in unserem Leben fördert.
11. Achtsame Berührungen. Die Übungen zum achtsamen Berühren in Sitzung 9 helfen einem Kind dabei, sich Oberflächenstrukturen und anderen physischen Empfindungen bewusster zu werden. Zentrale Aspekte der Vermittlung sind:
- Wir haben über viele Dinge in unserer Umwelt nur wenig Kontrolle, aber wir haben oft eine Wahl, wie wir darauf reagieren wollen.
- Entscheidungspunkte existieren nur im gegenwärtigen Moment. Eine höhere Bewusstheit dieses Moments kann uns mehr Entscheidungspunkte erkennen und uns mehr Freiheit in Bezug auf unsere Reaktion gewinnen lassen.
12. Der Sinn für Gerüche. Das Ziel dieser Sitzung besteht darin, den von uns gefällten Urteilen mit mehr Bewusstheit zu begegnen und zu verstehen, wie sich diese Urteile auf unser Leben auswirken können. Auf Folgendes wird dabei fokussiert:
- Was wir riechen ist in Wirklichkeit eine Kombination des Geruchs mit unseren Urteilen über diesen Geruch. Etwas zu riechen und den Geruch zu beurteilen sind zwei getrennte Aktivitäten.
- Wir reagieren oft auf Ereignisse, indem wir uns denen annähern, die wir positiv beurteilen, und uns von denen entfernen, die wir negativ beurteilen. Auf lange Sicht führt keine dieser Reaktionen zu einer Reduzierung von Angst oder zur Steigerung von Glück.
13. Achtsamkeit als Lebensart. Achtsamkeit ist im Alltag stets als Option vorhanden. Jeder Moment liefert uns eine neue Gelegenheit, uns in Achtsamkeit zu üben. Wir können Achtsamkeit mit unserem Atem, unserem Körper und allen Sinnen kultivieren. Mehr Bewusstheit in unser Leben einzubringen ist eine persönliche Entscheidung und hängt von niemandem außer uns selber ab. Leben mit Achtsamkeit erfordert Hingabe, Leidenschaft und fortwährendes tägliches Üben.
Zu III Achtsamkeit aus wissenschaftlicher Perspektive
14. Vergangenheit und Zukunft der ABKT-K. Das ABKT-Progamm ersetzt keine psychotherapeutische Behandlung. Gut Evaluationsergebnisse konnten allerdings für die Gruppe der 9-12 Jährigen Kinder und Jugendliche erreicht werden, da sie über die notwendigen kognitiven Fähigkeiten verfügen, die das Programm zur effektiven Durchführung benötigt. Die Kultivierung von Achtsamkeit kann Kindern im Prä-Teenageralter dabei helfen, ihre emotionale Gelassenheit zu stärken, um sich auf die Herausforderungen vorzubereiten, denen sie in der Adoleszenz begegnen werden.
Zielgruppe
Das Buch „Achtsamkeitsbasierte Therapie für Kinder mit Angststörungen“ von Randye J. Semple & Jennifer Lee richtet sich an erfahrene Psychotherapeuten/-innen, die ihr Methodenrepertoire erweitern wollen und gleichzeitig ihre persönliche Weiterentwicklung anstreben.
Fazit
Mit dem Buch „Achtsamkeitsbasierte Therapie für Kinder mit Angststörungen“ von Randye J. Semple & Jennifer Lee stoßen die Autorinnen zur rechten Zeit in eine Lücke, die es in der dritten Therapiewelle noch zu schließen galt. Die ABKT wird nicht nur für Kinder und Jugendliche angepasst. Gleichzeitig wird dem/der interessierten Leser/-in eine Alternative für reaktive Besucher in den Praxen und Kliniken geboten. Viele Klienten/-innen zeigen sich widerständig gegenüber dem traditionellen Veränderungswunsch herkömmlicher therapeutischer Ansätze. Paradoxerweise strebt die ABKT-K nach Veränderung, indem wir die Dinge so akzeptieren, wie sie sind. Für eine/-n konventionell ausgebildete/-n Therapeuten/-in besteht die schwierigste Komponente der ABKT-K wahrscheinlich darin, den Wunsch nach Veränderung aufzugeben. Aber genau das, kann als Katalysator für signifikante Veränderung wirken. Grundvoraussetzung für diesen innovativen Zugang ist das eigene erfahrungsbasierte Verständnis des/der Therapeuten/-in. Akzeptanz beinhaltet die Annahme, dass die Dinge so, wie sie sind, perfekt sind. In diesem Sinne ist dieses Buch perfekt.
Rezension von
Dr. Kirsten Oleimeulen
Psychologin – Familienberaterin, akkreditierte Psychologin für Gesundheitspsychologie und Prävention (BDP), systemische Familientherapeutin und Supervisorin, online-Beraterin
Website
Es gibt 96 Rezensionen von Kirsten Oleimeulen.
Zitiervorschlag
Kirsten Oleimeulen. Rezension vom 06.05.2014 zu:
Randye J. Semple, Jennifer Lee: Achtsamkeitsbasierte Therapie für Kinder mit Angststörungen. Ein Handbuch. Junfermann Verlag GmbH
(Paderborn) 2013.
ISBN 978-3-87387-893-8.
Aus dem Amerikanischen von Guido Plata.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14439.php, Datum des Zugriffs 04.12.2023.
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