Joanna Macy, Norbert Gahbler: Fünf Geschichten, die die Welt verändern
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.06.2013
Joanna Macy, Norbert Gahbler: Fünf Geschichten, die die Welt verändern. Einladung zu einer neuen Sicht der Welt. Junfermann Verlag GmbH (Paderborn) 2013. 2., überarbeitete Auflage. 96 Seiten. ISBN 978-3-87387-923-2. 10,90 EUR.
Aus der selbstverschuldeten Ignoranz ausbrechen
Die Menschheit muss in ihrer Existenz einen Perspektivenwechsel vollziehen, will sie überleben. Das ist keine fatalistische Erkenntnis, sondern eine Einsicht, die mittlerweile in vielfältiger Weise auf den Tisch des menschlichen Lebens gelegt wurde; etwa durch die Berichte an den Club of Rome, dass die Grenzen des Wachstums erreicht seien (1972), dass sich die Menschheit am Wendepunkt ihrer Geschichte befinde (1974), dass die Welt im Jahr 2000 noch übervölkerter, verschmutzter, ökologisch noch weniger stabil und für Störungen anfälliger sein wird als 1980 (Global 2000. Bericht an den Präsidenten), dass „throughput growth“, Durchflusswachstum eingestellt und eine tragfähige Entwicklung auf der Erde eingeleitet werden müsse (Brundtland-Bericht 1987), dass die Menschheit an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte angelangt sei, (Agenda 21, 1992) und dass die Menschheit vor der Herausforderung stehe umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren und neue Lebensformen finden (Weltkommission „Kultur und Entwicklung“, 1995) und erkennen müsse, dass der Mensch zur Erde und nicht die Erde dem Menschen gehöre (MAB).
Entstehungshintergrund und Autorenteam
Dass die Einsichten in ein Umdenken trotz der zahlreichen Warnungen, Prognosen und Analysen scheinbar bei den Menschen so wenig wirksam werden, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden und die lokalen und globalen Katastrophen auf allen Gebieten des menschlichen Lebens zunehmen, lässt nicht wenige hilflos und resignativ zurück. In den jährlich erscheinenden Berichten des New Yorker Worldwatch Institute „Zur Lage der Welt“ wird vor der Überhitzung des Planeten Erde gewarnt (2009), „Hunger im Überfluss“ attestiert (2011) und die Gier der Menschen nach Immer-Mehr angeprangert (2012). Da sind es Hoffnungsschimmer und Lichtblicke, dass es den Menschen, als vernunftbegabte und politische Lebewesen doch gelingen könne, die Mauern der Selbstsucht und der Uneinsichtigkeit zu überwinden und für einen nachhaltigen Lebensstil einzutreten. Es sind meist unspektakuläre und als selbstverständlich daherkommende Aktivitäten, die solidarische Wege aufzeigen (Philippe Pozzo di Borgo / Laurent de Cherisey, Jean Vanier, Ziemlich verletzlich, ziemlich stark. Wege zu einer solidarischen Gesellschaft, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14430.php), sich als „Samenkörner“ von sozialen Initiativen darstellen (Maria Mies, Hrsg., Farida Akther. Samenkörner sozialer Bewegungen, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11498.php), auffordern, „dem Fluch des niedrigen Preises ab(zu)schwören, … dem Fluch der niedrigen Kosten den Garaus (zu) machen, … dem Fluch der hohen Renditen aus(zu)treiben, … dem Fluch des mächtigen Mainstreams ein(zu)dämmen, …den Fluch der falschen Kundenorientierung (zu) bekämpfen und dem Fluch der großen Konzerne die Stirn (zu) bieten“ (Uli Burchardt, Ausgegeizt! Wertvoll ist besser – das Manufactum-Prinzip, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13485.php) und zu erkennen, dass es kein richtiges im falschen Leben gibt (Manfred Lütz: Bluff! Die Fälschung der Welt, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14059.php).
Es gibt verschiedene Zugänge zu einem „Dennoch!“ und zur Überzeugung, dass eine andere, bessere, gerechtere und friedlichere (Eine?) Welt möglich ist. Das Bewusstsein, dass der Mensch „grundlegend nicht ein weltfremdes, sondern ein welthaftes Wesen“ (Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14323.php ) und alles Lebende auf der Erde ökologisch ist (Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11451.php ), greift immerhin immer deutlicher (und unaufhaltsamer) um sich.
Mit der Metapher „Tanz des Lebens“ drückt die 1929 geborene US-amerikanische Systemwissenschaftlerin und Buddhismus lehrende Joanna Macy mit der Theorie der „Tiefen Ökologie“ aus, dass die Erde ein lebendes, ganzheitliches System ist, in dem alle Dinge miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Ob die Welt als Schlachtfeld, als Falle oder als Geliebte und Teil meiner selbst betrachtet wird, bestimmt das Weltbild. Mit dem Zuspruch „Sei du selbst!“ beeinflussen ihre Ideen und Aktivitäten beeinflussen Bewegungen für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Schutz der Umwelt. „Die Krise(n), die unseren Planeten bedrohen, sind von Menschen gemacht, sie entspringen einem untauglichen, krankhaften Verständnis vom Selbst“ ( vgl. dazu auch: Thich Nhat Hanh: Du bist ein Geschenk für die Welt. Achtsam leben jeden Tag – Ein Begleiter für alle Wochen des Jahres, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10588.php). Die Wirkungen und Faszinationen, die Joanna Macy auf ihre Umgebung und die Mitmenschen ausübt, lassen sich in einer kleinen Geschichte zeigen: Bei einer Konferenz über Umweltfragen stellte der Konferenzleiter sie vor mit den Worten: „Dies ist Joanna Macy. Sie hat sehr viele Freunde. Die meisten von ihnen sind noch gar nicht geboren“.
Norbert Gahbler, geboren 1954, ist Trainer in der Gesellschaft für angewandte Tiefenökologie. Er arbeitet seit 1986 mit Joanna Macy zusammen. Es sind Formen der mündlichen Überlieferung, wie sie in vielen Kulturen als Erzählungen und Weitergabe von Geschichte und Normen praktiziert werden, die ihn in seiner therapeutischen und Bildungsarbeit faszinieren und ihn dazu bringen, „Geschichten zu erfinden, zu sammeln und zu erzählen, die großen und kleinen Leuten helfen können, ihr Verbundensein mit der Erde und untereinander zu spüren“.
Aufbau und Inhalt
Es sind fünf Geschichten, die deutlich machen sollen, dass wir „uns diese Suppe selbst eingebrockt“ haben, nämlich einen Zustand der Welt und Menschheit, der viel Leid, Zerstörung, Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit für die Menschen und die Umwelt bringt. Dabei nicht zu resignieren oder zu fatalisieren, sondern den „großen Wandel“ (Great Turning) zu beginnen, bei sich selbst, in der eigenen Umgebung und Gesellschaft, um tatsächlich ein neues Weltbewusstsein zu erreichen (vgl. dazu auch: Oliver Kozlarek, Moderne als Weltbewusstsein. Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12558.php), das formuliert Joanna Macy mit drei Bewusstseinszuständen:
- Ein Handeln, das die Zerstörung der Erde und ihrer Lebewesen aufhält.
- Analysieren der strukturellen Ursachen und Schaffung von Alternativen.
- Bewusstseinswandel herbeiführen.
Die erste Geschichte stammt aus Nordamerika: „Frieden lernen durch Dankbarkeit“. Sie schildert Geschichte und Schicksale von unterdrückten indigenen Völkern und die Verläufe beim „Six-Nations-Bündnis“, bei dem die Indianerstämme der Mohawk, Cayuga, Oneida, Seneca, Tuscaroa und Onondaga das „Haudenosaunee“, das „Große Gesetz des Friedens“ beschlossen haben. Es sind nicht Proteste gegen Ungerechtigkeiten, gegen die Abwehr von Landrechtsklagen, Entschädigungen und Wiedergutmachungen der indigenen Völker durch die Mächtigen, sondern „Grüße an die natürliche Welt“, die Gemeinsamkeit statt Trennung, Vielfalt statt Einfalt und Gerechtigkeit statt Ungerechtigkeit fordern.
Die zweite Geschichte kommt aus Russland: „Der Weg in die Wälder“. Sie handelt von den Vorkommnissen, wie sie durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl entstanden sind, und von den Reaktionen und Folgen, die von den Verantwortlichen danach veranlasst wurden. Ein Besuch von Joanna Macy und ihrem Team in der Stadt Novozybkov, der am meisten verstrahlten Stadt, die nicht evakuiert wurde. Weil die radioaktive Wolke in Richtung Moskau sich bewegte, haben die Verantwortlichen in der Sowjetunion beschlossen, die Wolke mit Silberpromid zu impfen. Die kondensierten Partikel regneten über den Wäldern, Feldern und Städten der Region Grjansk ab und verstrahlten das gesamte Gebiet. In der Geschichte schildert Joanna Macy die Begegnung mit Menschen dort und ihre Eindrücke und Gefühle, als sie beim „Ulmentanz“ die Katastrophe nicht weg-, aber zum Verstehen in sich hineintanzten.
Die dritte Geschichte spielt in Indien: „Unerwartete Begegnung mit einem Lastenträger“. Sie schildert das Leid und die Not der Menschen in Tibet, und sie erzählt von der Ohnmacht der (sich sowohl um Mitgefühl bemühenden als auch Teilnahmslosigkeit zeigenden) Menschen und zeigt auf, wie mit Meditationsformen, die in den asiatischen Kulturen und Philosophien bekannt sind und angewandt werden, „liebevolle Freundlichkeit“ erzeugt werden kann.
Mit der vierten Geschichte aus Australien „Der Regenwald erkennt sich selbst“ konfrontiert Joanna Macy uns mit den Problemen, Verzweiflungen und Widerstandsbewegungen, wie sie Menschen betreffen, die durch Uranerzabbau und Rodung von subtropischen Regenwäldern im fünften Kontinent bedroht sind. Trotz Niederlagen, Frustrationen und Resignation waren es einige Wenige, die es wagten, gegen die ökonomische Gier und den schädlichen Fortschrittsglauben aufzustehen und ein Stück Urwald retteten. Die Methoden und Zugänge dazu, die übertragbar sind auf jede Form von Widerstand gegen Ausbeutung und Egoismus, nennt Macy „Konferenz des Lebens“.
Aus Tibet kommt die fünfte Geschichte: „Khampagar – einen Stein auf den anderen setzen“. Sie beschreibt die politische Situation in der von China besetzten Autonomen Region Tibet und erzählt von Menschen, die trotz politischer und ideologischer Behinderungen daran gegangen sind, das berühmte, Jahrhunderte alte, verfallene ehemalige Zentrum des tibetischen Buddhismus wieder aufzubauen. Ihre Gefühle und Hochachtung für dieses Vorhaben erkennt die Autorin in dem Rat: „Warte nicht, tu es einfach. Eine bessere Gelegenheit kommt vielleicht niemals. Legen einen Stein auf den anderen. Vergeude deine Geisteskraft nicht damit, deine Erfolgschancen berechnen zu wollen. Habe einen langen Atem. Was zählt, auf lange Sicht, ist Beharrlichkeit“.
Fazit
Im abschließenden Gespräch, das Norbert Gahbler mit Joanna Macy führt, kommt noch einmal zum Ausdruck, was sich in den „fünf Geschichten, die die Welt verändern“ spiegelt: „Es reicht, das zu tun, was wir tun – aus ganzem Herzen“. Es sind Gedanken, die Mut machen zu handeln und den vielen, selbst- und fremdgemachten Bedenklichkeiten den Mut entgegen zu setzen und mit Verstand und Herz mitzuhelfen, dass der „große Wandel“, der notwendige Perspektivenwechsel einsetzt. Joanna Macy subsummiert diese Hoffnung und diesen Willen, indem sie für Leitsätze für humanes Handeln formuliert: „Beginne mit Dankbarkeit!“ – „Fürchte dich nicht vor der Dunkelheit!“ – „Traue dich, Visionen zu haben!“ – „Nutze die Kraft der Verbundenheit!“ – „Steh zu deinem wahren Alter!“. Das sind scheinbare Allerweltsweisheiten; und es gibt genug Bedenkenträger, die ganz schnell und wortreich Gegenargumente zur Hand haben. Mit dem Gedanken- und Handlungskonstrukt der Tiefen Ökologie werden keine Rezepte und Handlungsanweisungen vermittelt, vielmehr geht es darum zu erkennen, dass „Tiefe Ökologie bedeutet, immer tiefere Fragen zu stellen“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 19.06.2013 zu:
Joanna Macy, Norbert Gahbler: Fünf Geschichten, die die Welt verändern. Einladung zu einer neuen Sicht der Welt. Junfermann Verlag GmbH
(Paderborn) 2013. 2., überarbeitete Auflage.
ISBN 978-3-87387-923-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14441.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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