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Edda Currle: Migration in Europa. Daten und Hintergründe

Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut M. Griese, 29.03.2005

Cover Edda Currle: Migration in Europa. Daten und Hintergründe ISBN 978-3-8282-0276-4

Edda Currle: Migration in Europa. Daten und Hintergründe. Lucius & Lucius (Stuttgart) 2004. 426 Seiten. ISBN 978-3-8282-0276-4. D: 36,00 EUR, A: 37,10 EUR, CH: 63,00 sFr.
Europäisches Forum für Migrationsstudien (efms), Institut an der Universität Bamberg.

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Hintergrund und Ziele der Publikation

Die vorliegende Publikation ist der Band 8 der Reihe "Forum Migration" des efms (europäisches forum für migrationsstudien) in Bamberg, dessen Leiter der bekannte Migrationssoziologe Friedrich Heckmann ist. Die Autorin Edda Currle ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsbereich "Statistische Berichterstattung zu Migration und Integration". Damit sind auch Funktion und Zielrichtung des Bandes charakterisiert: (Hintergrund-)Informationen liefern und statistisches Überblickwissen über "Migration in Europa" für Wissenschaft, Verwaltung, Politik und Praxis im Sinne eines "Handbuchs" aufarbeiten und systematisch, z.B. in Form von Tabellen und Abbildungen, darstellen.

Aufbau und Inhalt

Ausgewählt wurden (Kriterien nicht ganz klar - vgl. unten) zehn europäische Länder, die kapitelweise jeweils nach identischer (!) Gliederung (Ausnahme Deutschland: "Spätaussiedler"-Thematik !) äußerst informativ und mit einer Fülle von Daten versehen, abgehandelt werden, so dass Vergleiche sinnvoll wären und sich anbieten:

  • Deutschland (64 Seiten),
  • Frankreich (42),
  • Vereinigtes Königreich (38),
  • Niederlande (34),
  • Schweden (44),
  • Österreich (42),
  • Italien (36),
  • Schweiz (42)
  • sowie - jetzt wird's interessant - Polen (30)
  • und Ungarn (30) als neue EU-Länder.
Die Kapitel gliedern sich in
  1. "Migrationsgeschichte, Migrationspolitik und gesetzliche Grundlagen der Zuwanderung" (u.a. "Einführung", "Grund- und Strukturdaten", "Das Migrationsgeschehen seit dem Zweiten Weltkrieg", "Migrationspolitik", "Maßgebliche gesetzliche Regelungen" zu Einreise, Asyl, Staatsangehörigkeit etc.) sowie
  2. "Daten und Fakten" zur Migration (seit 1990, "Formen der Migration" usw.)
  3. und abschließend 3) ein kurzes "Resümee".

In der "Einführung" (S. 15f) wird das Erkenntnisinteresse der Autorin bzw. der Reihe präzisiert: "Zuwanderung und Integration sind zu beherrschenden Themen der europäischen Politik geworden. Die Frage nach präzisen Informationen zu Wanderungsbewegungen in Europa wird zunehmend wichtig ... Das vorliegende Handbuch liefert vergleichbare Daten zum Migrationsgeschehen in ausgewähl­ten Ländern Europas und bietet gleichzeitig Hintergrundinformationen zum Thema. Der Berichtszeitraum der statistischen Informationen beginnt 1990 (bis etwa 2003, H.G.) ... Jedes der ausgewählten Länder besitzt Merkmale, die es für eine Analyse besonders wertvoll macht". Diese Merkmale sind sehr heterogen, was einen Vergleich der Länder sicher erschwert: Betroffenheit von der "Öffnung Osteuropas" (Deutschland), "Einwanderungstradition" (Frankreich), "koloniale Vergangenheit", "Asylpolitik" als Hauptthema (UK), "ausgeprägte Migrations- und/ oder Integrationspolitik" (Niederlande, Schweden), "junge Einwanderungsgeschichte" (Schweden), EU-Ost-Erweiterung (Österreich und Italien), "hohe Immigrationsraten" (Schweiz) und wenig bekannte Migration in den neuen EU-Beitrittsländern (Polen und Ungarn).

In jedem Länderkapitel erfährt der Leser Grundlegendes über Quantitäten, Arten und Formen des jeweiligen Migrationsgeschehens, über Wanderungszahlen, rechtliche Bestimmungen sowie allgemein zur Migrationspolitik des Landes. Ausgeklammert wird die "illegale Migration", die "in den 90er Jahren zwar mehr und mehr in den Mittelpunkt des Interesses" gelangte (S. 16), jedoch statistisch nicht zugängig ist (vgl. dazu die Rezension zu Nuscheler), so dass sich objektive bzw. quantitative Aussagen schwer treffen lassen. Denn: "Die methodische Arbeit der Forschung beruht auf der Sekundäranalyse offizieller Statistiken, die für jedes Land gesammelt und ausgewertet wurden. Zusätzliche Informationen wurden aus einer schriftlichen Expertenbefragung, die in allen Ländern durchgeführt wurde, gewonnen, ergänzt durch face-to-face-Experten-Interviews mit Experten ausgewählter Länder (methodisch erfährt man dazu leider nichts, H.G.). In die Analyse gingen darüber hinaus Ergebnisse aus einer Literaturrecherche ein, ergänzt durch die Analyse von Quellen zu gesetzlichen Grundlagen" (S. 16), die am Ende jedes Kapitels aufgeführt werden.

Beispiel 1: Migration in Deutschland

Im Folgenden wähle ich auch aus den Länderberichten aus und konzentriere mich, was wohl auf der Hand liegt, auf Deutschland sowie auf Polen (als größtes EU-Beitrittsland und östlicher Nachbar).

Der statistische Zugang zu "Migration in Deutschland" zeigt sehr schön deren nationale und historische Besonderheit, die unterschiedlichsten Zuwanderungen in Form der

  • "Arbeitsmigranten" und
  • deren Nachkommen (zweite, dritte und wohl schon vierte Generation),
  • der (Spät-)"Aussiedler",
  • der "Bürgerkriegsflüchtlinge",
  • der "Asylbewerber" und
  • der "Pendelmigration" (vor allem zwischen Deutschland und Polen).

Auch wird die deutsche Besonderheit der Zu-(Ein-?)Wanderungsdebatte in der jahrelangen kontroversen Debatte um ein Zuwanderungsgesetzt deutlich. Oder: Trotz einer de-facto-Einwanderung seit 1973 ("Anwerbestopp" mit der Folge der Familienzusammenführung) definierte sich Deutschland de jure als Nicht-Einwanderungsland - nunmehr mit einem "Zuwanderungsgesetz"-Kompromiss seit 2004. Auch die "Green-Card-Regelung" von 2000 ist deutschlandspezifisch. Hintergründe dieses migrationspolitischen Wandels in Deutschland sind - neben dem Regierungswechsel von 1998 - sicher die sich dramatisch zuspitzende Bevölkerungs-Entwicklung (sog. "Vergreisungsgefahr" und das Problem des Generations-Renten-Vertrages) und ein sich abzeichnender Fachkräftemangel. Es sind also nicht humane oder menschenrechtspolitische Überlegungen, die einen "Paradigmenwechsel" in der Migrationspolitik eingeleitet haben, sondern schlicht ökonomische und demographische Gründe.

Weiterhin ist Deutschland auf Grund seiner Geschichte (Integration von ca 9 Millionen Flüchtlingen von 1945 bis 1950 nach Westdeutschland und von 3,5 Millionen nach Ostdeutschland; Binnenwanderungen zwischen der BRD und DDR) und des nationalen Einigungsgeschehens seit 1990 in einer Sonderlage. Mittlerweile leben in Deutschland (ca 82 Millionen Einwohner) z.B. über 3 Millionen Moslems und jeweils über 100 000 Buddhisten, Orthodoxe, Zeugen Jehovas, Juden, Neuapostoliker oder Hindus - aber der Leser erfährt nicht, wie viele Konfessionslose hier leben (in Ostdeutschland z.B. etwa 80 % !).

Vielleicht wäre recht interessant gewesen, den Wandel der Terminologie in der Migrationspolitik und -debatte und dessen Hintergründe zu skizzieren, z.B. von der "Ausländerbeauftragten" zur "Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration" (S. 22) oder der Streit um den Namen des ("Einwanderungs"- oder "Zuwanderungs"- oder "Zuwanderungsbegrenzungs"-) Gesetzes - auch das sind "harte Daten"!

Der Leser erhält reichliche Informationen (vor allem ab 1990) über die Anzahl der "Ausländer", deren Alter, Geschlecht, Herkunftsland, Staatsangehörigkeit, über "Zu- und Abwanderungen" (Wanderungssaldo), über diverse "Formen der Migration", "Ehegatten- und Familiennachzug", Green Card (z.B. "nur" 11.984 IT-Fachkräfte sind bis Dezember 2002 zugewandert - 20.000 waren angezielt! - davon hatten bereits 15 % in Deutschland studiert und 88 % sind Männer !).

Deutlich wird auch das Problem (S. 55ff), dass die mittlerweile größte Gruppe der Zuwanderer, die "Spätaussiedler" (vor allem aus der ehemaligen UdSSR), als eigene Migrantengruppe nicht statistisch aufgeführt wird, da diese nach ihrer Anerkennung meist nach einem Jahr in die Bevölkerungsstatistik eingehen, also "Deutsche" sind/ werden und damit nicht mehr eigens identifizierbar ist. Deren Zahl ist zwar seit Ende der 90er Jahre auf unter 100.000 pro Jahr gesunken, damit bleiben sie aber die mit Abstand größte Einwanderungsgruppe der letzten Jahre. Neben diesen routinemäßigen Einbürgerungen (in den 90er Jahren etwa 2 Millionen Menschen "deutscher Volkszugehörigkeit"!) sind seit 1990 weitere ca 1 Millionen "Ausländer" eingebürgert worden (S. 60f). "Ehemals türkische Staatsangehörige bilden die größte Gruppe der Eingebürgerten unter den in Deutschland lebenden ehemaligen Ausländern" (S. 63).

Im "Resümee" (S. 65ff) wird zwar konstatiert, dass "es nun einen allgemeinen Konsens (gibt), dass Deutschland Zuwanderung braucht, dass Deutschland zwar kein klassisches Einwanderungsland, aber immerhin ein Einwanderungsland ist" - "die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt (mit Blick auf die Alltagspolitik, die Stammtische und den nächsten Wahlkampf) der Glaube". Kritisch wird zu Recht angemerkt (ebd.), dass "der gravierendste Mangel der deutschen Zu- und Fortzugsstatistik ist, dass in ihr nicht differenziert werden kann, um welche Form von Migration es sich bei dem jeweiligen Zuzug handelt; sie ist generell blind hinsichtlich der Migrationsarten" - das, was Migration in Deutschland speziell ausmacht, ihre Differenziertheit, geht dadurch oft verloren!

Beispiel 2: Polen

Und nun der Blick auf Polen: "Die Migrationssituation Polens in den 90er Jahren wurde von der Öffnung der polnischen Grenzen bestimmt ... Reisefreiheit ... temporäre Arbeitsmigration ... Pendelmigrationen, vor allem ins Nachbarland Deutschland ... haben die Ausreisen aus politischen Gründen sowie den hohen Aussiedlerzuzug ... abgelöst. Gleichzeitig wurde im Verlauf der 90er Jahre aufgrund ökonomischer Erfolge im Vergleich zu anderen osteuropäischen Ländern Polen zum Ziel von Migrationsbewegungen" (S. 359). Das "große migrationspolitische Problem des Landes liegt in der über 1000 Kilometer langen, schwer zu sichernden Grenze zu Weißrussland und der Ukraine" (ebd.). Polen war in der Zeit des "real existierenden Sozialismus" überwiegend zuerst ethnisch bedingtes und dann politisch verursachtes Auswanderungsland (vor allem seit dem Kriegsrecht von 1981). Exakte Zahlen liegen dazu aber nicht vor, da die Ausreise von "Geflohenen" statistisch von offizieller Seite nicht erfasst wurde. Schätzungen gehen von etwa 1 Millionen Auswanderer in den 80er Jahren aus (S. 361).

Seit 1989/90 liegen ganz neue Migrationsbewegungen vor: "unvollständige Migrationen" und "transnationale Pendelbewegungen" zur vorübergehenden Arbeitsaufnahme, vor allem in Deutschland (vgl. Saisonarbeit, Kleinhandel, Baugewerbe, Touristenvisum). Das aktuelle Migrationsgeschehen in Polen lässt sich aufgrund der mangelhaften Statistik (z.B. "Inkohärenz der verschiedenen zu nutzenden Quellen") schwer detailliert angeben. In Polen leben immer mehr sog. "Kurzzeitmigranten", die Hälfte davon aus der Ukraine, die einer kurzfristigen Erwerbstätigkeit nachgehen - vergleichbar den polnischen Pendelarbeitern in Deutschland. Ursache dieser Wanderung ist das ökonomische West-Ost-Gefälle auf dem Kontinent. Polen ist aber - im Gegensatz zu Ungarn - auch nach 1990 Abwanderungsland mit einem "Wanderungssaldo" von minus 15 bis 20.000 pro Jahr geblieben, obwohl Rück(!)- und Zuwanderungen zunehmen. Im Gegensatz zu den 80er Jahren bestimmen aber seit den 90er Jahren und gegenwärtig vor allem die wirtschaftlichen Verhältnisse die Wanderungsbewegungen von und nach Polen. In den Sommermonaten halten sich schätzungsweise 1 Million der erwerbsfähigen polnischen Bevölkerung im Ausland auf. Feste Abwanderer wählten in den 90er Jahren zu über 70 % Deutschland als Ziel. Die 90er Jahre sind jedoch in Bezug auf Polen das "Jahrzehnt der Pendelmigranten", die zwei Lebensmittelpunkte haben. Oder, wie ein Pole mir vor Jahren sagte: "Arbeiten in Deutschland, leben in Polen - das ist es".

Polen ist das einzige der zehn untersuchten Länder, das eine "durchgängig negative Wanderungsbilanz aufweist". Insbesondere mit Deutschland hat sich eine besondere Form der "Pendelmigration" bzw. ein "Migrationssystem" herausgebildet ("Resümee", S. 380). Valide Zahlen zu Ab- und Zuwanderungen fehlen jedoch, da die Abwanderungsstatistik mangelhaft ist, da sich viele Ab- oder Auswanderer nicht abmelden. Die Zukunft des Migrationsgeschehens in Polen wird hochgradig von der ökonomischen Entwicklung, nicht nur in Polen, sondern in der EU (Deutschland) und in Osteuropa (Ukraine!), bestimmt, so dass sich unterschiedliche (optimistische und pessimistische in Bezug auf eine "Massenmigartion") Szenarien bilden lassen.

Fazit

Allein im "Resümee" für Polen wird eine Prognose (als Szenarien) versucht. Ich erwähne dies abschließend, weil bei aller Bewunderung für die akribischen und datenreichen Darstellungen, die übersichtlichen Tabellen und Statistiken, die Beschreibung von historisch-politischen Fakten und Gesetzgebungen, welche sicher unschätzbare Informationen und Detailwissen für Praktiker liefert, "das Ganze" irgendwie theorie- und perspektivlos bleibt, obwohl sich internationale Vergleiche, begrifflich-komparative Reflexionen, ein Gesamtresümee oder auch Prognosen aus der Fülle der Daten anbieten und ableiten lassen.

Rezension von
Prof. Dr. Hartmut M. Griese
Leibniz Universität Hannover, Philosophische Fakultät, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie.
ISEF-Institut (Institut für sozial- und erziehungswissenschaftliche Fortbildung
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Zitiervorschlag
Hartmut M. Griese. Rezension vom 29.03.2005 zu: Edda Currle: Migration in Europa. Daten und Hintergründe. Lucius & Lucius (Stuttgart) 2004. ISBN 978-3-8282-0276-4. Europäisches Forum für Migrationsstudien (efms), Institut an der Universität Bamberg. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/1445.php, Datum des Zugriffs 09.10.2024.


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