Juliane Jelinski: Es war nicht deine Schuld (weibl. Opfer sexueller Missbrauch)
Rezensiert von Prof. Dr. Ariane Schorn, 12.08.2013

Juliane Jelinski: Es war nicht deine Schuld. Eine empirische Studie zur Bedeutung des Schuldgefühls bei weiblichen Opfern sexuellen Missbrauchs in der Familie.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2012.
314 Seiten.
ISBN 978-3-8379-2231-8.
D: 29,90 EUR,
A: 30,80 EUR,
CH: 41,90 sFr.
Reihe: Forschung psychosozial.
Thema
Menschen, die sexuellen Missbrauch im familialen Umfeld erlitten haben, entwickeln häufig starke Schuldgefühle, die mit einem negativen Selbstbild einhergehen und großen Leidensdruck erzeugen. Die Autorin geht in ihrer Arbeit darum drei Fragen nach: Wodurch entsteht das Schuldgefühl? Welche Auswirkungen oder vielmehr Auswirkungszusammenhänge hat das Schuldgefühl? Was schließlich kann dazu beitragen, das Schuldgefühl zu überwinden bzw. sich aus dem entwickelten Schuldweltbild zu befreien? Um den genannten Fragen auch empirisch nachgehen zu können, hat die Autorin halbstrukturierte-leitfadenorientierte Tiefeninterviews durchgeführt, deren Auswertung in Anknüpfung an einen psychodynamisch-psychotraumatologischen Theoriehintergrund vorgestellt wird. Ziel der Untersuchung war, die Erlebens- und Erfahrungswelt von Missbrauchsopfern tiefer verstehen zu können und die so gewonnen Einsichten für die Verbesserung der therapeutischen Arbeit mit Betroffenen innerfamiliären Missbrauchs fruchtbar zu machen.
Aufbau und Inhalt
Das vorliegende Buch gliedert sich in einen Theorieteil (Kapitel 1 und 2), einen Methodenteil (Kapitel 3 und 4), einen Ergebnisteil (Kapitel 5 und 6) und einen Diskussionsteil (Kapitel 7, 8 und 9).
- Im Theorieteil wird zunächst in Anlehnung an Fischer und Riedesser (2003) [1] entfaltet, was unter einem Trauma verstanden wird. Dargelegt wird weiterhin das Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung. Anschließend wird ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand im Hinblick auf Entstehung und Psychodynamik von Schuldgefühlen bei Opfern von innerfamiliärem sexuellem Missbrauch gegeben.
- Im Methodenteil des Buches wird die gewählte Forschungsmethodik sowie die Durchführung und Auswertung der Untersuchung transparent gemacht.
- Im Ergebnisteil, der den inhaltlichen Schwerpunkt des Buches ausmacht, wird zunächst die vertikale Auswertung von sechs ausgewählten Interviews vorgestellt. Solcherart „Fallanalysen“ zielen auf eine detaillierte und in die Tiefe gehende Interpretation des Mitgeteilten ab und vermögen insofern in besonderer Weise auf die komplexe Dynamik eines jeweiligen „Falles“ einzugehen. Das daran anschließende Kapitel setzt sich in einer horizontalen Perspektive mit den durchgeführten Interviews auseinander und arbeitet durch den fallübergreifenden systematischen Vergleich Überindividuelles bzw. Typisches im Hinblick auf die zu klärende Fragestellung heraus.
- Im letzten Teil des Buches (Diskussionsteil) werden die zentralen Ergebnisse der Untersuchung noch einmal zusammenfassend diskutiert und in ein Verhältnis zu den im Theorieteil vorgestellten Befunden gesetzt. Abschließend werden daraus abgeleitete Überlegungen und Empfehlungen zur therapeutischen Arbeit mit Frauen, die von innerfamiliärem sexuellem Missbrauch betroffen sind, vorgestellt.
Diskussion
Über das Thema innerfamiliärer sexueller Missbrauch und die verheerenden Folgen für die davon Betroffenen ist bereits viel geschrieben worden. Insofern könnte man vielleicht zunächst einmal denken: Ein weiteres Buch, das sich mit den Folgen sexuellen Missbrauchs in der Kindheit befasst, macht das Sinn? Um es zunächst kurz zu fassen: Es macht! Das vorliegende Buch ist eine lesenswerte, fachliche Bereicherung, wobei sich die Entscheidung, den Focus auf das Thema „Schuldgefühle“ zu legen, als besonders fruchtbar erweist.
Das Buch besticht durch einen klaren Aufbau, eine gut lesbare Sprache und das Vermögen der Autorin, komplexe Zusammenhänge und komplizierte Sachverhalte anschaulich auf den Punkt zu bringen. Dies wird besonders im „Theorieteil“ deutlich, in dem die Leserin/der Leser auf den Stand der wissenschaftlichen Diskussion gebracht und in anspruchsvolle Theoriezusammenhänge eingeführt wird, die für Menschen, die mit Missbrauchsdynamiken nicht psychotherapeutisch befasst sind, mitunter schwer nachvollziehbar sein dürften (z.B. der Mechanismus der „Identifizierung mit dem Angreifer“). Eben diese Zusammenhänge erhellen sich in dem empirischen Material, das in Jelinskis Buch vorgestellt wird. Die Interviewausschnitte wie deren sensible Interpretation geben einen tiefen Einblick in die Erlebnis- und Gefühlswelten von Opfern sexuellen Missbrauchs und eröffnen hilfreiche Verstehenszugänge zu den mit der Missbrauchserfahrung verbundenen psychodynamischen Prozesse. Beeindruckend ist, dass und wie es der Autorin gelingt, nachvollziehbar auch latente Dynamiken des Missbrauchsgeschehen zu erschließen, d.h. Zusammenhänge, die dem Bewusstsein der Interviewpartnerinnen nicht unmittelbar zugänglich sind.
Lesenswert ist das Buch auch aus einer anderen Perspektive: Wer sich für qualitative Forschung interessiert, findet hier ein Best-practice-Beispiel. Das vorliegende Buch vermag auch durch die deutlich werdende Qualität und Sorgfalt der durchgeführten Untersuchung zu beeindrucken. Tiefeninterviews mit traumatisierten Menschen durchzuführen, können ethisch betrachtet insofern heikel sein, als die dadurch aktualisierten Gefühle sehr belastend sein und u.U. die Interviewten überfordern können. Dass die Autorin diese Problematik im Blick hatte, zeigt sich auch an der Auswahl der Stichprobe: Die in Frage kommenden InterviewpartnerInnen sollten eine Beratung oder Therapie wahrgenommen haben bzw. sich noch in einer solchen befinden. Die Interviewpartnerinnen wurden weiterhin im Anschluss befragt, wie sie das Gespräch erlebt haben und wie es ihnen nun geht. Die Bitte um Feed-Back hatte die Funktion eines möglichen Korrektivs für die Interviewerin, die Frage nach dem gefühlsmäßigen Zustand sollte die erlebte Belastung abschätzbar machen. Den Interviewpartnerinnen wurde ferner die Möglichkeit eröffnet, mit der Interviewerin gegebenenfalls wieder Kontakt aufzunehmen. Im Anhang des Buches ist das Feedback der Interviewten, das mündlich oder schriftlich per email gegeben wurde, nachzulesen. Nachzulesen sind dort auch die Rückmeldungen der Interviewten zu den erarbeiteten Interpretation bzw. psychologischen Beschreibungen. Beides vermittelt weitere interessante Einsichten.
Fazit
Juliane Jelinskis Buch kann ich ohne Einschränkung Professionellen empfehlen, die mit dem Thema Missbrauch befasst sind oder konfrontiert werden. Empfohlen werden kann es aber auch Studierenden sowie interessierten Laien.
Da das Buch in qualifizierter Weise wichtige Aspekte des forschungspraktischen Vorgehens bei einer qualitativen Untersuchung transparent macht, kann es ferner denjenigen empfohlen werden, die im Rahmen einer Qualifikationsarbeit oder zu Beginn ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiter/in eine qualitative Untersuchung planen und in diesem Zusammenhang auf der Suche nach Best-practice-Beispielen sind.
[1] Fischer, G.; Riedesser, P. (2003): Lehrbuch der Psychotraumatologie, München: Reinhardt
Rezension von
Prof. Dr. Ariane Schorn
Fachhochschule Kiel, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit
Entwicklungspsychologie, Qualitative Sozialforschung, Psychosoziale Beratung, Supervision
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