Matthias Machnig (Hrsg.): Welchen Fortschritt wollen wir?
Rezensiert von Dr. phil. Andreas Meusch, 08.01.2013

Matthias Machnig (Hrsg.): Welchen Fortschritt wollen wir? Neue Wege zu Wachstum und sozialem Wohlstand. Campus Verlag (Frankfurt) 2011. 252 Seiten. ISBN 978-3-593-39604-0. D: 22,90 EUR, A: 23,60 EUR, CH: 32,90 sFr.
Thema
Die 22 Autoren des Bandes schreiben an gegen die „Neoliberale Vorherrschaft“ (M. Machnig, S. 234) und für Alternativen zur derzeitigen Gesellschaftspraxis. Fortschritt ist dafür ein Schlüsselbegriff des in 20 Einzelbeiträgen skizzierten Hoffnungs- und Zukunftsprojektes.
Entstehungshintergrund
Die Krise des Euro, die Exzesse des „finanzgetriebenen Kapitalismus“ (J. Machnig, S. 152) sowie die Energiewende nach der Katastrophe von Fukushima definieren die zentralen Themen für die die Autoren Alternativen zur Politik der Regierung Merkel aufzeigen wollen. Die Autoren beschreiben dezidiert ein Projekt für eine rot-grüne Regierung nach einem Wahlsieg über die schwarz-gelbe Regierungskoalition. Die Konzeption des Buches ist entstanden, bevor Peer Steinbrück zum Kanzlerkandidaten der SPD gewählt wurde.
Herausgeber und Autoren
Matthias Machnig ist einer der führenden Strategen der SPD, der wesentlichen Anteil am Wahlerfolg Gerhard Schröders gegen Helmut Kohl hatte, in der großen Koalition als Staatssekretär unter Sigmar Gabriel im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit arbeitete und seit 2009 thüringischer Wirtschaftsminister ist.
Im vorliegenden Sammelband hat er 21 Autoren versammelt, die das Bestreben eint, „Bedingungen und Voraussetzungen für eine ‚bessere Zukunft? zu nennen und Wege zu einem neuen Verständnis von Wachstum und sozialem Wohlstand zu skizzieren“ (S. 8). Die Buchrückseite beschreibt die Autoren als „prominente Vertreter aus Sozialwissenschaften, Politik und Verbänden“. Mit Sigmar Gabriel ist ein einziger amtierender Bundestagsabgeordneter vertreten. Bei den Autoren fällt die Nähe zu Gewerkschaften auf: Neben zwei amtierenden Gewerkschaftsvorsitzenden (Berthold Huber, IG Metall; Michael Vassiliadis, IG Bau, Chemie, Energie) finden sich zwei Vertrauensdozenten der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler Stiftung im Autorenverzeichnis (Gerhard Bäcker und Klaus Dörre) sowie mit Jan Machnig ein ehemaliger Mitarbeiter für Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik beim IG Metall Vorstand.
Mit Ernst Ulrich von Weizsäcker (amtierender Ko-Präsident des Internationalen Ressourcenpanels), dem ehemaligen Forschungsminister und 2011 Vertreter der SPD in der Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“ Volker Hauff sowie einer Reihe von anerkannten Professoren aus sozialwissenschaftlichen Disziplinen versammelt Machnig in dem Band profunde Expertise insbesondere für Fragen des gesellschaftlichen Wandels, des Arbeitsmarktes und der Energiewende.
Aufbau und Inhalt
Zwei Beiträge von Matthias Machnig bilden die Klammer um 18 weitere Artikel, die mit der abstrakten Gesellschaftsanalyse beginnen und sich dann mit den konkreten Fragen einer neuen Gesellschaftspolitik beschäftigen mit den Schwerpunkten der Arbeitsmarkt- und der Energiepolitik.
Ausgangspunkt ist die Analyse von Burkhart Lutz, dass vieles dafür spricht, „dass wir gegenwärtig das Ende einer sehr langen Prosperitätsphase erleben“ (S. 12). Weiter analysiert Sigmar Gabriel, dass die Politik bislang „kläglich gescheitert“ sei zu gewährleisten, dass „in Zukunft Wohlstand kein Privileg für immer weniger und Sicherheit kein Luxus für Eliten wird“ (S. 23).
Alle Beiträge des Bandes konturieren klar die gesellschaftliche Alternativen zum Status quo, der nach Auffassung der Autoren gekennzeichnet ist durch einen „Ökonomismus“ (Buchrückseite), „finanz(markt)getriebenen Kapitalismus“ (Jan Machnig, S. 142, 152), ein „Marktparadigma“ (Lessenich S. 199) bzw. einen „Marktliberalismus“ (Mikfeld, S. 205), „ Spaltung der Arbeitsmärkte“ (M. Machnig S. 7) oder „Zynismus, Fatalismus, Indifferenz und Stillhalten (Offe, S. 48). Die Gegenbegriffe sind „die Einheit von Fortschritt, guter Arbeit, gutem Einkommen, sozialer Sicherheit, Nachhaltigkeit und Demokratie“ (M. Machnig, S. 7), „mehr Regulierung, Koordinierung, Kooperation und Partizipation“ (Gabriel, S. 30), „Rückeroberung des Primats der Politik“ (von Lucke, S. 63) oder „Ausbau des Sozialstaates“ (Butterwege, S. 70). Abgelehnt wird die Agenda 2010 mit ihrer Hartz-Gesetzgebung („Wege zur Spaltung“ (Hartmann, S. 103)) mit ihren „unter dem Strich ernüchternd“en Ergebnissen (Bäcker, Bosch, Weinkopf, S. 117). Bestätigt in ihren Analysen fühlen sich Ernst Ulrich von Weizsäcker und Volker Hauff, die mit Genugtuung vermerken, dass Fukushima ihre Positionen bestätigt hat. „Die Zukunft unserer Wirtschaft ist grün“ schlussfolgert der Präsident des Umweltbundesamtes Jochen Flassbarth (S. 182).
Diskussion
Den Autoren des Buches geht es um nicht weniger als die Hoheit über den gesellschaftspolitischen Diskurs in Deutschland, den sie noch immer durch marktliberales Gedankengut geprägt sehen. Es geht mit den Worten des ehemaligen Juso-Vorsitzenden Benjamin Mikfeld darum „das Projekt eines sozial-ökologischen New Deal mit einer neuen Hegemonie zu verbinden“ (Mikfeld, S. 218), um die „neoliberale Vorherrschaft“ (M. Machnig, S. 234) zu brechen. Sie wollen über die Hoheit über den gesellschaftlichen Diskurs die Voraussetzungen für den Machtwechsel in Berlin schaffen. Als gute Sozialdemokraten wissen die Autoren, wie lange es gedauert hat, um vom Godesberger Parteitag (1959) über eine große Koalition (1966) bis zum Machtwechsel mit einem sozialdemokratischen Bundeskanzler (1969) zu kommen. Sie wissen auch, wie lange es gedauert hat von der Tutzinger Rede Egon Bahrs „Wandel durch Annäherung“ (1963) bis zur Bundestagswahl 1972, die auch ein Plebiszit über die neue Ostpolitik der damaligen sozial-liberalen Regierung war.
Es gibt aber Indizien dafür, dass die Autoren des Bandes mit kürzeren Perioden rechnen, um ihre Vision in konkrete Politik umsetzen zu können: „ Erst in der großen Krise des Jahres 2015 werden sie (die Europäer) feststellen, dass dieses Europa keine Zukunft hat“ (Flassbeck, S. 141).
Gleich zweimal wird der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher zum Kronzeugen angerufen (S. 63 und S. 202). Das macht deutlich, dass die Autoren mit ihren Überlegungen weit über den Dunstkreis klassischer SPD Wähler hinaus auf Zustimmung zu ihren Positionen rechnen können.
Fazit
Wer von der Politik mehr will als das Reagieren auf Sachzwänge und ein Durchregieren nach dem Grundsatz „Weiter so Deutschland“ , der findet in dem Buch nicht nur faktenreiche Analysen sondern auch eine gesellschaftspolitische Vision, an der man sich im Zweifel auch reiben kann.
Rezension von
Dr. phil. Andreas Meusch
Lehrbeauftragter an der Fakultät Wirtschaft und Soziales der Hochschule für Angewandte Wissenshaften (HAW), Hamburg,
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