Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Gundula Müller: Arrangement und Zwang

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.02.2013

Cover Gundula Müller: Arrangement und Zwang ISBN 978-3-8376-2218-8

Gundula Müller: Arrangement und Zwang. Zur Reproduktion patriarchaler Strukturen durch türkische Migrantinnen in Deutschland. transcript (Bielefeld) 2012. 304 Seiten. ISBN 978-3-8376-2218-8. D: 33,80 EUR, A: 34,80 EUR.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

„Subjekthandlungen sind durch Diskurse und diskursive Formationen weitgehend festgelegt“

Wenn die Fakten des Lebens nicht bis zu der Sphäre vordringen, in der wir unsere Überzeugungen in Ehren halten, wie dies Marcel Proust in dem 1926 erschienenem Buch „Die Suche nach der verlorenen Zeit“ attestierte (vgl. dazu auch: Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13512.php), stellt sich immer wieder die Frage nach der Subjektivität menschlichen Denkens und Handelns, und auch danach, wie lernfähig, also veränderbar der Mensch ist. Die Problematik lässt sich philosophisch diskutieren (Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php; sowie: Herbert Schnädelbach, Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13290.php), anthropologisch nachdenken (Bernhard Rathmayr, Selbstzwang und Selbstverwirklichung. Bausteine zu einer historischen Anthropologie der abendländischen Menschen, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11820.php), psychologisch erforschen (Eberhard Straub, Zur Tyrannei der Werte, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10807.php), gesellschaftskritisch analysieren (Iris Dzudzek, Hrsg., Diskurs und Hegemonie. Gesellschaftskritische Perspektiven, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14330.php), neurowissenschaftlich erkunden (David Eagleman, Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13120.php) oder weltanschaulich sezieren (Jocelyn Maclure / Charles Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12786.php).

Entstehungshintergrund und Autorin

Nach dem poststrukturalistischen Subjektverständnis ist jede Situation von differenzierenden Bedeutungszusammenhängen umgeben, die sich je nach dem Kontext in unterschiedlichen Sinnzusammenhängen darstellen und in verbalen und nonverbalen Diskursen ausdrücken. Die dabei auftretenden Verständnisse und Missverständnisse, Übereinstimmungen und Konflikte zeigen sich nicht zuletzt bei den Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Menschen; sie bilden also Identitätsmerkmale heraus, die im Menschenbild vom Anderen und Fremden sich entweder verankern oder sich konflikthaft darstellen. Wir sind bei der Frage nach dem Fremdenbild von ethnischen Mehrheitsgesellschaften und den dabei wirkenden Integrations- und Segregationsprozessen (siehe dazu auch für den schulischen Bereich: Christine Baur, Schule, Stadtteil, Bildungschancen. Wie ethnische und soziale Segregation Schüler/-Innen mit Migrationshintergrund benachteiligt, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/14471.php ). Wie Eingliederung und Absentierung bei den nachgewachsenen zweiten, dritten und folgenden Generationen von Einwanderern sich vollzieht, wird in der Migrationsforschung in vielfältiger Weise analysiert (z.B.: Eveline Viehböck / Ljubomir Bratić, Die Zweite Generation. Migrantenjugendliche im deutschsprachigen Raum, Innsbruck 1994, 207 S.; sowie: Nilüfer Keskin, Probleme der Integration türkischer Migranten der zweiten und dritten Generation. Ein Vergleich der Integrationslage türkischer Migranten in Deutschland, Großbritannien und Australien, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/11975.php).

Die an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch-Gmünd tätige Erziehungswissenschaftlerin Gundula Müller greift mit ihrer Forschungsarbeit ein bisher im Migrationsdiskurs wenig thematisiertes Problem auf: Türkische Heiratsarrangements in Deutschland. Sie untersucht Subjektbildungsprozesse türkischer Migrantinnen, die per traditioneller Vermittlung verheiratet wurden. Sie analysiert an ausgewählten Fallbeispielen Familienkultur, Geschlechtsidentitäten, Vorstellungen von Ehe, religiöse, islamische Prägungen, Gewaltausübung und Bildungspositionen (siehe auch: Ahmet Toprak, „Wer sein Kind nicht schlägt, hat später das Nachsehen“. Elterliche Gewaltanwendung in türkischen Migrantenfamilien und Konsequenzen für die Elternarbeit, 2004, 152 S.).

Aufbau und Inhalt

Der Migrationsdiskurs in den europäischen Einwanderungsländern wird in starkem Maße von Vorbehalten, Vorurteilen, bis hin zu fremdenfeindlichen und rassistischen Positionen bestimmt. In besonderem Maße gilt dies für Menschen mit Migrationshintergrund, die anders- (islam-)gläubig sind. In einer repräsentativen Untersuchung in den Jahren 2008/09 wurde z. B. ermittelt, dass mehr als die Hälfte der in Deutschland Befragten den Islam als „Religion der Intoleranz“ betrachten. Gundula Müller nimmt die Ausgrenzungstendenzen in Deutschland gegenüber Fremde und Fremdes auf, indem sie feststellt: „Das andere (ist) in Deutschland anders“, wie sie in ihrem Problemaufriss formuliert. Der Titel „Arrangement und Zwang“ zielt auf den Untersuchungsgegenstand: Subjektbildungen bei türkischen Migrantinnen in Deutschland. Sie entwickelt dabei eine „postfeministische Methodologie“ und zeigt klassisch-patriarchale Geschlechterdichtotomien auf, die sich bei Heiratsarrangements feststellen lassen. Sie benutzt die Subjektbegriffe, wie sie von Michel Foucault und Judith Butler entwickelt wurden. Es wird deutlich, „dass die Analyse transkultureller Phänomene ein zu präzisierendes Diskursverständnis erfordert, welches wiederum ein bestimmtes Verständnis von diskursiven Formationen mit sich bringt“.

Die Autorin gliedert ihre Forschungsarbeit in die „diskursiven Formationen“, wie sie sich im Kontext der Thematik darstellen und wirksam werden, und zwar sowohl in westlichen Gesellschaften, als auch in der Türkei: Familienkultur – Geschlechteridentität – Ehe – Islam – Gewalt – Bildung.

Die diskursive Formation Familienkultur stellt sich, wie auch die anderen diskursiven Formationen, durch eine traditions-, norm- und kulturbedingte Schnittmenge von Ideologie, Scham, Schuld, Geschlechtsidentität, Rasse, Modernitäts- und Postmodernitätsauffassungen dar. In der Gegenüberstellung der traditionellen, gesellschaftlichen und kulturellen Normgebungen in der Türkei mit denen in Deutschland und der „türkischen Familienkultur in Deutschland“ zeigen sich Brüche und Fragmentierungen, die sich in den Interviews und Gesprächen mit den als Fallbeispiele dargestellten Frauen „Ulcay“ und „Jale“ verdeutlichen, indem die erstere „patriarchale Strukturen reproduziert“, während letztere durch Widerstände und zaghafte, eigene Identitätssuche „eine fragmentierte Subjektidentität aufweist“.

Bei der diskursiven Formation Geschlechtsidentität treffen sich die in westlichen Gesellschaften nach wie vor vorhandenen Formen der patriarchalen Geschlechterdichotomien mit den traditionellen türkischen Patriarchatsstrukturen und bewirken bei den jungen türkischen Frauen sowohl eine Tabuisierung, als auch ein Weiterbestehen der „Unterordnung des Weiblichen“, was sich auch hier wieder in den beiden Fallbeispielen als Reproduktion und fragmentierte Subjektidentität zeigt.

„Ehe als diskursive Formation ist geprägt von den Diskursen über Kultur, Frauen/Emanzipation, Jugend und Migration. Dabei ist bei den arrangierten Ehen zu unterscheiden zu Zwangsheiraten, wobei allerdings das Widerspruchsrecht bei ersteren sich für Frauen angesichts des patriarchalen Milieus eher als irrelevant darstellt. Wie nicht anders zu erwarten, wirken sich die Traditionen und Mentalitäten bei Ulcay und Jale in gleicher Weise wie bereits festgestellt aus.

Die Ambivalenz des Diskurses über den Islam mit dem Geschlechtsidentitätsdiskurs ist deutlich. Die nicht tiefergehenden, sondern eher auf oberflächlichem Halbwissen und Floskeln beruhenden Kenntnisse über die Religion des Islam bei Ulcay, wie die eher fatalistisch eingestellten Haltungen und Vorstellungen von Jale über ihren Glauben wirken sich jedoch deutlicher fundamental denn freiheitlich aus und zeigen Tendenzen, wie sie sich wohl bei der Mehrheit der muslimischen Bevölkerung in Deutschland artikulieren.

Die diskursive Formation der Gewalt gegen Frauen ist eingefügt in patriarchale und Machtpositionen und zeigt sich in den Abhängigkeits- und Unterordnungsparadigmen der Lebensgemeinschaft. Die Einstellung – „der Mann muss immer machen, was er will“ – wurzelt in der in der Türkei weitgehend akzeptierten Gewalttoleranz und sogar -erwartung. Gepaart mit wenig reflektiertem Ehr- und Schamgefühl ergeben sich Anpassungs- und, zugunsten des Familienerhalts, Duldungstendenzen.

„Die Analyse der diskursiven Formation Bildung macht deutlich, dass Frauen aufgrund bestehender patriarchaler Geschlechterkonzeptionen im Zugang zu höheren Bildungsinstitutionen eingeschränkt sind“. Bei Ulcay zeigt sich dies in geringer formaler Bildung und einem wenig entwickelten Selbstbewusstsein, was mehr oder weniger automatisch zur Abhängigkeit gegenüber ihrem Mann führt; während bei Jale sich eine instabile Einstellung zum Türkischen und Deutschen zeigt, allerdings intendierend zu integrativen und Anpassungselementen in Richtung Mehrheitsgesellschaft.

Fazit

Mit der Darstellung der prägenden und identitätsbestimmenden Formationen bei den beiden Biographien, mit denen Gundula Müller exemplarisch die „Bandbreite zentraler und unterschiedlicher Lebensbereiche der türkischen Bevölkerung in Deutschland“ aufzeigt, kommt zum Ausdruck, „dass patriarchale Strukturen im Wesentlichen innerhalb der Familie erzeugt, aufrechterhalten und reproduziert werden“. Konsequenzen daraus ergeben sich in zweierlei Hinsicht: Zum einen in gesellschaftlicher, interkultureller Aufklärung und Bildung, zum anderen „muss die deutsche Gesellschaft aber ihren eigenen patriarchalen Bezugsrahmen dekonstruieren“. In einer „sprechenden Gesellschaft“, in der alle Mitglieder gleiche Rechte und Pflichten haben, bedarf es der Anerkennung der Vielfalt in der Gemeinschaft. Und es braucht gesellschaftspolitische Diskurse und Forschungsergebnisse wie die von Gundula Müller.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular

Es gibt 1665 Rezensionen von Jos Schnurer.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 14.02.2013 zu: Gundula Müller: Arrangement und Zwang. Zur Reproduktion patriarchaler Strukturen durch türkische Migrantinnen in Deutschland. transcript (Bielefeld) 2012. ISBN 978-3-8376-2218-8. Reihe: Kultur und soziale Praxis. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14470.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht