Tilman Leptihn: Leitfaden für ein gerontopsychiatrisches Pflegekonzept
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 30.03.2004
Tilman Leptihn: Guter Wille allein reicht nicht. Leitfaden für ein gerontopsychiatrisches Pflegekonzept.
Psychiatrie Verlag GmbH
(Bonn) 2003.
3., aktualisierte und bearbeitete Auflage.
60 Seiten.
ISBN 978-3-88414-348-3.
12,90 EUR.
Reihe: Psychosoziale Arbeitshilfen, Band 8.
Zur Thematik und Vorgeschichte des Buches
Seit Einführung der Pflegeversicherung und besonders seit dem Inkrafttreten des Qualitätssicherungsgesetzes § 80 SGB XI nimmt die Bedeutung von Standardisierungen und Normierungen in der Altenhilfe ständig zu. Leitbilder und Pflegekonzepte werden als Bestandteile eines Qualitätsmanagement von den Kostenträgern (MDK und Träger der überörtlichen Sozialhilfe) eingefordert, um als Kooperationspartner und Leistungsempfänger gelten zu können. Eine Reihe von teils unterschiedlichen Pflegekonzepten besteht mittlerweile in den verschiedenen Bereichen der Altenhilfe, die ein Kooperieren und Kommunizieren über die Grenzen einer Einrichtung hinweg oft erschweren, da unterschiedliche Terminologien und Schwerpunktsetzungen bestehen. Der Inhalt der vorliegenden Arbeit besteht einem Leitfaden für ein gerontopsychiatrisches Pflegekonzept und soll somit als Handreichung und Orientierung in den Einrichtungen fungieren.
Der Autor ist Fachkrankenpfleger für Psychiatrie und seit 1999 als Care-Manager (Leitung Abteilung Pflege) bei einem Träger mehrerer ambulanter und stationärer Einrichtungen in Hannover tätig.
Inhalt
Im Mittelpunkt stehen die Schritte zur Erarbeitung eines gerontopsychiatrischen Pflegekonzeptes. Es werden Vorschläge unterbreitet hinsichtlich einer Arbeitsgruppe zur Konzeptentwicklung, der Grobkonzeption einer Pflegeeinrichtung, pflegerische Grundansprüche und übergeordnete Pflegeziele. Ausführlich werden einige pflegerische Aspekte nach dem Schema Problemnennung - Ziel - Lösungsvorschläge dargestellt. Ein Beispiel: Problem (Bewohner findet sein Zimmer nicht) - Ziel (Bewohner soll ohne fremde Hilfe sein Zimmer finden) - Lösungsvorschläge (Beschriften der Zimmertür mit Namen, Foto des Bewohners anbringen etc.). Der Umgang mit Teamkonflikten und belastenden Arbeitssituationen bilden einen weiteren Themenkomplex der Schrift. Der Autor geht u. a. auf die Motivation der Mitarbeiter, das Führungsverhalten, das burn-out-Syndrom, Teamkonflikte und deren Bearbeitung ein, wobei er hierbei auf das Konzept der "themenzentrierten Interaktion" (TZI) von Ruth C. Cohn zurückgreift. Pflegestandards und die Systematik zur pflegerischen Informationssammlung werden in mehreren Abschnitten erläutert. Bei der Erarbeitung der Standards empfiehlt der Autor die sattsam bekannten 13 Aktivitäten und existentiellen Erfahrungen des Lebens (AEDLs) nach Monika Krohwinkel. Weitere Inhalte sind die Arbeitsablaufanalyse und die Schulung zum Thema "Pflegeplanung", die in die sechs Einzelschritte Informationssammlung, Ressourcen und Pflegeprobleme, Pflegeziele, Pflegemaßnahmen, Durchführung der Pflege und Überprüfung der Effektivität der Pflege unterteilt wird. Anschließend folgen Ausführungen über die Überarbeitung des Dokumentationssystems, Testläufe auf Probestationen, Begleitung der Mitarbeiter und eine Checkliste zur Konzepterarbeitung.
Kritische Würdigung
Die vorliegende Veröffentlichung ist ein klassisches Beispiel für die Verhältnisse in der stationären Altenhilfe der Gegenwart, die sich mehr und mehr mit der Kategorie Realitätsverdoppelung umschreiben lässt: die reale Welt des Heimlebens und die Welt des Planens, Dokumentierens, Evaluierens etc.
Zu den fachlichen Ausführungen. Der Rezensent hat den Eindruck, mit einer Veröffentlichung aus den 80er Jahren konfrontiert zu werden, denn als durchgängiges Pflegekonzept wird die Realitätsorientierung (ROT) angeführt. So werden z. B. die Pflegekräfte aufgefordert, Kalender, Uhren und Orientierungstafeln anzubringen und die Bewohner ständig bei jedem Kontakt auf Ort und Zeit hinzuweisen. Auch die Begrifflichkeit "gerontopsychiatrisch veränderte Bewohner", gemeint sind wohl demenziell Erkrankte, erinnert an den Begriff "psychisch veränderte alte Menschen" aus der Zeit vor ca. 20 Jahren. Auch scheinen die Kenntnisse des Autors über die Alzheimer-Demenz recht begrenzt zu sein, wenn er ausführt, dass diese Demenzform wohl kaum aufzuhalten sei und eine Heilung gegenwärtig scheinbar nicht möglich sei. Über den Stand des Wissens hinsichtlich der demenztypischen Verhaltensweisen und den bereits erfolgreich praktizierten Umgangsweisen in der Pflege und Betreuung Demenzkranker werden keinerlei Ausführungen gemacht. Die Sphäre der Pflegeplanung. Der Mangel an inhaltlichen und fachlichen Darlegungen über die Pflege und Betreuung Demenzkranker in den Heimen wird durch ein Übersoll an Kenntnissen und Fertigkeiten bezogen auf die Pflegeplanung, -dokumentation etc. mehr als ausgeglichen. Es hat den Eindruck, als ob die Welt des Planens, Dokumentierens und Evaluierens sich zunehmend verselbständigt und kaum noch einen realen Bezug zum Heimalltag besitzt. Struktur- und Prozessqualität im Rahmen der Qualitätssicherung herzustellen, die 13 ADELs für jeden Bewohner durchzudeklinieren und ständig zu überprüfen, jeden Handgriff zu dokumentieren, all das und noch vieles mehr absorbiert nicht nur Arbeitszeit, sondern bestimmt in wachsenden Maße auch das Denken und Handeln der Pflegenden. Aus spontan und intuitiv agierenden Pflegekräften, die sensibel und einfühlsam auf die äußerst hilflosen Demenzkranken eingehen, werden nach Ansicht des Rezensenten zunehmend verstockte Pflegebürokraten, die nicht mehr nach ihrem Gefühl, sondern nur noch nach den Vorgaben der Pflegeplanung und der Qualitätsbeauftragten handeln werden. In diesem Kontext wird eine angemessene Demenzpflege sich nicht entfalten können.Fazit
Die vorliegende Schrift ist Ausdruck der Bürokratisierung der Pflege, ein Dokument einer Fehlentwicklung in der stationären Altenhilfe, die zugleich eine Behinderung für die Pflege Demenzkranker darstellt. Es gilt nicht, dieses bürokratische Denken zu perfektionieren, wie es der Autor mit seinen Darlegungen beabsichtigt. Es gilt, dieses System zum Wohle der Betroffenen, der Pflegebedürftigen und der Pflegekräfte, umfassend zu ändern.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 30.03.2004 zu:
Tilman Leptihn: Guter Wille allein reicht nicht. Leitfaden für ein gerontopsychiatrisches Pflegekonzept. Psychiatrie Verlag GmbH
(Bonn) 2003. 3., aktualisierte und bearbeitete Auflage.
ISBN 978-3-88414-348-3.
Reihe: Psychosoziale Arbeitshilfen, Band 8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/1448.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
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