Anna Brake, Helmut Bremer et al. (Hrsg.): Empirisch Arbeiten mit Bourdieu
Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 10.05.2013

Anna Brake, Helmut Bremer, Andrea Lange-Vester (Hrsg.): Empirisch Arbeiten mit Bourdieu. Theoretische und methodische Überlegungen, Konzeptionen und Erfahrungen.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2013.
301 Seiten.
ISBN 978-3-7799-1587-4.
29,95 EUR.
CH: 36,90 sFr.
Reihe: Bildungssoziologische Beiträge.
Thema
Viele der Bourdieu´schen Analysekategorien wie Habitus, Inkorporierung, sozialer Raum, Feld oder die verschiedenen Formen von ´Kapital´ tragen zu einem besseren Verständnis der sozialen Realität bei. Sie lassen sich u.a. als ´Denkwerkzeuge´ verstehen. Als Analysekategorien müssen sie empirisch umsetzbar sein. Diese empirische Umsetzbarkeit fällt angesichts der Komplexität der Bourdieu´schen Kategorien nicht leicht. Umso erfreulicher ist es, dass sich die VerfasserInnen in dem vorliegenden Sammelband zur Aufgabe gemacht haben, Beispiele für die empirische Anwendung der Bourdieu´schen Kategorien vorzustellen.
Herausgeberinnen und Herausgeber
Die drei HerausgeberInnen Anna Brake, Helmut Bremer und Andrea Lange-Vester haben allesamt zum Dr. phil. promoviert und bekleiden Professuren. Prof. Dr. Brake vertritt eine Professur für Soziologie an der Universität Augsburg, Prof. Dr. Bremer hat eine Professur für Bildungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen inne und Prof. Dr. Lange-Vester vertritt eine Professur für Arbeit, Technik und Gesellschaft am Institut für Soziologie der Technischen Universität Darmstadt.
Aufbau und Inhalt
Die HerausgeberInnen führen mit dem Aufsatz „Empirisch arbeiten mit Bourdieu: Eine Einleitung“ in das Thema ein (S. 7-19). Es folgt ein im Dezember 1988 von Beate Krais geführtes Interview mit dem im Januar 2002 verstorbenen Pierre Bourdieu (S. 20-34). Die ebenfalls viel zu früh verstorbene Steffani Engler beschäftigt sich in dem darauffolgenden Aufsatz „Der wissenschaftliche Beobachter in der modernen Gesellschaft“ (S. 35-58) mit dem Aufspüren soziologischer Selbstverständlichkeiten und dem Blick der soziologischen Klassiker seit Marx und Engels, Durkheim und Weber auf ihren ´Gegenstand´, die Gesellschaft.
In einem ausführlichen Artikel geht Anna Brake ein auf „Bourdieu und die Photographie. Übungen zur Konversion des Blicks“ (S. 59-92). Sodann stellen Helmut Bremer und Christel Tewes-Kügler in ihrem Artikel („Zur Theorie und Praxis der Habitus-Hermeneutik“) einen dem Thema zugrundeliegenden methodologischen Ansatz (S. 93-129) vor. Außerdem wenden sie das Verfahren der ursprünglich auf Ulrich Oevermann zurückgehenden Sequenzanalyse nachvollziehbar und anschaulich an. Michael Vester („Zwischen Marx und Weber: Praxeologische Klassenanalyse mit Bourdieu“) (S. 130-195) stellt die „Methodologie einer praxeologischen Klassenanalyse“ (S. 130) vor, „die die Gesellschaft nicht endgültig als geschlossenes System oder dingliche Struktur auffasst, sondern darauf besteht, dass auch die mächtigsten Strukturen historisch durch gesellschaftliche Praxis der Menschen hervorgebracht und auch veränderbar sind“ (ebd.). Andrea Lange-Vester beschreibt in ihrem Beitrag die empirische Arbeit nach Bourdieu am Beispiel der historischen Familienforschung („Empirisch arbeiten mit Bourdieu: Historische Habitusforschung am Beispiel einer Familiengeschichte“; S. 196-227).
Die beiden jüngsten Wissenschaftlerinnen im Sammelband Sandra Beaufays und Valerie Moser stellen in ihrem Beitrag „Künstlerisches Feld und individuelle Kreativität“ (S. 228-254) die Fragen „Was ist ein Künstler?“, „Was ist ein Kunstwerk?“ und „Welchen Platz hat bei Bourdieu das Konzept Kreativität“? Diese Fragen aus der Perspektive Bourdieus´ zu beantworten, bedeutet zunächst, „dass ein schöpferisches Subjekt nicht vorausgesetzt werden kann“ (S. 229), womit ein interessantes Diskussionsfeld eröffnet ist. Barbara Friebertshäusers´ Artikel „Denken, Forschen, Verstehen mit Bourdieu – eine reflexive Rekonstruktion des komplexen Verhältnisses zwischen Theorie und Empirie“ (S. 255-277) geht den folgenden Fragen nach: „Was kennzeichnet das Denken und Forschen mit Bourdieu? Worin liegt das Potential dieses Ansatzes und welche Grenzen sind zugleich zu erkennen?“ u.a.m (S. 236). Als Gegenstand wählt sie eigene Forschungsarbeiten u.a. aus dem Projekt „Studium und Biographie“. Den letzten Beitrag des Bandes schrieb Anne Schlüter. Er heißt „Biographisch arbeiten mit Bourdieu?“ und setzt sich auf kritische Weise mit den Vermutungen auseinander, dass Bourdieu der Biographieforschung kritisch gegenüberstehe und sogar der Meinung sei, man könne wissenschaftlich nicht mit Biographien arbeiten (S. 278-299).
Diskussion
Der Sammelband, so wie er heute vorliegt, hat eine längere Geschichte. Vor ca. 10 Jahren entwickelte sich aufgrund der Diskussion einiger KollegInnen vor allem aus dem Bereich der Bildungssoziologie die Idee eines Buchprojektes, welches „sich dem theoretischen Instrumentarium Pierre Bourdieus verpflichtet sehen und dieses in empirischen Projekten fruchtbar machen“ wollte (S. 7). Dieser lange Vorlauf ist dem Sammelband (positiv) anzumerken. Er hat sich allmählich entwickelt und die VerfasserInnen haben sich Zeit genommen, ihre jeweiligen „Projekte mit Bourdieu“ niederzuschreiben. Herausgekommen ist ein komplexer, umfassender und gleichzeitig sehr persönlicher und individualistischer Band zum Thema „Empirisch arbeiten mit Bourdieu“. Die teilweise sehr unterschiedlichen Beiträge zeigen jeweils eigene Herangehensweisen der Autorinnen und Autoren und jeweils eigene Weiterentwicklungen der Bourdieu´schen Analysen und seiner theoretischen Konzepte.
Der Sammelband ist lesenswert sowohl für jene, die sich erstmalig mit Bourdieu beschäftigen wie auch für jene, die Bourdieu bereits seit Jahrzehnten kennen. Er ist wichtig, weil er eine Lücke in der Forschungslandschaft füllt und weil er vielfältige Anregungen für weiteres eigenes Forschen gibt.
Fazit
Ein bemerkenswerter, die soziologische Forschungslandschaft bereichernder Sammelband.
Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
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