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Hansjörg Hohr: Das Märchen - zwischen Kunst, Mythos und Spiel

Rezensiert von Prof. Dr. Hein Retter, 24.04.2013

Cover Hansjörg Hohr: Das Märchen - zwischen Kunst, Mythos und Spiel ISBN 978-3-631-62416-6

Hansjörg Hohr: Das Märchen - zwischen Kunst, Mythos und Spiel. Peter Lang Verlag (Bern · Bruxelles · Frankfurt am Main · New York · Oxford) 2012. 261 Seiten. ISBN 978-3-631-62416-6. D: 44,95 EUR, A: 46,20 EUR, CH: 51,00 sFr.
Reihe: Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien - Band 75.

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Thema

Was sind Märchen? Welche Konzepte und Ergebnisse weist die Märchenforschung aus? Können sie zur persönlichen Entwicklung von Kindern beitragen? Dies sind die zentralen Fragen des Buches.

Autor

Prof. Dr. Hansjörg Hohr, geb. 1949 in Südtirol (Italien), studierte Philosophie, Psychologie und Pädagogik an den Universitäten Innsbruck und Oslo, anschließend langjährige Tätigkeit an norwegischen Universitäten, seit 2012 ordentlicher Professor der Philosophie und Pädagogik an der Universität Oslo. Für seinen Aufsatz „Aesthetic quality in scientific experience. The problem of reference in John Dewey's aesthetics“ (Nordic Studies in Education, Vol. 32) erhielt Hohr den Ahlström-Award der Nordic Educational Research Association (NERA) 2013.

Entstehungshintergrund

Der Autor bekennt (S.11f.), dass seine Auseinandersetzung mit dem Märchen in gewisser Hinsicht „voreingenommen“ sei, das Thema habe ihn seit seiner Kindheit nicht losgelassen. Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die Bearbeitung des zweiten Teils seiner Habilitationsschrift von 1993. Zwei Forscher, auf deren Erkenntnisse Hohr öfter zurückgreift, spielen für die kindheitsbezogenen Abschnitte der Interpretation eine Rolle. Es sind der Frankfurter Soziologe und Psychoanalytiker Alfred Lorenzer (1922-2002) und der heute emeritierte, lange an der Universität Bremen lehrende Germanist und Kindheitsforscher Dieter Richter.

Aufbau und Inhalt

Nicht das Märchen als Erzähl- und Literaturgattung an sich, sondern seine Rezeptionsformen sowie die der jeweiligen Zeit geschuldeten Theorie-Konzeptionen stehen im Vordergrund der Darstellung. Dabei geht es in diesem Band ausschließlich um die klassische Form des Märchens, deren Prototyp die „Kinder- und Hausmärchen“ der Gebrüder Grimm darstellen. Exemplarischen Rang gewinnt „Aschenputtel“, das zur Erhellung der Struktur und Funktion von Märchen in seinen verschiedenen Überlieferungen und literarischen Bearbeitungen von Hohr wiederholt herangezogen wird. Bekanntlich handelt es sich dabei um eine Narration mit einer „Heldin“ in einer Welt patriarchalischer Denkweisen, in welcher das Ertragen von Demütigung, Missgunst, Repression, aber auch die Verhüllung der eigenen Identität gegenüber Dritten, innere Stärke beim Ertragen zugefügten Unrechts, obwaltende Gerechtigkeit und das glückliche Herausgeführtwerden aus dem Schicksal familiärer Unterdrückung eine Rolle spielen. Der „erzieherischen Verwertbarkeit“ des Märchens, so deutet Hohr an, scheinen sich gerade bei „Aschenputtel“ gewisse Chancen zu eröffnen wie sie deren Grenzen erkennen lassen.

Zu Wort kommen lässt Hohr bei der Ausbreitung von Theorie- und Forschungsbefunden keineswegs nur deutsche Märchen-, Literatur- und Sozialforscher. Er zitiert aus der Palette der breit gestreuten internationalen Märchenforschung. Letztlich geht es darum, das Märchen einer „allgemeinen Bildungstheorie des Ästhetischen“ unterstellen, um eine „Theorie der spezifischen Bildungsfunktion des Märchens“ zu gewinnen (S. 231).

Von einem Einleitungs- und einem Schlusskapitel umrahmt, gliedert sich der Band in zwei Hauptteile.

Im ersten Teil werden die Hauptansätze der Märchenforschung auf dem Hintergrund des jeweiligen Zeitgeistes entfaltet. Ausgangspunkt der Darstellung ist die Romantik. Sie bildet den ersten Höhepunkt des Interesses am Märchens, das, zwischen „Mythos und Poesie“, stehend, immer in einer vergangenen Zeit spielt, am glücklichen Ende jedoch die Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft vereint. Ein zweiter konzeptioneller Ausgangspunkt der Märchenforschung wurde seit dem frühen 20. Jahrhundert die Tiefenpsychologie, sei es im Zusammenhang der Freudschen Theorien über kindliche Formen der (auch die Sexualität einschließenden) Phantasien und Konfliktverarbeitung, sei es im Kontext der Archetypenlehre von C.G. Jung. Weitere Kapitel sind dem komparativen Vorgehen der „geschichtlich-geographischen Schule“ (dem international bedeutendsten Zweig der volkskundlichen Märchenforschung) und dem „strukturalistisch-sprachwissenschaftlichen“ Forschungsansatz gewidmet: Für sich genommen belegen beide Forschungsrichtungen sowohl Gemeinsamkeiten in der Gewinnung von Methoden und klassifikatorischer Übersicht wie sie die Verschiedenheit des Interesses am Märchen als Objekt wissenschaftlicher Bearbeitung erhellen. Den ersten Teil des Bandes abschließend widmet sich der Autor der „Verbürgerlichung und Trivialisierung“ des Märchens. Nachdem Hohr den zwischen Renaissance und Romantik liegende Zeitraum als entscheidend für die literarische Ausformung des Märchens ausweist, richtet er den Blick auf die Gegenwart, in der die klassischen Märchen im Kontext der globalen Mediengesellschaft zum festen Bestandteil wohlfeiler Popularkultur gehören. Dass seit den siebziger Jahren in Deutschland kapitalismuskritische Pädagogen das Erziehungsziel „Emanzipation“ verkündeten, bildet zum florierenden Kinderkommerz einen Kontrapunkt, den darzustellen der norwegische Autor sich nicht entgehen lässt. Er greift hier vor allem auf Befunde des amerikanischen Märchenforschers Jack Zipes zurück.

Der zweite Teil des Textes (S. 153-239), dem abschließend das Literaturverzeichnis folgt, versteht sich als „Systematischer Ansatz“. Das Märchen wird hier vor allem Gegenstand ästhetischer Kommunikation und ästhetischen Erlebens betrachtet. Entfaltet werden dabei unter systematischen Aspekten wie „Normativität“, „Struktur“, „Begehren und Wünschen“ jeweils die drei Ebenen des (1.) Künstlerischen, (2.) des Spielerischen, (3.) des Mythischen und Rituellen. Diese drei Ebenen schließen sich nicht aus, sondern sind zentral für jede ästhetische Rezeptionstheorie des Märchens, betont Hohr. In den abschließenden Überlegungen zur Bildungsfunktion verweist er auf die verschiedenen Spannungsverhältnisse, welche die Märchenerzählung aufbauen, um am Ende zum Erleichterung bringenden Spannungsabfall zu führen. Die spannungserzeugenden Elemente berühren das Erleben aller sozialen und moralischen Kategorien des Alltags. Sie bilden eine semantischen Struktur, die von Gegensätzen, Gebrochenheiten und symbolischen Elementen durchsetzt ist, gleichwohl immer auch auf kollektive Werte verweist.

Diskussion

Stellt Hohr der Märchenforschung der Gegenwart das Zeugnis „wohltuender Nüchternheit“ aus (S.17), so gilt diese Feststellung auch für sein eigenes Buch, dessen Urteile abwägend wie rational sind, auf gegensätzliche Positionen von Forschern aufmerksam macht, aber nie Kritik zum Selbstzweck werden lässt. Hohr verliert sich nicht in Details. Seine Darstellung ist eher bündig gehalten. Der Band zeigt eine klare Struktur. Hohr lässt keineswegs außer Acht, dass Märchensammler wie die Gebrüder Grimm eigene (volks-) erzieherische und zeitpolitische Intentionen in die von ihnen herausgegebenen Texte einfließen ließen - auch wenn sie der Leserschaft zugleich versicherten, es werde nur die reine, dem Volke abgelauschte Erzählung wiedergegeben. Er deutet aber auch an, dass die Ideologiekritik der 68er, so wichtig sie war, einem Zeitgeist folgte, der heute nur noch als „historisch“ einzuschätzen ist. Hohr ist darin Recht zu geben, dass die Einstufung des Märchens als Volkspoesie mit fiktiven Zügen in der Romantik zwar nicht völlig falsch war, aber der Komplexität dieser besonderen Literaturgattung oraler wie literarischer Tradition kaum gerecht wird. Individuelle Glückserfahrung und Stärkung des Selbst in einer widrigen Welt, welcher man ausgeliefert zu sein scheint, ist ein wesentliches Merkmal der Wirkung von Märchen - so könnte man den analytischen Befund Hohrs auf den Punkt bringen. Er schlachtet diesen Befund nicht für ein bestimmtes Bild von Kindheit, Erziehung oder Bildung aus, sondern stellt Distanz her durch eine ästhetische Betrachtung, die das Märchen als ein „Zwischen“ begreifen lässt: Es steht zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Spiel (Regel, Ritus) und Mythos (Archaik), oraler Tradierung und literarischer Bearbeitung, zwischen dem „man“ und dem „ich, zwischen der logischen Struktur der Erzählung und der emotionalen Bindung an ihren Gehalt, zwischen moralischer Normiertheit (Werten, Tugenden) und Gewalt (die anders als im Film, oberflächenhaft, ohne Erlebnistiefe, bleibt).

Desiderata: Der größere Teil der Forschungsliteratur, die Hohr verarbeitet, wurde vor den neunziger Jahren veröffentlicht. Die Märchenforschung aus den letzten zwei Jahrzehnten findet zwar auch Berücksichtigung, sie wird aber nicht in aller Breite systematisch erfasst und aufgearbeitet. Dies hätte einen sehr viel größeren Detailreichtum der Darstellung erfordert und trifft nicht die Intention des Autors. Kaum berührt werden von Hohr Zusammenhänge zwischen Religion und Märchen. Das Buch von Hohr ist keine Einführung, keine Komparatistik, keine Didaktik und primär auch keine Geschichte des Märchens. Es ist ein in aller Knappheit gehaltener Befundbericht über den Stand der Märchenforschung auf dem Hintergrund einer Bildungsästhetik, die auch im Schlussteil hinsichtlich ihrer praktischen Konsequenzen durchaus gedrängt, wenn auch abwägend, abgefasst ist. Ausführungen über den sozialisationstheoretischen Stellenwert des Märchens angesichts der Masse der Kindern heute zur Verfügung stehenden Unterhaltungs- und Freizeitmedien sollte man nicht erwarten. Das Interesse Hohrs gilt allein dem klassischen Märchen.

Fazit

Märchenforschung ist heute eine Angelegenheit interdisziplinär arbeitender Spezialisten. Bücher über dieses Thema haben in den Human-, Sozial- und Literaturwissenschaften eher Seltenheitswert. Deshalb verdient Hohrs Band Beachtung. Er macht den Ertrag der systematischen wie der kritischen Diskussion des Märchens deutlich, zugleich verweist er auf den historischen Abstand, der uns heute von Sichtweisen trennt, die noch vor Jahrzehnten das Märchen überwiegend zum Gegenstand von Ideologiekritik machten. Für die Gegenwart der Märchenforschung sind Offenheit und Pluralität in der Theoriebildung kennzeichnend. Ganz in diesem Sinn ist der Band von Hohr ein Gewinn.

Rezension von
Prof. Dr. Hein Retter
Institut für Erziehungswissenschaft Technische Universität Braunschweig
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Es gibt 2 Rezensionen von Hein Retter.

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Zitiervorschlag
Hein Retter. Rezension vom 24.04.2013 zu: Hansjörg Hohr: Das Märchen - zwischen Kunst, Mythos und Spiel. Peter Lang Verlag (Bern · Bruxelles · Frankfurt am Main · New York · Oxford) 2012. ISBN 978-3-631-62416-6. Reihe: Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien - Band 75. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14499.php, Datum des Zugriffs 24.09.2023.


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