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Johannes A. J. Brüggemann: Entwicklung und Wandel des Sexualstrafrechts [...]

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 18.04.2013

Cover Johannes A. J.  Brüggemann: Entwicklung und Wandel des Sexualstrafrechts [...] ISBN 978-3-8329-7659-0

Johannes A. J. Brüggemann: Entwicklung und Wandel des Sexualstrafrechts in der Geschichte unseres StGB. Die Reform der Sexualdelikte einst und jetzt. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2012. 636 Seiten. ISBN 978-3-8329-7659-0. D: 139,00 EUR, A: 142,90 EUR, CH: 193,00 sFr.
Reihe: Studien zum Strafrecht - 58.

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Thema

Die Entwicklung des Sexualstrafrechts hängt stark von der gesamtgesellschaftlichen Situation, von Aspekten der Liberalisierung, den Norm- und Wertvorstellungen ab. Johannes Brüggemann hat diese Entwicklungsgeschichte vom Deutschen Kaiserreich bis in die jüngste Gegenwart nachgezeichnet und unterzieht sie einer Analyse vor dem Hintergrund der sich wandelnden Gesellschaft. Die Arbeit wurde 2012 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität (FWU) Bonn als Dissertation angenommen.

Autor

Johannes Brüggemann geb. 1978, studierte Rechtswissenschaften (Volljurist) und promovierte 2012 an der FWU in Bonn. Seit 2011 Arbeit als Richter.

Aufbau und Inhalt

Der umfangreiche Band ist in zehn Kapitel unterteilt, welche neben einem einleitenden Überblick ausführlich auf die historische Entwicklung einzelner Tatbestandsgruppen eingehen. Abschließend formuliert der Autor Anregungen und einen eigenen Vorschlag für eine Reform des Sexualstrafrechts.

Das erste Kapitel gibt einen Überblick über die Entwicklung des Sexualstrafrechts insgesamt und stellt diese in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen unter sittlich-moralischen Aspekten. Brüggemann erhebt hier nicht den Anspruch einer vollständigen Gesellschaftsanalyse, sonder fokussiert auf einzelne Phänomene wie politische Veränderungen, kirchliche Aktivitäten, den Eintritt oder das Ende kriegerischer Auseinandersetzungen und die Darstellung sexueller Themen in den jeweils aktuellen Medien.

In den folgenden acht Kapiteln wird dann jeweils eine Deliktgruppe aus dem Bereich des Sexualstrafrechts in der historischen Entwicklung dargestellt:

  • Prostitution sowie Förderung und Ausbeutung sexueller Handlungen Dritter
  • Homosexualität und Sodomie
  • Sexueller Missbrauch gegen und ohne den Willen des Opfers sowie die Erschleichung des außerehelichen Beischlafs
  • Sexueller Missbrauch Minderjähriger
  • Vornahme sexueller Handlungen in Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnissen
  • Erregung öffentlichen Ärgernisses und Exhibitionismus
  • Verbreitung pornografischer Schriften sowie pornografischer Darbietungen durch Rundfunk, Medien- oder Telefondienste
  • Doppelehe, Ehebruch und Blutschande

Die Ausführungen umfassen jeweils eine Vorbemerkung welche in den besonderen strafrechtlichen Bereich einführen und z. T. der Begriffsklärung dienen. In z. T. sehr ausführlicher Darstellung erfolgt dann jeweils der historische Verlauf der Rechtsentwicklung. Brüggemann legt dabei großen Wert auf die juristisch-dogmatischen Grundlagen des Fachs und zeichnet exakt den Weg einzelner Straftatbestände, deren Verschärfung oder deren Wegfall (z. B. Kuppelei, Homosexualität) nach. Dazu beschäftigt sich der Autor intensiv mit der jeweiligen rechtspolitischen Literatur und der entsprechenden Judikatur. Der gesellschaftliche Hintergrund, vor dem dieser Entwicklungsprozess abläuft, wird teils sehr detailliert, an manchen Stellen eher allgemein-andeutend aufgezeigt. Die Darstellungen umfassen die Epochen des deutschen Kaiserreichs, die Weimarer Republik, die NS-Zeit, die Zeit der frühen Bundesrepublik bis zur Strafrechtsreform 1973, sowie die weitere Entwicklung bis zur Gegenwart.

In Kapitel zehn fasst Johannes Brüggemann die zentralen Erkenntnisse seines historischen Abriss zusammen und formuliert auf dieser Grundlage konkret Anregungen zu einer weiteren Aus- und Umgestaltung des Sexualstrafrechts. Hier wird das Wechselverhältnis von gesellschaftlicher Sexualmoral und Deutungs- bzw. Ordnungsmacht des Sexualstrafrechts noch einmal zusammenfassend dargestellt. „Es ist also nicht so, dass nur die Sexualmoral Einfluss auf das Sexualstrafrecht nimmt, sondern auch das Sexualstrafrecht auf die Sexualmoral. Insofern besteht zwischen der Sexualmoral und den Tabus eine Wechselwirkung“ (495). Die Änderungsvorschläge umfassen i. W. eine Straffung des Abschnitts zum Sexualstrafrecht, die Ablehnung einer Änderung der Verfolgungsverjährung (527) und insgesamt eine übersichtlichere Ordnung der einzelnen Delikte und Deliktgruppen.

Zielgruppe

Alle Berufsgruppen die aus juristischer oder sozialwissenschaftlicher Perspektive an der Entwicklung des Sexualstrafrechts interessiert sind.

Diskussion

Johannes Brüggemann hat eine sehr gründliche und ausführliche Darstellung der Entwicklung des Sexualstrafrechts vorgelegt, die in Zusammenhang zum gesellschaftlichen Wandlungsprozess und zur herrschenden Sexualmoral gestellt wird. Die umfangreichen Darstellungen der einzelnen Kapitel werden jeweils in einer Schlussbetrachtung zusammen gefasst, so dass die zentralen Entwicklungen und Aspekte komprimiert erfasst und in ihrer Bedeutung erschlossen werden. Brüggemann verzichtet leider weitgehend auf die Darstellung wesentlicher Entwicklungen aus Medizin und Psychoanalyse und belässt es bei der Nennung gesellschaftlicher Wandlungsphänomene, welche jedoch umfangreich, z. T. auch durch Quellenstudium im Bereich der Massenmedien erschlossen werden (z. B. Anerkennung des Tatbestands der Vergewaltigung in der Ehe und entsprechende Einstellungsänderungen und Bedeutungszuschreibungen in Bezug auf Partnerschaft und Ehe in der modernen Gesellschaft). Damit bleibt das Vorhaben „durch eine Betrachtung der Reformen unter Berücksichtigung ihrer konkret auslösenden Umstände sowie des jeweiligen Zeitgeistes ein Gesamtbild von der Entwicklung des historischen und gegenwärtigen Sexualstrafrechts zu gewinnen“ und „unter Zuhilfenahme einer Betrachtung der kulturellen Fortentwicklung in unserem Land“ zu erklären (27) streckenweise an der Oberfläche. Allerdings hätte eine derartige ausdifferenzierte Bezugnahme auch bedeutet, dass der enorme Umfang des Bandes nochmals erheblich angewachsen wäre.

An manchen Stellen fällt auf, dass Brüggemann aus in erster Linie strafrechtlicher und erst in zweiter Linie geschichtswissenschaftlicher Perspektive analysiert. Er ist eben Jurist und kein Historiker. Besonders schmerzlich kommt das im Abschnitt zur Epoche des Deutschen Nationalsozialismus zum tragen (57-67). Er bezeichnet diese Periode als Drittes Reich, ohne den Begriff einschränken bzw. distanzierend in Anführungszeichen zu nehmen, oder kritisch zu hinterfragen. Den in diesem Abschnitt enthaltenen Satz „Der nationalsozialistische Staat liebte den Schwachen nicht“ (59) kann man bestenfalls als unbedacht oder naiv bewerten, auf die Verfolgten des Naziregimes wird er zynisch wirken. Allerdings gelingt es Brüggemann in den weiteren Ausführungen zu den einzelnen Deliktarten doch, die Prinzipien der nationalsozialistischen Verachtung der Menschenwürde, die antisemitische und rassenideologische Haltung im „Dritten Reich“ darzulegen und ihre Auswirkungen auf die Veränderungen des Strafrechts ausführlich darzustellen.

Die historische Auswirkung des nationalsozialistischen Unrechtsstaates auf die Gesetzgebung in der jungen Bundesrepublik, z. T. noch auf die heutige Rechtswirklichkeit umgeht Brüggemann und hebt stattdessen auf den kulturellen Aspekt der Amerikanisierung und die damit verbundene Lockerung der moralischen Parameter ab. Die abschließenden Anregungen für eine Änderung des Abschnitts zum Sexualstrafrecht im StGB sind auf Grundlage einer gründlich rechtsdogmatischen Betrachtungsweise formuliert. Weitergehende Impulse die z. B. auf Behandlungsansätze verweisen würden oder stärker auf die Situation der Opfer eingehen würde (z. B. hinsichtlich der Verjährungsfristen), finden sich in dem gründlich durchdachten Entwurf für ein neues Sexualstrafrecht nicht.

Fazit

Ein überzeugender und umfassender Überblick über die Geschichte der Reform des Sexualstrafrechts in Deutschland. 140 Jahre Rechtsgeschichte werden erfasst und in Bezug zur gesellschaftlichen Entwicklung gesetzt. So können die heutigen Probleme des Sexualstrafrechts in ihrer Entwicklungsgeschichte nachvollzogen und verstanden werden. Johannes Brüggemann entwickelt darüber hinaus einen eigenen Entwurf für einen neuen Abschnitt zum Sexualstrafrecht im StGB, der ausführlich begründet für alle von Interesse ist, die sich mit dem Sexualstrafrecht befassen.

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 180 Rezensionen von Gernot Hahn.

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ISSN 2190-9245