Hildegart Bockhorst, Vanessa-Isabelle Reinwand et al. (Hrsg.): Handbuch Kulturelle Bildung
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz Bartjes, 22.02.2013
Hildegart Bockhorst, Vanessa-Isabelle Reinwand, Wolfgang Zacharias (Hrsg.): Handbuch Kulturelle Bildung.
kopaed verlagsgmbh
(München) 2012.
1100 Seiten.
ISBN 978-3-86736-330-3.
D: 44,00 EUR,
A: 45,30 EUR.
Reihe: Kulturelle Bildung - 30.
Thema und Entstehungshintergrund
Das Reden über Kulturelle Bildung hat zweifellos Konjunktur. Im Vorwort von Gerd Traube (Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ)) wird zu Recht darauf hingewiesen, dass kaum eine kultur- oder bildungspolitische Debatte ohne den Verweis auf Kulturelle Bildung auskomme (S. 19). Er verweist weiter auf die Vielfalt Kultureller Bildung (Begriffe, Akteure etc.), die aber, damit genau diese Vielfalt ihre Stärke weiter entwickeln könne, einer klareren Profilierung bedürfe. Dass angesichts der Konjunktur Kultureller Bildung bislang kein vergleichbarer Versuch einer Gesamtübersicht zur Kulturellen Bildung vorgelegt wurde, ist überraschend, hier ist dem Herausgeberteam zuzustimmen (S. 21). Diese Lücke zu schließen ist das vorgelegte Handbuch angetreten - mit dem beachtlichen Gesamtumfang von 176 Beiträgen auf 1080 Seiten, die von 181 Autoren und Autorinnen verfasst wurden. Den Anspruch des Handbuchs umreißt das Herausgeberteam wie folgt: „Das vorliegende Handbuch Kulturelle Bildung versteht sich … als ein erster Versuch, das ‚Universum Kulturelle Bildung‘ in einer kollektiven und theoriefundierenden wie auch praxisdifferenzierenden Bestandsaufnahme Kultureller Bildung abzubilden und damit auch einen Beitrag zur definitorischen Präzisierung der Begrifflichkeiten und Handlungsfelder zu liefern.“ (S. 21)
Zielgruppen
Als Zielgruppen des Handbuchs werden zunächst alle, die sich professionell mit dem Gegenstand befassen, angegeben; darüber hinaus aber auch Leser und Leserinnen aus externen Diskurs- und Handlungsfeldern, an Lernende und Lehrende in Studium und Forschung.
Herausgeberteam
Die Herausgeberinnen und der Herausgeber sind sowohl durch ihre beruflichen Funktionen sowie durch vielfältige Publikationen einschlägig ausgewiesen zum Thema: Hildegard Bockhorst ist Geschäftsführerin der BKJ, Vanessa-Isabelle Reinwand ist Professorin für Kulturelle Bildung an der Universität Hildesheim und Direktorin der Bundesakademie für Kulturelle Bildung in Wolfenbüttel und Wolfgang Zacharias ist Honorarprofessor für Kulturpädagogik an der Hochschule Merseburg. Unterstützt wurde das Herausgeberteam durch einen zehnköpfigen fachlich ebenfalls ausgewiesenen Beirat.
Aufbau
Das Handbuch gliedert sich in zwei Teile:
Teil I („Theoretische Grundlagen Kultureller Bildung“) setzt sich mit zentralen Begriffen und theoretischen Dimensionen Kultureller Bildung auseinander. Die hier platzierten vier Kapitel versammeln jeweils Beiträge zu den Oberthemen
- „Mensch und Kultur“,
- „Mensch und Bildung“,
- „Mensch und Künste“ und
- „Mensch und Gesellschaft“.
Teil II („Praxisfelder Kultureller Bildung“) sichtet das Thema anhand der sechs Kapitel
- „Rahmenbedingungen und Strukturen“,
- „Handlungsfelder“,
- „Kontexte“,
- „Adressatengruppen“,
- „Ausbildung, Weiterbildung, Professionalisierung“ und
- „Evaluation und Forschung“.
Jedem Kapitel ist eine „Kapiteleinführung“ vorangestellt, die den Spannungsbogen und die Reichweite der dann folgenden Beiträge vermisst. Beide Teile weisen ein eigenes Gesamtliteraturverzeichnis aus (Der Sinn dieser Trennung wird allerdings nicht deutlich). Abgeschlossen wird das Handbuch durch einen Anhang mit der Auflistung institutioneller Akteure im Feld, einem Autorenverzeichnis sowie einem Stichwortregister. Den einzelnen Artikeln im Umfang von jeweils ca. fünf bis sechs Seiten lag die Empfehlung einer Gliederungsstruktur zugrunde, die auch weitgehend eingehalten wurde. Die Beiträge arbeiten sich bei der Darstellung ihrer Inhalte an folgenden Überschriften ab: „Thema und Begriff“, „Historische Dimension“, „aktuelle Situation“ und „Perspektiven und Herausforderungen“.
Inhalte
Das Kapitel „Mensch und Kultur“ des ersten Teils diskutiert in den zwölf Beiträgen unterschiedliche Aspekte und Fragestellungen der anthropologischen Dimension von Kultur und Bildung. Natürlich – darauf wird immer wieder hingewiesen – war und ist eine abschließende, klärende und konsensfähige Definition nicht zu erwarten, aber die Vermessung dieser offenen Containerbegriffe und ihre je kontextbezogene Verortung ist sinnvoll. Beide Begriffe werden in ihrer Komplementarität gesehen: „‘Kultur‘ kann als die Art und Weise verstanden werden, wie der Mensch die Welt zu seiner gemacht hat und macht; Bildung kann demgegenüber als die Art und Weise verstanden werden, wie der Mensch sich selbst in der Welt gemacht hat und macht.“ Und pointiert: „Kultur kann als die objektive Seite von Bildung und Bildung als die subjektive Seite von Kultur betrachtet werden“ (S. 28)
Das Kapitel „Mensch und Bildung“ knüpft in zwölf Beiträgen an diese Komplementarität an und fokussiert dabei stärker Bildung als die subjektive Seite der Kultur. Bildung als Selbstbildung des Individuums, mit den Akzenten auf lebenslange Eigenaktivität und Reflexion. Am Beispiel der vielfach diskutierten „Schlüsselkompetenzen“ einerseits und dem „Lernziel Lebenskunst“ andererseits wird das Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Anforderungen an das moderne Subjekt und individuellen Emanzipationsprozessen diskutiert.
Das Kapitel „Mensch und Künste“ thematisiert die Besonderheit und den Stellenwert der Künste im Rahmen Kultureller Bildung: „Es geht dabei um eine besondere Art der Auseinandersetzung von Mensch und Welt, der Aneignung, Codierung und Decodierung sowie Formung von auch neu gestalteten Wirklichkeiten – sowohl mit individuell subjektiven wie sozial gesellschaftlichen Wirkungshorizonten“ (S. 166) Zentrale Kategorien, um die die elf Beiträge kreisen, sind dabei u.a. „Ästhetische Erfahrungen“, Körperlichkeit und Leiblichkeit, Medialität, Mimesis.
Das vierte Kapitel „Mensch und Gesellschaft“ bearbeitet in vierzehn Zugängen verschiedene Facetten der Wechselwirkung von Kultureller Bildung und Gesellschaft: Eine Gesellschaft im – z.B. demographischen – Wandel beeinflusst Kulturelle Bildung (ihre Themen, Akteure, Gestaltungsmöglichkeiten, etc.), aber kulturelle Bildung wirkt ebenso auf gesellschaftliche Prozesse zurück. Großen Raum nehmen Fragen der gerechten Verteilung von Zugangsmöglichkeiten zu Angeboten Kultureller Bildung ein: Teilhabe und Partizipation werden hier als aktuelle Kategorien – z.B. im Kontext des Capability-Ansatzes – verhandelt. Weiter werden Kulturkritik und Kulturpolitik behandelt.
Kapitel eins des zweiten Teils skizziert „Rahmenbedingungen und Strukturen Kultureller Bildung“. „Unübersichtlichkeit“ wird hier als dominierende Beschreibungskategorie ausgemacht. Ein Blick auf die Stichworte der vierzehn Beiträge plausibilisiert diesen Befund: Kulturelle Bildung ist – als „Querschnittsaufgabe“ - angesiedelt zwischen Kultur-, Jugend und Bildungspolitik, verortet zwischen Kommunal-, Landes-, Bundes- und internationaler Politik. In dieses Dickicht wollen die Beiträge „Schneisen schlagen“.
Das zweite Kapitel „Handlungsfelder“ stellt mit knapp sechzig Beiträgen auf fast 300 Seiten den Schwerpunkt des Handbuchs dar. Die Darstellung folgt zunächst der Logik der Sparten (Bildende/Visuelle Künste, Literatur/Sprache, Medien, Musik, Tanz, Theater), stellt den Bildungsort Museum ausführlicher dar und wirft abschließend einen interdisziplinären Blick auf Bereiche wie Zirkus oder Urbanes Lernen. Die einzelnen Unterkapitel folgen wiederum einer Unterteilung nach ästhetisch-künstlerischen Ausdrucks- und Präsentationsformen, Bildungsorten und Vermittlungskonzepten, da sich – so Bockhorst in ihrer Kapiteleinführung – „…kulturelle Bildungsprozesse in ihren Wahrnehmungs-, Handlungs-, Wissens-, und Erkenntnismöglichkeiten nur konkret und in Abhängigkeit zu den verschiedenen Künsten beschreiben lassen und daraus Impulse für die Weiterentwicklung von Praxis und Konzepten zu gewinnen sind.“ (S. 427f)
Während im zweiten Kapitel diejenigen Orte und Institutionen bearbeitet wurden, in denen Kulturelle Bildung selbst im Zentrum stand, behandelt das dritte Kapitel („Kontexte“) in siebzehn Beiträgen solche Zusammenhänge und gesellschaftlichen Felder, in denen kulturelle Bildung als Ergänzung oder spezifische Methode eingebettet ist – etwa in Schulen, in der Sozialen Arbeit, in der Erwachsenenbildung oder in der politischen Bildung. Ein besonderes Thema in solchen Kontexten ist das Ringen um den Eigenwert der Künste, da hier in der Regel eine Orientierung an übergeordneten Zielen stattfindet: Vermittlung von Schlüsselkompetenzen, gesellschaftliche Teilhabe und Integration etc. Wie sich an den konkreten Orten die Ausbalancierung von ästhetischen Gestaltungsansprüchen und -prozessen einerseits und die Orientierung an übergeordneten Zielen andererseits darstellt, ist eine spannende Frage, die in etlichen Beiträgen behandelt wird. Einmal mehr ist hier auch Thema, dass Kulturelle Bildung als ressortübergreifende Querschnittsaufgabe wichtige soziale und gesellschaftliche Funktionen übernimmt, aber immer wieder in der Gefahr steht, zwischen allen Stühlen zu sitzen – sprich die Logik der einzelnen Ressorts (Kultur-, Schul-, Jugend und Sozialämter) zu sprengen.
Das vierte Kapitel behandelt „Adressatengruppen Kultureller Bildung“: Als gemeinsamer Orientierungspunkt der neun Zugänge für einen „Adressatenbezug“ wird formuliert, „…in Vorhaben der Kulturellen Bildung die Brücke zu schlagen zwischen der Lebenswelt der Teilnehmenden, ihren Bildungsinteressen und Voraussetzungen und einem künstlerischen Gestaltungsangebot bzw. Vermittlungsprozess, sodass sich jeder Mensch in dieser Praxis mit seiner ihm eigenen Geschichte und Identität respektiert fühlt und … Gelegenheiten bekommt, seine Kreativität und Produktivität zu vervollkommnen und seine Persönlichkeit zu entfalten.“ (S. 798) Als Adressatengruppen werden beispielsweise benannt: benachteiligte Kinder und Jugendliche, Menschen mit Behinderung, ältere Menschen. Explizit wird die Gefahr thematisiert durch die Identifizierung von spezifischen Adressatengruppen „besondere Problemgruppen“ aufzumachen.
Das fünfte Kapitel („Ausbildung – Weiterbildung – Professionalisierung“) teilt sich noch einmal auf in die Unterkapitel „Professionen und Berufsfelder Kultureller Bildung“ mit fünf und „Spartenspezifische Ausbildung“ mit neun Beiträgen. Bearbeitet werden Grundsatzfragen und Geschichte der Professionsentwicklung, eher Übersichtsfunktion haben Beiträge jeweils zur aktuellen Struktur der Ausbildungsgänge an Hochschulen und der Weiterbildung sowie über den Arbeitsmarkt Kulturelle Bildung. Es folgen Sichtungen der Ausbildungssituation in den klassischen Kunstsparten wie Bildende Kunst, Literatur, Musik, Tanz und Theater ebenso wie Blicke auf Museen und Medienbildung.
Das sechste Kapitel „Evaluation und Forschung in der kulturellen Bildung“ umfasst drei Unterkapitel: Kapitel 6.1 beleuchtet in vier Beiträgen den Zusammenhang von „Statistik und Kulturnutzung“, etwa mit einem Überblick über Kulturstatistiken und Kulturberichte. Kapitel 6.2 („Forschung und Forschungsmethoden“) thematisiert Stand und grundsätzliche Schwierigkeiten der Forschungslandschaft in diesem Feld. Kapitel 6.3. „Qualität und Evaluation“ geht in sechs Zugängen der Frage nach, wie Evaluation und Qualitätssicherung in diesem besonderem Feld aussehen kann. Insgesamt wird in diesem Kapitel deutlich, dass die vielfach beschriebene Vielfalt Kultureller Bildung auch eine große Herausforderung für die Forschung darstellt, da hier eine Vielzahl unterschiedlicher Disziplinen, Ansätze und Methoden zusammen zu bringen sind. Immerhin gibt es diesbezüglich erfreuliche Anzeichen: so wird berichtet von der Gründung eines bundesweiten „Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung“ und dem Zusammenschluss acht deutscher Stiftungen mit dem Schwerpunkt Kultureller Bildung zum „Rat für Kulturelle Bildung“.
Fazit
Das vorgelegte Handbuch wird seinem selbstformulierten Anspruch („das ‚Universum kultureller Bildung‘ …abzubilden“) in vollem Umfang gerecht: Es stellt eine ausgezeichnete, fundierte und aktuelle Zusammenstellung zentraler Begriffe, Diskurse, Daten, Entwicklungen und Perspektiven dar. Dabei bietet schon die Gliederung des Handbuches eine gute Systematisierung und Strukturierung des unübersichtlichen Feldes. Die einzelnen Beiträge bieten jeweils eine grundlegende, angemessen differenzierte Einführung in den jeweiligen Gegenstand. Insofern ist das Handbuch für die anvisierten Zielgruppen eine äußerst wertvolle Zusammenstellung geworden, die lange überfällig war.
Rezension von
Prof. Dr. Heinz Bartjes
Hochschule Esslingen, Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege
Arbeitsschwerpunkte: Soziale Altenarbeit; Männer- und Geschlechterforschung; Theater und Soziale Arbeit, Bürgerschaftliches Engagement.
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Es gibt 17 Rezensionen von Heinz Bartjes.
Zitiervorschlag
Heinz Bartjes. Rezension vom 22.02.2013 zu:
Hildegart Bockhorst, Vanessa-Isabelle Reinwand, Wolfgang Zacharias (Hrsg.): Handbuch Kulturelle Bildung. kopaed verlagsgmbh
(München) 2012.
ISBN 978-3-86736-330-3.
Reihe: Kulturelle Bildung - 30.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14546.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.
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