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Andrea Günter: Die Kultur des Ökonomischen

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 08.04.2013

Cover Andrea Günter: Die Kultur des Ökonomischen ISBN 978-3-89741-351-1

Andrea Günter: Die Kultur des Ökonomischen. Gerechtigkeit und Geschlechterverhältnisse und das Primat der Politik. Ulrike Helmer Verlag (Sulzbach/Taunus) 2013. 270 Seiten. ISBN 978-3-89741-351-1. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.

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Über bequeme, scheinbar logische, aber fatale „An-Sich“ – Diskurse

Zeichen der Zeit, das sind sowohl Leitlinien für öffentliche Einstellungen und Meinungen, Ausbreitung von Mainstream, Pflege und Leben von Gewohntem, als auch Herausforderungen zum Perspektivenwechsel. Es sind die ethischen und dianoetischen Tugenden im aristotelischen Sinn, die darauf gründen, dass der Mensch ein vernunftbegabtes und nach einem guten Leben strebendes Lebewesen ist, die „an sich“ dazu führen müssten, dass der anthrôpos mit Geist und Verstand danach trachtet, als zôon politikon, als politische Existenz zu leben. Weil aber menschliches Dasein auf der Erde sich immer schon als selbst- und machtsüchtig darstellt, bedarf es eines eigenständigen, auf die Gemeinschaft der Menschheit hin orientiertes Denken und Handeln. Das aber ist egoistisch nicht zu haben; vielmehr kommt es darauf an, den Verstand einzuschalten, kritisch zu denken und zu erkennen, dass, wer mit sich und der Welt nicht einverstanden ist, wie erst recht derjenige, der damit einverstanden ist, philosophieren muss (Arno Bammé, Homo occidentalis. Von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt. Zäsuren abendländischer Epistoemologie, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/14403.php); denn philosophieren heißt: Nachdenken und Aufklären (Herbert Schnädelbach, Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13290.php), und es bedeutet vor allem, selbst zu denken und nicht denken zu lassen ( Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/12903.php; sowie: Jürgen Stock, Das wäre doch gedacht! Wie wir uns aus der Falle eingefahrener Denkmuster befreien, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11725.php), nach der Wahrheit zu suchen (Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13980.php), die gemachte und eigene Wirklichkeit unterscheiden zu können (Manfred Lütz, Bluff! Die Fälschung der Welt, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14059.php, und ein Wertebewusstsein zu entwickeln (Eberhard Straub, Zur Tyrannei der Werte, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10807.php). Geist hat sich evolutionär entwickelt und kann nicht als das Alleinstellungsmerkmal des Humanum angesehen werden; dieser revolutionäre Perspektivenwechsel im philosophischen Denken hat Konsequenzen – etwa die, dass es zu hinterfragen gilt, ob es wirklich stimmt, dass menschliches Denken und Tun auf „einer grundsätzlichen Andersheit der menschlichen Seinsweise gegenüber allem Weltlichen“ beruht, Menschen also alles nur nach menschlichem Maß erfahren, erkennen und bestimmen können. Bei der Kritik am „anthropischen Denken“ sind wir darauf angewiesen, die menschliche Existenz im Diesseits einzumessen und zu begreifen: „Wir sind von dieser Welt“. Der Mensch „ist grundlegend nicht ein weltfremdes, sondern ein welthaftes Wesen“ (Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14323.php). Mit diesem postmodernen Denken stellt sich die Herausforderung, sich damit auseinander zu setzen, dass der homo oeconomicus Sein und Haben in sich verbinden ( Harald Weinrich, Über das Haben. 33 Ansichten, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14000.php) und das „Andere“ als Un-Bewusstes des Wissens erkennt (Sophia Könemann / Anne Stähr, Hrsg., Das Geschlecht der Anderen. Figuren der Alterität: Kriminologie, Psychiatrie, Ethnologie und Zoologie, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12399.php).

Entstehungshintergrund und Autorin

In die Tiefen des Denkens hinab- und in die Höhen des Utopischen hinauf zu steigen, das wollen Denker zweifellos, vor allem dann, wenn sie aufzeigen möchten, dass dem Menschen Rationalität eigen ist (vgl. dazu auch: Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13512.php), es also darauf ankommt, „die Gegenwart nicht bloß anhand ihrer Symptome zu reproduzieren, (sondern) Gegenwart … zu überschreiten, indem nach den Sinngebungsmustern des menschlichen Zusammenlebens … gefragt wird“.

Die Freiburger Philosophin und Theologin Andrea Günter verschreibt sich dabei einem symbolischen Denken, wie sie es vor allem beim griechischen Philosophen Platon vorfindet und den Apologeten festmacht. Mit ihrer Kulturanalyse will sie den eingefahrenen und seit Jahrtausenden festgemauerten Dualismus von Politik und Ökonomie auf den Prüfstand zu stellen und beide Denk- und Handlungsrichtungen miteinander vereinen. Bei Platon findet sie dazu das philosophische Handwerkszeug, weil er „wie kein anderer den Grundstein dafür gelegt hat, Politik und Ökonomie für zwei Grundmomente zu halten, die miteinander jegliches menschliche Tun organisieren“. Sie findet darin den Kitt, der beides verbindet: Die soziale und Geschlechtergerechtigkeit. Sie ist damit bei der ganz aktuellen Frage und Problematik angekommen, „welche politische Kultur vonnöten ist, damit die Suche nach Gerechtigkeit als kulturstiftendes Scharnier zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen wirksam werden kann“.

Aufbau und Inhalt

Andrea Günter gliedert ihre geschlechterspezifische Ökonomiekritik und Gesellschaftsanalyse in dezidierte theoretische und historische Überlegungen und praxisorientierte Gesellschaftskritik. In Platons Schrift „Politeia“ kommt den Fragen nach Gerechtigkeit, den Geschlechterverhältnissen und dem Dualismus von Ökonomie und Politik eine besondere Bedeutung zu: „Die Verschiedenheit der Frauen ist gesellschaftlich wichtiger als der Geschlechtsunterschied zwischen Mann und Frau“. Diese erst einmal tautologisch daherkommende Aussage nämlich hat es in sich, betrachtet man die lokal- und globalgesellschaftlichen Wirklichkeiten des ökonomischen Denkens und Handelns, das, wie Platon mit der Frage zum Ausdruck bringt: „Wer ist wie tugendhaft?“. Mit Platon nämlich setzt die Autorin einen Contrapunkt zum dualistischen Haben-Sein-Denken, indem sie für eine gerechte „Kultur des Habens“ plädiert, die darauf basieren müsse, „dass es kein Wachstum ohne Wachstum an politischer Kultur, an politischen Selbstverständnissen geben kann und dass dies auch innerhalb ökonomischer Bereiche geschehen muss“. Die Konsequenz: Es gilt, Ökonomie zu kultivieren, hin zu einer Menschen-Gerechtigkeit, bei der Geschlechterunterschiede weder Argumentationslinie noch Verteidigungswall sind. Die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen und Dominanzen, wie sie sich in der Verteidigung und Kritik des Kapitalismus und/oder Sozialismus ergeben, verlieren ihre (ideologische) Brisanz dann, wenn im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Diskurses nicht mehr der „Mehr-Wert“ steht, sondern der gerechte Wert von Arbeit und Lohn, von Care und Profit, auf der ethischen Basis, „wie dies volkswirtschaftlich verträglich und gesellschaftlich gerecht geschieht“.

Ein Dorn im Auge ist der Autorin die aktuelle Quoten- und Frauenpolitik der Bundesregierung, wie auch die sich in den Kapital- und Wirtschaftskreisen und Interessenvertretungen artikulierenden, besänftigenden wie auftrumpfenden Vorzeigebeispielen zur angeblich praktizierten und funktionierenden Geschlechtergerechtigkeit in der Gesellschaft. Sie setzt diesen (scheinheiligen) Argumentationen die in Island entwickelten und im ökonomischen und gesellschaftlichen Leben funktionierenden fünf weiblichen Grundwerte entgegen:

  • „Risikobewusstsein: Wir werden in nichts investieren, was wir nicht verstehen“.
  • „Wir wollen Kapital nur investieren, wenn nicht nur wirtschaftlicher Gewinn dabei herauskommt, sondern auch positive gesellschaftliche und ökologische Effekte“.
  • „Wir entscheiden auch emotional: Wir investieren nur in Unternehmen, deren Betriebskultur uns behagt“.
  • „Wir wollen Klartext reden, weil wir davon überzeugt sind, dass die Wirtschaft eine verständliche Sprache sprechen sollte“.
  • „Wir wollen dazu beitragen, dass Frauen wirtschaftlich unabhängiger werden, weil es durch wirtschaftliche Unabhängigkeit leichter ist, so werden zu können, wie man sein will“.

Bedeutsam ist es, in diesem Zusammenhang die Frage nach der (traditionellen und veränderlichen) Gleichberechtigung zu stellen. Mit Hannah Arendt wird daran erinnert, dass das Streben nach weiblicher Emanzipation nicht darin bestehen könne, dass Frauen dasselbe tun wie Männer; vielmehr bedeute Emanzipation, „aus der Privatsphäre herauszutreten und sich dem Licht der Öffentlichkeit auszusetzen“.

Diese Herausforderungen realisieren sich nicht (alleine) dadurch, dass gleichberechtigte gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden; es bedeutet auch, dass in der Bildung und Erziehung bestehende Stereotypen und scheinbar geschlechterspezifische Begabungs-Auffassungen revidiert werden müssen.

Bei den Fragen nach „Work Life Balance“ und „World Life Balance“ kommen die Vorstellungen zum Tragen, wie sie sich – philosophisch, anthropologisch und politisch – als „ganzheitliches menschliches Selbstverständnis“ artikulieren. Hier kommt Freuds Kritik an der Ausrichtung an Idealen (und scheinbar unverrückbaren Gewohnheiten) zur Geltung, die von der Autorin, festgemacht an einem Beispiel aus Mailand, umgemünzt werden in die Empfehlung: „Nutze, um zu begehren und qualifiziere zugleich das Begehren“; denn qualifiziertes Begehren ist etwas anderes als getriebenes, weil es bestimmt wird von dem „Bedürfnis nach Gutem, nach gelingendem Zusammenleben, nach Gerechtem“.

Unter den Pfadfindern, die sich auf den holperigen Strecken, Stopp-, Einbahnstraßen, Sackgassen oder auto(nomen) Wegen zwischen Kapitalismus und Sozialismus bewegen, befinden sich auch solche, die mit der Zumutung reisen, „dass mehr wird, wenn wir teilen“ (Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php) und die Vision für eine gegenwarts- und zukunftsfähige Entwicklung der Menschheit in „Commons“ sehen (Silke Helfrich / Heinrich-Böll-Stiftung, Hrsg., Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13482.php), und die davon überzeugt sind, dass ein anderes Wirtschaftsmodell eine andere, gerechtere, nachhaltige (Eine?) Welt möglich sind (Ralf Fücks, Intelligent wachsen. Die grüne Revolution, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/14874.php).

Denk‘ ich an die aktuelle Regierungs- und Oppositionspolitik bei Tag und Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht, so könnte man Heines Klage abwandeln, angesichts der (partei-)politischen Mächte, Ohnmächte, Überzeugtheiten und Träumereien, wie sie sich in den Krisensituationen der Finanz-, Wirtschafts-, Umwelt- und Gesellschaftsskandale darstellen. Notwendige Wandlungs- und Veränderungsprozesse jedoch vollziehen sich nicht durch „Aussitzen“, sondern durch Erkennen, nämlich: „Besitz ist geworden. Macht ist geworden. Begehren geht mit Besitz einher, Besitz mit Macht, Macht mit Besitz und Begehren“. An der Stelle des Erkenntnisprozesses kommt wieder Platon ins Spiel: „Gerechtigkeit ist für die Verbindung von Politik und Ökonomie das Maß der Suche nach ihrer menschlich gestifteten gelingenden Bezogenheit“. Weil diese Idealvorstellung allerdings mit allzu menschlichen Maßstäben kaum zu erreichen ist, kommt es darauf an, die Verbindungen von Politik und Ökonomie immer wieder neu zu befragen und zu kultivieren.

Die Frage nach einer „Güterethik“, wie sie von Augustinus gestellt wurde, mit dem Paradigma, „wie menschliches Sein, zu dem unabdingbar Wollen, Zeitlichkeit, Weltgebundenheit, Dinglichkeit und Handeln gehören“, lässt sich dann gerechtigkeitsorientiert dann beantworten, wenn – hier kommt die Theologin als Autorin zur Geltung – Gottes-, Welt- und Menschenliebe zusammenfinden; und zwar, wenn beantwortet werden kann, „welchen Versprechen das Politische zu folgen hat und zu welchen Versprechen Menschen was produzieren, tauschen und materialisieren wollen“.

Fazit

Platon der alte (neue) Gerechtigkeitsprophet – und Aristoteles der alte (neue) Staatsdenker? Eine durchaus interessante (neue?) und zielführende Interpretation der permanenten Frage nach der Bedeutung des Ökonomischen, der sozialen und der Geschlechtergerechtigkeit Hier und Heute. Andrea Günter führt im Buch „Die Kultur des Ökonomischen“ zahlreiche Beiträge zusammen, die sie in anderen Publikationen bereits veröffentlicht hat. Dadurch ergibt sich eine nicht immer passgenau aufeinanderfolgende Reihung von Themenbereichen, was bedeutet, dass wichtige Aspekte etwa aus der Kapitalismus- und Neoliberalismus-Diskussion eher unberücksichtigt bleiben. Die Fokussierung und die Fingerzeige auf gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse im Zusammenhang von Politik und Ökonomie jedoch, die Einbindung von Zeugenschaft der Apologeten der verschiedenen Richtungen zur Gerechtigkeitsprolematik, machen das Essay zu einem wichtigen Baustein im lokalen und globalen Diskurs um ökonomisches Denken und Handeln in der sich immer interdependenter, entgrenzender und ungerechter entwickelnden (Einen?) Welt.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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ISSN 2190-9245