Alice Sendera, Martina Sendera: Trauma und Burnout in helfenden Berufen
Rezensiert von Dr. Michaela Schumacher, 02.05.2013
Alice Sendera, Martina Sendera: Trauma und Burnout in helfenden Berufen. Erkennen, Vorbeugen, Behandeln - Methoden, Strategien und Skills. Springer (Berlin) 2012. 217 Seiten. ISBN 978-3-7091-1243-4. D: 29,17 EUR, A: 29,13 EUR, CH: 36,50 sFr.
Autorinnen
Alice Sendera ist
Pädagogin, Psychologin, Verhaltens- und Dipl. Traumatherapeutin mit
zusätzlichen Ausbildungen in DBT und Klinischer Hypnose. Sie leitet
Fortbildungsseminare für Medizinerinnen, Psychologinnen und
Psychotherapeutinnen und störungsspezifische
Skill-Trainings.
Martina Sendera
ist Allgemeinmedizinerin mit ÖAK-Diplomen in Psychosoziale,
Psychosomatische und Psychotherapeutische Medizin und Kurortmedizin.
Sie hat den Master für Integrative Gestalttherapie und eine
Weiterbildung in DBT. Sie leitet störungsspezifische
Skill-Trainings.
Zielgruppen
Adressatinnen des Buches sind zum einen Helfende, die schwer belastete und traumatisierte Menschen begleiten, unterstützen und/oder behandeln und zum anderen die (Personal)-Verantwortlichen und Führungskräfte in den Organisationen, in bzw. für die diese Helfenden arbeiten.
Aufbau und Inhalt
Das Buch hat sieben Hauptkapitel, drei Anhänge, ein Geleitwort, ein Vorwort, einen Serviceteil mit Literatur- und Stichwortverzeichnis.
Die Autorinnen setzen sich mit der Frage auseinander, wie Mitglieder verschiedenster helfender Berufe sowohl schwer belastete und/oder traumatisierte Menschen kompetent begleiten, unterstützen und behandeln können als auch sich selbst vor einer Sekundär- /Tertiärtraumatisierung und/oder einem Ausbrennen selbstachtsam, selbstfürsorglich und professionell schützen können. Ihr Konzept basiert auf sechs fundierenden Prinzipien.
- Das dialektische
Prinzip
Es geht um die kontinuierlich – balancierende Bewegung zwischen Gegensatzpolen wie Nähe und Distanz, emotionales Sich-Einlassen und reflexive Distanz, subjektives Erleben/Teilhaben/Anteilnehmen und somatische und pharmakologische Behandlung. - Achtsamkeit,
im Augenblick gewahrsam zu sein und eine metacognitive awareness zur Basis der therapeutischen Interventionen herzustellen. - Phänomenologie und
das Gestaltprinzip
zum einen sich einzulassen auf das subjektive Erleben von Menschen in Korrespondenz zu psychischen, körperlichen und sozialen Prozessen und zum anderen, die Phänomene, Ordnungsprinzipien und Schemata aufzudecken und zu verstehen, um die Ebenen seelischen Erlebens und sozialer Beziehungsgestaltung verknüpfend zu integrieren. - Mitmenschlichkeit und
Realitätsorientierung
PatientInnen wohlwollend und wertschätzend zu begegnen, ohne die asymmetrische Beziehung zwischen ihnen zu leugnen, sondern diese als Realität kontinuierlich zu reflektieren und gemeinsam zu verantworten. - Prinzip der
Selbstanwendung
Was die Helfenden den PatientInnen empfehlen, müssen sie i.S. eines Modellverhaltens und der Selbstfürsorge selber umsetzen, praktizieren. - Lernen, Einsicht und
Veränderung
diese Trias verlangt sowohl eine kontinuierliche Introspektion, um die eigenen Motive, das eigene Verhalten und Handeln aufzuklären und zu überprüfen als auch eine professionelle Reflexion der Konzepte, der Verhaltensmuster, Strukturen und Schemata, die menschliches Verhalten prägen, beeinflussen und „steuern“.
Das Buch widmet sich den helfenden Menschen. Es führt nicht nur in wichtige, aktuelle wissenschaftliche Ansätze und Forschungsstände ein, sondern nutzt deren Erkenntnisse für praktische präventive und nachhaltige Hilfestellungen – Strategien, Skills und Übungen.
Kapitel 1 „PTSD – Posttraumatische Belastungsstörung“ (S. 1 - 78 ) stellt den aktuellen Forschungs- und Wissensstand in mehrperspektivischer Weise vor. Kurz und knapp, differenziert und präzise bringen die Autorinnen die folgenden Themen übersichtlich auf den Punkt: Geschichte, Diagnostik, Definition, Trauma-Klassifikation, Trauma- Folgestörungen, Diagnostische Testverfahren, Epidemiologie, Komorbidität, Differentialdiagnostik, PTSD in der Begutachtung, Verlauf, beeinflussende Faktoren, Veränderung kognitiver Schemata nach traumatischen Erfahrungen, Neurobiologie, PTSD nach somatischen Erkrankungen, Darstellung der wichtigsten 5 Störungsmodelle, Therapieformen der PTSD (15), Trauma-Therapie und Sucht, Resilienz und posttraumatische Reifung und Forschungs-Status-quo.
Kapitel 2 „ Sekundäre Traumatisierung – Besonderheiten der Sekundären PTSD“ (S. 79-89). Das nach außen getragene Selbstbild /Selbstverständnis und das Fremdbild bzw. die Rollenerwartung an Helfende – insbesondere bei Einsatzkräften, Rettungskräften und Mitarbeitenden akuter Unfallstationen – spiegeln emotionale Stärke, Kompetenz und hohe, optimale Selbstkontrolle. Die daraus sich ableitenden Erwartungen und Anforderungen können höchst belastend werden und zu einer chronischen Stress-Belastung führen. Zumal in den helfenden Berufen prozentual mehr Menschen mit eigenen traumatisierenden Erfahrungen zu finden sind, was konkordante Gegen-übertragungen auslösen kann. Besonders „gefährlich“ und „gefährdend“ wird es für Helfende, wenn
- es aufgrund eigener Erfahrungen zu einer Identifikation und/oder emotionalen Überflutung kommt,
- Retter und Opfer sich kennen oder KollegInnen sind
- ein/e Kollege/in zu Tode kommt,
- Helfende insbesondere bei man made disasters erfolglos sind, ihrer eigenen Ohnmacht ausgeliefert sind,
- ihre Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt sind,
- die psychischen und somatischen Belastungen durch Schichtarbeit, körperliche Schwerstarbeit, lange Einsätze zu groß werden.
Kapitel 3 „ Die akute Belastungsreaktion“ (S.87-89) und Kapitel 4 „Das akute Stress-Syndrom“ (S. 91-99) arbeiten berufsgruppenspezifisch die potentiellen und realen Stressoren heraus, beschreiben sowohl Symptome und Verhalten als auch verschiedene Modelle – Selge 1936; Lazarus 1974; Hobfoll 1998 – zum traumatischen Stress.
Kapitel 5 „Burnout“ (S.101-114) definiert Burnout als einen Prozess von Engagement über Überengagement hin zur Überforderung. Sowohl die Frühwarnsignale, die 5 Entwicklungsphasen und ihre Hauptkriterien, strukturelle, personale und biographischen Risikofaktoren als auch die Kriterien zufriedenstellender Arbeit werden übersichtlich und einsichtig skizziert. Differentialdiagnostisch wird zwischen PTSD, Depression und Burnout unterschieden und Burnoutmodelle vorgestellt.
Kapitel 6 „Besonderheiten einzelner betroffener Berufsgruppen“ (S.115-148) beschreibt und erläutert die Tabuisierung von Burnout, PTSD und ABS in den medizinischen, pflegerischen Berufen und bei Rettungskräfte. Des Weiteren werden für Feuerwehr, Polizeieinsatzkräfte, TherapeutInnen und SeelsorgerInnen sowohl mögliche berufsgruppenspezifische Stressoren als auch notwendige individuelle und systemisch-organisationale Schutzfaktoren und präventive Unterstützungsmaßnahmen vorgestellt und begründet.
Kapitel 7 „Psychohygiene, Prävention und Therapie“ (S.149-178). Die Autorinnen zeigen auf, was und wie vielschichtig präventive Psychohygiene ist bzw. sein kann und es im weitesten Sinne darum geht, die verschiedenen Bedürfnisse von Menschen bzw. der Bedürfnisebenen, wie Maslow sie beschrieben hat, fördernd zu unterstützen. Für sie ist Psychohygiene – gerade in helfenden Berufen – ebenso wichtig und einzuüben wie die tägliche Körperhygiene.
Die primäre Prävention dient der Entwicklung, Stärkung und Vertiefung von Kompetenzen und Ressourcen. Professionelle und semiprofessionelle Unterstützung - Supervision, Intervision, kollegiale Peersupervision – sollte in den beruflichen Gruppen stattfinden und ergänzt werden durch Übungen zur Stärkung des Selbstwertes und Selbstvertrauens, zur Veränderung dysfunktionaler Überzeugungen, zur Förderung sozialer Kompetenzen, zur Entwicklung von Selbstwirksamkeit, zur Aktivierung von Ressourcen und z.B. Genusstraining (euthyme Verfahren), Deeskalationstrainig, kommunikative Deeskalationstechniken, win-win-Prinzip, Achtsamkeitsschulung, Entspannungsverfahren - AT, Biofeedback, Progressive Muskelentspannung, TaiChi, Meditation, Yoga u.v.m.
Sekundäre Prävention ist dringend geboten nach Akutereignissen – z.B. debriefing (CISD), kognitive verhaltenstherapeutische Frühintervention (KVT), Stresstoleranz-Skills – radikale Akzeptanz, Realitätsüberprüfung, Stresstoleranz-Skills-Liste sensorisch, motorisch und kognitiv – und Atemtechniken.
Es folgen drei Kapitel mit Anhängen
- Kapitel 8 „Anhang I – Kurzer Überblick über die Anatomie und Neurobiologie des Nervensystems“ (S.179-185)
- Kapitel 9 „Anhang II – Zusammenfassung der für das neurologische Verständnis der PTSD wichtigen Strukturen“ (S.187-193)
- Kapitel 10 „Anhang III – Begriffe“ (S 195 – 202) Coping, Dissoziation, Empathie, Flashbacks und Intrusion, Gedächtnis, Hyperarousal und freezing, Kindling, Konversion, Resilienz -
Die letzten drei Kapitel sind einerseits hilfreich für Lesende, die sich dem Thema neu annähern und andererseits ein schnelles und fundiertes Auffrischen von seltener benutztem Wissen und/oder inflationär verwendeten Begriffen.
Fazit
Ein informationsreiches und zugleich auf das Wesentliche sich beschränkendes Buch, dem es gelingt, nicht nur theoretisches Grundwissen sowohl praxisnah zu vermitteln sondern auch Folgerungen für die psychische und körperliche Gesundheit von Helfenden zu ziehen und deren Umsetzung bei den Verantwortlichen einzufordern. Das Buch ist es wert, gelesen und verbreitet zu werden.
Rezension von
Dr. Michaela Schumacher
Website
Mailformular
Es gibt 55 Rezensionen von Michaela Schumacher.
Zitiervorschlag
Michaela Schumacher. Rezension vom 02.05.2013 zu:
Alice Sendera, Martina Sendera: Trauma und Burnout in helfenden Berufen. Erkennen, Vorbeugen, Behandeln - Methoden, Strategien und Skills. Springer
(Berlin) 2012.
ISBN 978-3-7091-1243-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14595.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.