Ronald Hitzler, Corinna Iris Leuschner et al.: Lebensbegleitung im Haus Königsborn
Rezensiert von Matthias Brünett, 10.04.2015

Ronald Hitzler, Corinna Iris Leuschner, Frank Mücher: Lebensbegleitung im Haus Königsborn. Konzepte und Praktiken in einer Langzeitpflegeeinrichtung für Menschen mit schweren Hirnschädigungen.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2013.
140 Seiten.
ISBN 978-3-7799-2724-2.
D: 14,95 EUR,
A: 15,40 EUR,
CH: 20,90 sFr.
Reihe: Randgebiete des Sozialen.
Autorin und Autoren
Prof. Ronald Hitzler ist Soziologe und Politologe und hat den Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Fakultät 12 der TU Dortmund inne. Corinna Iris Leuschner ist examinierte Pflegefachkraft und Sozialwissenschaftlerin und an der Ruhr Universität Bochum beschäftigt. Dr. Frank Mücher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialpädagogik und Fachdidaktik der Sozialpädagogik an der TU Dortmund.
Thema und Entstehungshintergrund
Das Werk verhandelt die Frage, ob und wann ein Mensch im Wachkoma ein Anderer, ein Gegenüber ist, die sie mit den Mitteln der Ethnografie zu beantworten sucht. Hintergrund ist der Umstand, dass ein Mensch im Wachkoma nicht mit seiner Umwelt in Interaktion treten kann, zumindest nicht in einer Form, die als intentional gesehen werden kann. Ebenso wenig kann die subjektive Situation der Komatösen selbst beurteilt werden. Die hier rezensierte Studie erforscht stattdessen den Umgang der Angehörigen und Professionellen mit den Menschen im Wachkoma und nimmt die „professionelle“ bzw. „rituelle Konstruktion der Person“ (Hitzler 2012) in den Blick.
Beim Haus Königsborn handelt es sich um eine seit 1997 als Modelleinrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen deklarierte Einrichtung zur Pflege und Betreuung für Menschen mit erworbenen schweren Hirnschädigungen und Menschen im Wachkoma (vgl. www.lebenszentrum-koenigsborn.de). In dieser Einrichtung wurde eine Studie zur Beantwortung der oben geschilderten Fragestellung durchgeführt. Bei der rezensierten Publikation handelt es sich um den Forschungsbericht der in den Jahren 2010 bis 2012 durchgeführten Studie, die Teil eines größeren DFG-Projektes zum Deutungsmuster „Wachkoma“ ist. Sie erscheint in der Reihe „Randgebiete des Sozialen“ bei Beltz Juventa.
Aufbau
Insgesamt rund 140 Seiten, gegliedert in fünf Kapitel. Die Beschreibung der Methode und der Durchführung der Studie finden sich im Anhang.
Inhalt
Kapitel 1 („Einleitung“): Einführung ins Thema und Grundlegendes zum Wachkoma als Krankheitsbild. Verortet wird dies von den AutorInnen in einem Spannungsfeld zwischen „Recht, Moral, Politik und Ökonomie“ (S. 9): Impliziert wird hier ebenso ein Spannungsfeld zwischen dem technisch Möglichen und Machbaren (also dem Therapieziel der Lebensverlängerung) einerseits und entsprechenden Gegenbewegungen (beispielsweise der Patientenverfügung als „gesellschaftliche Reaktion auf die Enteignung des Körpers durch technische Innovationen“ [ebd.]) andererseits. Im weiteren Verlauf des Kapitels wird auf die oben schon angesprochene Fragestellung eingegangen.
Kapitel 2 („Konzeptionen im Haus Königsborn“): Enthält ausführliche Schilderungen der Therapie- und Pflegekonzepte sowie der Leit- und Menschenbilder. Deren Analyse war ebenfalls Teil der Studie. Demnach dominiert im Haus Königsborn ein Pflegekonzept, das auf als alternativ verstandene Ansätze wie basale Stimulation, Bobath, Kinästhetik und Alltagsorientierung setzt und sich so einer von den AutorInnen als bio-medizinisch, „tendenziell mit einer De-Personalisierung einhergeh[end]“ (S. 15) bezeichneten Perspektive widersetzt. Alternativ ist dieses Pflegekonzept auch deshalb, weil die Einrichtung über die Wechselwirkungen dieser Ansätze sowie ihrer Leit- und Menschenbilder eine wahrnehmbare Unterscheidung von der Akutphase etablieren will. Die Pflege und Betreuung richtet sich also, kurz gesagt, auf das Ermöglichen einer alltagsnahen Normalität, wie es in nahezu allen Langzeitpflegeeinrichtungen zumindest semantisch behauptet wird. Bereits hier gehen Hitzler, Leuschner und Mücher auf erste Beobachtungen im Arbeitsablauf der Einrichtung ein und beschreiben einerseits Rituale des Begrüßens oder Berührens, andererseits Rituale des „Kaschierens“ und „Aufhübschens“, beispielsweise durch das „ordentliche“ Frisieren der Pflegebedürftigen (S. 21 f.).
Kapitel 3 („Strukturen des Alltags im Haus Königsborn“): Inhalte dieses Kapitels sind zunächst Beschreibungen der räumlichen Gegebenheiten der Einrichtung, des Klientels, des pflegerischen und therapeutischen Personals sowie der Besucher und Angehörigen. Im weiteren Verlauf wird auf die Organisation des Pflegedienstes eingegangen (S. 37 ff.), bspw. in Form der Gegenüberstellung von Früh-, Spät- und Nachtschicht mit ihren jeweils charakteristischen Prägungen und Tätigkeitsschwerpunkten. In den Schilderungen der Sichtweisen der Professionen und Fachbereiche innerhalb der Einrichtung (S. 48 ff.) sind bspw. die Beschreibungen interessant, wie in der Pflege vor allem die Körperlichkeit der Bewohnerinnen und Bewohner dominiert und die Pflegenden in einen leiblichen Kommunikationsprozess mit diesen treten (S. 50 ff.). Diese Beobachtungen werden von den AutorInnen in Konzepte von bspw. Hermann Schmitz und Maurice Merleau-Ponty eingeordnet und kurz diskutiert. Körper und Körperlichkeit werden so zu Produzenten von Wirklichkeit, unter anderem dadurch, dass die Pflegenden selbst buchstäblich „persönlich“ in diese Kommunikationsprozesse eintreten. Dieses Prinzip wird als „dialogische Pflege“ (S. 56 f.) begriffen und unter anderem in normative Setzungen der Einrichtungen, wie die entsprechenden Konzepte (Kapitel 2) eingeordnet und unter ethnografisch-verfremdeten Blickwinkeln diskutiert. Dabei wird deutlich, dass und wie solche normativen Zielvorgaben situativ mit den wahrgenommenen Bedürfnissen und Befindlichkeiten der Gepflegten kollidieren.
Kapitel 4 („Prinzipien des pflegerisch-therapeutischen Umgangs mit Menschen im sogenannten Wachkoma“): Hier wird unter anderem der Aspekt der leiblichen Kommunikation wieder aufgegriffen, um den Aspekt der verbalen Kommunikation erweitert und vor dem Hintergrund des phänomenologischen Begriffs der Appräsentation (vgl. Hitzler 2012) diskutiert. Zu verstehen ist darunter, grob gesagt, das „Mitdenken“ in diesem Falle von Befindlichkeiten der Bewohnerinnen und Bewohner anhand der beobachteten Körperlichkeit, die zunächst keine Rückschlüsse auf „innere“ Zustände zulässt. Letztendlich wird also von einem Körper auf die damit quasi „verbundene“ Person geschlossen, was aber nicht zwangsläufig mit der Realität übereinstimmen muss. Darüber hinaus wird auf die Deutungsmuster eingegangen, dass die eigene Gestimmtheit der Pflegenden auf diese Weise auch die Bewohner beeinflusse. Damit wird die oben schon erwähnte Kollision von Ansprüchen und konkreter Pflegesituation weiter ausgeführt. In ihren Ausführungen zur „professionellen Konstruktion der Person“ (S. 109 f.) gehen die AutorInnen auf die Bedeutung der normativen Ausrichtung der Hausphilosophie ein, die eben eine solche Annahme und Appräsentation vorsieht, und damit auf die wesentlich fremdbestimmte Konstruktion der Identitäten der Bewohnerinnen und Bewohner.
Kapitel 5 („Fazit“): Auf wenigen Seiten wird hier nochmals das Wesentliche der Studie kurz zusammengefasst und insbesondere der Aspekt der im Titel der Publikation auftauchenden „Begleitung“ („nicht auf Fordern, sondern auf Fördern […] ausgerichtet“ [S. 121]) stark gemacht. Ebenso die Konstruktion der Bewohnerinnen und Bewohner als Person und die daraus erst erwachsende Notwendigkeit, diese Menschen letztendlich „würdig“ pflegen zu müssen, werden nochmals herausgestellt.
Anhang („Methodischer Zugang und Durchführung der Studie“): Am Schluss finden sich kurze Schilderungen zum methodischen Vorgehen, wie bspw. der ethnografischen Beobachtungsweise (teilnehmedne Beobachtung) und Angaben zur Interviewführung und Dokumentenanalyse.
Diskussion
Zusammenfassend betrachtet, handelt es sich um eine Veröffentlichung, die kurz und knapp das Wesentliche auf den Punkt bringt. Doch liegen genau hier auch Schwächen: So werden bspw. die in der Inhaltsangabe von Kapitel 3 erwähnten Konzepte (Schmitz, Merleau-Ponty, etc.) lediglich erwähnt. So richtig diese Einordnung ist und so wichtig diese Konzepte für die Pflegepraxis sein können, sagt sie doch nur Jenen etwas, die sie schon kennen. Eine etwas ausführlichere Erklärung wäre für manchen Leser wahrscheinlich gut gewesen. Auch in Kapitel 4 bleiben die Ausführungen zur Appräsentation zu kurz und damit zu voraussetzungsvoll, um den angelegentlich auftauchenden Begriff wirklich umfassend einordnen zu können. Bei der in Kapitel 5 erwähnten Ausrichtung auf Fordern statt Fördern wären einige zusätzliche erklärende Sätze ebenfalls angebracht, herrscht vor allem in der pflegerischen und pädagogischen Praxis doch die Auffassung vor, Fördern durch Fordern bewerkstelligen zu können. Ohne Erläuterung bleibt diese Einschätzung der AutorInnen eher unklar.
Dennoch sind die Ergebnisse interessant und wichtig in mehrfacher Hinsicht: Zum einen für WissenschaftlerInnen, die sich mit diesen oder verwandten Themenfeldern beschäftigen, sei es in theoretisch-grundlegender oder angewandter Perspektive. Zum anderen auch für interessierte PraktikerInnen, die ihren beruflichen Alltag konstruktiv-kritisch hinterfragen wollen. Nicht zuletzt sei das Werk auch LehrerInnen in der Ausbildung von Pflegefachkräften ans Herz gelegt, denn genau hier besteht noch am ehesten der Freiraum, um sich mit solchen, aus Sicht des Rezensenten klinisch absolut bedeutsamen, „theoretischen“ Zusammenhängen zu beschäftigen.
Fazit
Die Veröffentlichung von Hitzler und Kollegen bringt präzise und in weiten Teilen verständlich die Ergebnisse der Studie auf den Punkt. In erster Linie dürfte sie für WissenschaftlerInnen interessant sein. Aber auch interessierte PraktikerInnen können davon profitieren. Die ethnografische Perspektive, Alltägliches distanziert und verfremdet wahrzunehmen, erscheint besonders für die konstruktiv-kritische Reflexion des pflegerischen Alltags instruktiv. Allerdings bleiben hier, wie bereits angemerkt, etliche Aspekte zu voraussetzungsvoll. Dennoch handelt es sich um einen wichtigen Beitrag nicht nur zu Debatten um Wachkoma-Patienten und deren Versorgung im engeren Sinne, sondern vor allem auch zu grundlegenderen Diskussionen um die professionelle Konstruktion von Personen oder Pflegebedürftigen, wie sie unter anderem in den disability studies geführt werden.
Literatur
Hitzler, R. (2012): Die rituelle Konstruktion der Person. Aspekte des Erlebens eines Menschen im sogenannten Wachkoma. Forum Qualitative Sozialforschung 13(3), Art. 12.
Rezension von
Matthias Brünett
MSc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung (DIP), Köln
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