Bernhard Pörksen, Wolfgang Krischke (Hrsg.): Die gehetzte Politik
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 11.02.2013
Bernhard Pörksen, Wolfgang Krischke (Hrsg.): Die gehetzte Politik. Die neue Macht der Medien und Märkte. Herbert von Halem Verlag (Köln) 2013. ISBN 978-3-86962-079-4.
Das große Vermeiden
Weil der Mensch, nach Aristoteles, als zôon politikon, , nicht nur ein sprach- und vernunftbegabtes, sondern auch nach einem guten Leben strebendes und in Gemeinschaften lebendes politisches Lebewesen ist, kommt der politischen Verfasstheit im individuellen und gesellschaftlichen Dasein der Menschen eine besondere Bedeutung zu. Aus dem Bewusstsein heraus, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“, wie es in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt, hat demokratisches, politisches Denken und Handeln eine unverzichtbare Bedeutung. „Demokratie braucht Leidenschaft“, und zwar im durchaus mehrdeutigen Sinn – als Anstrengung und Überzeugtheit (Serge Embacher, Baustelle Demokratie. Die Bürgergesellschaft revolutioniert unser Land, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12783.php). Die Gefährdungspotentiale, wie sie sich etwa als Gewohnheitsmentalitäten bei Bürgern zeigen, die in Demokratien leben, und als Illusions- und Sehnsuchtsgefühlen äußern bei Menschen, die in Diktaturen oder anderen autoritären, ideologischen Systemen zu Hause sind, bewirken ja ganz unterschiedliche Erwartungshaltungen und Einstellungen; etwa zu Narzissmen (Werner Berschneider, Wenn Macht krank macht. Narzissmus in der Arbeitswelt, 201, www.socialnet.de/rezensionen/11203.php), oder zu Ohnmachtsgefühlen (Ingo Elbe, u.a., ,Hrsg., Anonyme Herrschaft. Zur Struktur moderner Machtverhältnisse, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13528.php).
Betrachten wir die Wandlungsprozesse in der bürgerlichen Gesellschaft, so wird deutlich, dass ein Paradigmenwechsel vom rechtsphilosophischen hin zum politökonomischen Denken deutlich wird, der sich als „Abspaltung der Kategorie des Staatsinteresses von der Herrscherwillkür und metaphysischen Normkonstrukten“ darstellt und den Staat in je unterschiedlichen Funktionen herausfordert und zur „Entstehung eines ‚transpersonalen Bezugspunkt[es] des Staates‘“ führt (vgl. dazu: Serge Embacher, a.a.o.). Die Zugangs- und Daseinsbewältigungsformen gestalten sich dabei als äußerst ambivalent: Vom mystisch-religiösem Denken (Richard Edtbauer / Alexa Köhler-Offierski, Hrsg., Welt- Geld – Gott, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14494.php) bis hin zu der Mahnung, wie ihn etwa der Berliner Verein „Mehr Demokratie“ ausspricht: :„Wenn wir aufhören, die Demokratie zu entwickeln, fängt die Demokratie an aufzuhören“ (Lars P. Feld, u.a., Jahrbuch für direkte Demokratie, 2010, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12329.php), und zur Frage, wie Politik verstanden (Andreas Eis, u.a., Politik kulturell verstehen. Politische Kulturforschung in der Politikdidaktik, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11440.php) und vermittelt werden sollte (Joachim Detjen, Hrsg., Politik in Wissenschaft, Didaktik und Unterricht, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12419.php).
Entstehungshintergrund und Herausgeber
Die uralte, im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder neu gestellte, existentiell und ideologisch beantwortete Frage: „Was lässt den Menschen gelingen?“ – gewinnt besonders in der aktuellen, globalen, interdependenten und entgrenzenden Entwicklung der (Einen?) Welt Bedeutung (Rainer Funk, Entgrenzung des Menschen, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14189.php; vgl. auch: Dirk Lange, Hrsg., Entgrenzungen. Gesellschaftlicher Wandel und politische Bildung, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12192.php). In so genannten „Gesprächs“- Büchern äußern sich Bürgerinnen und Bürger darüber, wie es mit der jeweiligen gesellschaftlichen (siehe dazu: Hans-Jochen Vogel / Sandra Maischberger, Wie wollen wir leben? Was unser Land in Zukunft zusammenhält, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12983.php, sowie: Klaus Töpfer / Ranga Yogeshwar, Unsere Zukunft. Ein Gespräch über die Welt nach Fukushima, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12442.php) und globalen Entwicklung im Hier und Jetzt bestellt ist (siehe dazu auch die jährlich erscheinenden Berichte des New Yorker World Watch Institute, z. B. mit dem Motto: „Wachsen mit der Natur, nicht mit der Gier“, Worldwatch Institute, Hrsg., Nachhaltig zu einem Wohlstand für alle. Rio 2012 und die Architektur einer weltweiten grünen Politik, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13867.php). Die Suche nach der Wahrheit – oder besser nach den Wahrheiten? – stellt sich dabei als äußerst schwierig und ambivalent dar (Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, 167 S.).
Vielleicht würden Skeptiker abwinken bei dem Versuch, die Fragen nach dem aktuellen Zustand der Gesellschaft und der Welt in einem Sammelband zusammen zu bringen; und es könnte sein, dass die Skepsis darin bestünde, dass die Meinungen, Programmatiken und Ideologien so unterschiedlich und unvereinbar ausfallen müssten, dass dabei sowieso nicht mehr herauskommen könne als eine Aneinanderreihung von eher unversöhnlichen Auffassungen und Politiken. Aber: Wäre das nicht schon etwas, angesichts der historisch bedingten, kulturell aufgeladenen und ideologisch festgemauerten Positionen, die eine dialogische Auseinandersetzung unmöglich machen? Die Demokratieforschung und Politikberatung sind dabei aufgefordert zu erkunden und Instrumente zur Verfügung zu stellen, dass ein solcher Dialog nicht in Sackgassen und Einbahnstraßen mündet und weder als „Schlag-tot“ – Argumentation abläuft, noch in einer „Moralfalle“ landet (Alex Bohmeyer, In der Moralfalle? Eine systemtheoretisch inspirierte Reflexion ethischer Politikberatung, in: ZPB 2/2012, S. 64ff). Ob dabei allerdings ein „Think Tank“- Projekt herauskommt, hängt natürlich von den Diskutanten an.
Deshalb kann man erst einmal gespannt sein, was aus einem Projekt heraus kommt, das Journalismus-Studierende der Universität Tübingen auf den Weg gebracht haben: Wie kann man das „große Unbehagen“ zum Ausdruck bringen und diskutierbar machen, das spürbar in unserer Gesellschaft und in vielen anderen, alltäglich zu erleben ist, nämlich: Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen, Ohnmachtsgefühlen des Einzelnen angesichts der Mächte und Strukturen im politischen und gesellschaftlichen Geschehen, Demokratiemüdigkeit und Sehnsuchtsgedanken nach einer „starken Hand“, Rückzug in egoistisches Denken und Tun… Die Angewandte Medienwissenschaft soll darauf eine Antwort geben; und zwar, indem die Studierenden Politiker, Meinungsbildner und „öffentliche“ Persönlichkeiten und Aktivisten (und -innen natürlich) interviewen und sie konfrontieren mit der Situation, „wie Politik und Gesellschaft ihre eigene Ratlosigkeit und ihre Nervosität im Angesicht der Krise bewältigen, welche Debatten sie sich leisten und wie eng und dogmatisch sie die Horizonte der möglichen Lösungssuche abstecken, nach welchen Narrativen und Erzählungen sie suchen“; also gewissermaßen die politische und gesellschaftliche Gretchenfrage stellen. Dabei formulieren sie Eckpunkte von Befindlichkeiten, Einstellungen und Ausdrucksformen der Bürger, die sich quer zu allen gesellschaftlichen Schichtungen und Strukturen darstellen, wie etwa der Eindruck, dass in der Politik eine "herrschende Perspektivlosigkeit“ vorhanden sei und eine Ohnmacht gegen ökonomische und kapitalistische Macht, dass die politischen Entscheidungsträger sich schon längst in Abhängigkeit zu Lobbyisten und Interessenvertretern von dominanten Strukturen begeben haben, dass ihnen die Kontrolle der Wirtschafts- und Finanzmärkte aus den Händen genommen wird, dass die Digitalisierung und Netzmacht gesellschaftliches und politisches Gestalten übernommen hat. Die sich daraus ergebende „Wut des Bürgers“ äußert sich dann sowohl in egoistischen und antidemokratischen Erwartungshaltungen, wie in Sehnsüchten nach charismatischen Politikern, die weniger mit Sachargumenten denn mit populistischen Ja-Nein-Lösungen argumentieren.
Das Interview-Projekt wird begleitet und koordiniert durch den Medienwissenschaftler von der Universität Tübingen, Bernhard Pörksen, und den Journalist und Sprachwissenschaftler Wolfgang Krischke, die als Herausgeber des Sammelbandes zeichnen. Bernhard Pörksen ist durch mehrere Zustandsbeschreibungen des gesellschaftlichen Jetzt hervorgetreten (z. B.: Bernhard Pörksen / Hanne Detel, Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13302.php), und Wolfgang Krischke zuletzt mit seinem populärwissenschaftlichen Sprach-Buch: „Was heißt hier Deutsch? Kleine Geschichte der deutschen Sprache“ (2009).
Aufbau und Inhalt
Die wohl richtige Annahme, „dass wir unter dem Einfluss der digitalen Revolution und der Finanzkrise eine neue Macht der Medien und Märkte erleben, die politische Akteure gegenwärtig zunehmend in die Defensive zwingt“, darf nicht auf Spekulationen und schon gar nicht auf ein Laissez-faire hinauslaufen; es bedarf also der Erkundungen, wie gesellschaftliche und politische Verantwortliche und „Macher“ mit der Situation umgehen und welche analytischen Kriterien es gibt, deren Verhalten zu erkennen, zu bestätigen (wenn es sich um positive Politik handelt), zu kritisieren und zu verändern. Wie aber lassen sich Abhängigkeiten, abnehmende (gesellschaftliche) Bodenhaftung, Ideologieverdacht und Tendenzen einer „Arroganz der Macht“ bei Politikern, Wirtschaftsführern, Wissenschaftlern, Verwaltungsinstanzen und Eliten erkennen und möglichst verhindern? Das ist eine zivilgesellschaftliche Aufgabe und Herausforderung. Und die Erkenntnis, dass das Zivile einer Gesellschaft das Ergebnis einer soziohistorischen und soziokulturellen Entwicklung ist (Dierk Spreen / Trutz von Trotha, Hrsg., Krieg und Zivilgesellschaft, www.socialnet.de/rezensionen/14580.php) und alle Menschen in der Gesellschaft zu einem bewussten, aktiven und demokratischen Mitgestalten und zur Zivilcourage aufrufen (Ulrich Beer, Zivilcourage, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12604.php), bedarf der Erinnerung und Aktivierung in gesellschaftlichen Prozessen.
Die 23 Studierenden der Medienwissenschaft und Journalismus an der Universität Tübingen haben jeweils einzeln, als Zweier- oder Dreierteam insgesamt 27 Männer und Frauen interviewt. Die Texte werden alphabetisch geordnet im Buch abgedruckt. Die jeweiligen Gesprächspartner werden mit einem Foto dargestellt. Zum Ende des Interviews erscheint eine kurzgefasste Vita, Berufs- und Karrierebeschreibung. Die Überschrift des Interviews soll gleichzeitig den Tenor des Interviews signalisieren, etwa bei Ole von Beust: „Drachen-Cocktail“, bei Nikolaus Blome: „Vollgas auf der Achterbahn“, bei Christian von Boetticher: „Die Meute“, bei Daniel Cohn-Bendit: „Die Entbehrlichkeit der Heimat“, bei Ulrich Deppendorf: „Unter drei“, bei Daniel Domscheit-Berg: „Kollateralschaden“, bei Heiner Geißler: „Grenz-Werte“, bei Stéphane Hessel: „Tage des Zorns“, bei Gertrud Höhler: „Bleierne Zeit“, bei Hans-Ulrich Jörges: „Kanzler backen“, bei Walter Kohl: „Der versöhnte Sohn“, bei Winfried Kretschmann: „Blaupause in Grün“, bei Wolfgang Kubicki: „Die dunkle Seite“, bei Rainer Langhans: „Macht Liebe“, bei Thomas Leif: „Kunstvolle Beatmung“, bei Giovanni di Lorenzo: „Chor der Wölfe“, bei Carsten Maschmeyer: „Für eine Handvoll Freunde“, bei Stephan Niggemeier: „Im Takt der Ticker“, bei Paul Nolte: „Magie der Gesten“, bei Richard David Precht: „Und Ihr seid dabei“, bei Thilo Sarrazin: „Der Zuspitzer“, bei Wolfgang Schäuble: „Der Eurovisionär“, bei Marietta Slomka: „Springteufels Feder“, bei Martin Sonneborn: „Tabu-Schmelze“, bei Thomas Steg: „Krawall und Krise“, bei Sahra Wagenknecht: „Faust in der Tasche“ und bei Marina Weisband: „Die Republik des Glücks“.
Die Leserinnen und Leser erfahren in den Interviews Persönliches und Politisches, Positives und Negatives, Bekennendes und Erlebtes. Dabei wird Bekanntes bestätigt und relativiert. Es sind keine „Lebensbeichten“, aber durchaus intime und öffentliche Äußerungen, die es ermöglichen, sich der Frage zu nähern, wie sie geworden sind, was sie sind, durchaus auch Mitteilungen, wie „öffentliche Personen“ mit Publizität und Duplizität umgehen, wie Zur-Schau-Stellung zur Zur-S.-Stellung werden, aber auch, wie Prominentsein kalkuliert und eingesetzt werden kann. Die Interviewerinnen und Interviewer verzichten dabei auf eine Zusammenfassung oder gar eigene Bewertung der Gesprächsergebnisse; das ist gut, weil es den Leserinnen und Lesern selbst überlassen werden soll, sich aus dem Dargestellten eine eigene Meinung zu bilden, problematisch allerdings, weil dabei gewissermaßen der „rote Faden“ abhanden kommt, der bei den „digitalisierten Bürgersprechstunden“, wie die Herausgeber das Vorhaben auch bezeichnen, nötig wäre, um Lösungsansätze aus dem Dilemma der gehetzten Politik erkennen zu können.
Fazit
Ich vermute, dass die Leserinnen und Leser auch wissen möchten, wie die Studierenden zu den Interviewpartnern gekommen sind, welche Auswahlkriterien dafür vorlagen, wie viel angesprochen wurden, zu- und abgesagt haben. Die Frage, warum Sarrazin und warum nicht den prominenten Künstler und Kirchenführer; warum keine Menschen mit Migrationshintergrund (vgl. dazu z.B.: Mehmet Gürcan Daimagüler, Kein schönes Land in dieser Zeit. Das Märchen von der gescheiterten Integration, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12723.php; sowie: Hilal Sezgin, Hrsg., Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11392.php); warum soviel Männer und so wenig Frauen; warum soviel Alte und so wenig Junge; vielleicht auch: Warum nur Prominente und keine Menschen in prekären Lebenssituationen (siehe dazu auch: Rolf-Dieter Hepp , Hrsg., Prekarisierung und Flexibilisierung = Precarity and flexibilisation, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13527.php). Denn Politik geht uns alle an, Bevorzugte und Benachteiligte!
Auch wenn nicht zu erwarten war, dass mit dem Interview-Projekt der Studierenden richtige, allgemeingültige Wahrheiten und Strukturen des gesellschaftlichen Lebens zutage treten würden, zeigen die Interviews, die im Rahmen der angewandten Medienwissenschaft an der Universität Tübingen erstellt wurden, „dialogische Erkundungen und Streifzüge“ auf, die es lohnen, zur Kenntnis zu nehmen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1671 Rezensionen von Jos Schnurer.
Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 11.02.2013 zu:
Bernhard Pörksen, Wolfgang Krischke (Hrsg.): Die gehetzte Politik. Die neue Macht der Medien und Märkte. Herbert von Halem Verlag
(Köln) 2013.
ISBN 978-3-86962-079-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14641.php, Datum des Zugriffs 06.11.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.