Hartwig Hansen: Der Sinn meiner Psychose
Rezensiert von Prof.em Dr. Alexa Köhler-Offierski, 15.08.2013

Hartwig Hansen: Der Sinn meiner Psychose. Zwanzig Frauen und Männer berichten. Paranus Verlag (Neumünster) 2013. 200 Seiten. ISBN 978-3-940636-24-9. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,50 sFr.
Thema
Seit über 20 Jahren treten Menschen mit Psychose-Erfahrungen zunehmend in die Öffentlichkeit und artikulieren ihre eigenen Interessen. Dazu zählt auch ihre eigene Sicht auf ihre psychischen Schwierigkeiten. Der Paranus-Verlag unterstützt dieses Anliegen konsequent, z.B. auch indem er das vorliegende Buch herausbrachte. Die Frage nach dem Sinn einer Psychose ist psychiatrischerseits nicht zu beantworten, aber sie ist für Betroffene bedeutsam. Davon legt diese Publikation Zeugnis ab.
Herausgeber und AutorInnen
Der Herausgeber Hartwig Hansen ist teils therapeutisch, teils publizistisch und als Lektor tätig. Über den Lebensweg und die jetzige Lebenssituation der anderen AutorInnen informiert der Herausgeber in seinem Dank an die AutorInnen. Einige von ihnen wie Peter Mannsdorff, Sibylle Prins, Arnhild Köpcke sind bereits überregional publizistisch aktiv gewesen.
Entstehungshintergrund
Angeregt von Dorothea Buck, die mit ihrem Erfahrungsbericht „Auf der Spur des Morgensterns – Psychose als Selbstfindung“ eine Vorreiterin und Wegbereiterin für die öffentliche Artikulation von Psychose Betroffenen war, ist in 20 Berichten – 13 von Frauen, 7 von Männern – nachzulesen, worin sie selber den Sinn ihrer Psychose sehen und wie ihr jeweiliger Weg dorthin war –, denn Sinn kann primär subjektiv erkannt werden.
Aufbau und Inhalt
Der Herausgeber ist für die Zusammenstellung der Aufsätze und die einrahmenden Kapitel zuständig. In der Einleitung schildert er, wie das Buch zustande kam, sein Schlusswort steht unter dem Titel „Sinn, Sinn und Sinn“. Dahinter verbergen sich drei unterschiedliche Dimensionen von Sinn, nämlich zum einen die Frage nach dem Warum der Psychose, zum zweiten die durch die Psychose vermittelte Erfahrung dessen, was im Leben bedeutsam ist, und zum dritten die daraus erwachsene Sinngebung für das weitere Leben.
Die AutorInnen berichten auf jeweils im Schnitt 8 Seiten von ihrer Sinnsuche vor dem Hintergrund in der Regel mehrfacher psychotischer Erfahrungen. Dabei werden die damit verbundenen Erfahrungen mit sich selbst, aber auch in der stationären und ambulanten psychiatrischen Versorgung durchaus differenziert geschildert und dankbar hilfreiche, zugewandte und zuhörende Begegnungen dargestellt. Überwiegend wird die fehlende Transparenz im Zusammenhang mit Einweisungen und Aufenthalten, das Nicht-Ernst-Nehmen der Betroffenen und das Desinteresse an der Bedeutung der Inhalte der Psychose beklagt. Vor diesem Hintergrund sind die Schilderungen des jeweils eigenen Wegs besonders beeindruckend.
Bereits die Titel der Artikel verraten etwas von der Bandbreite:
- Meine Psychose bin ich selbst.
- Der Weg des Herzens und wie meine Psychose mich dabei begleitet hat.
- Es fließt. Ganz langsam. Es ist Leben, es ist Kraft.
- Andere Menschen kann ich nicht ändern – nur mich selbst.
- Die Kleinfamilie – eine illustre Staatengemeinschaft.
- Das Rätsel der Sphinx.
- Ein nächtlicher Albtraum – Vorbote der Morgendämmerung.
- „Sag du es ihr“, sagt die Seele zum Körper, „auf mich hört sie nicht.“
- Davonfliegen und autonom werden.
- Krankheit ist ein Weg, zu den richtigen Fragen zu gelangen.
- Erst mal hören…
- Auf der Suche nach dem Paradies.
- Was macht ein gläubiger Kranker in einem Heilsystem, das den Glauben ausschließt?
- Spurensuche.
- Worte finden statt Pillen, aufdecken statt zudecken.
- Die Schöne und das Biest.
- Der Sinn liegt im Zwischen.
- Befreiung.
- Spiritualität ist die kostbarste Perle meiner Psychoseerfahrung.
- Ich weiß, dass meine Psychose heilend war.
Exemplarisch vertiefend werden zwei Beispiele herausgegriffen:
- Marina Gerdes skizziert in „Meine Psychose bin ich selbst“ zunächst den biographischen Hintergrund, der sie hat keine Wurzeln unter den Füßen bilden lassen. Die erste Psychose erinnert sie als Weite, „eine Unendlichkeit ohne Raum und Zeit. Jede Uhr war stehen geblieben, jeder Zeiger ohne Sekundenschlag. Plötzlich fühle ich nur Freiheit, endlich bin ich geplatzt.“ (S. 18) „… Danach blutete meine Seele lange Monate in der Psychiatrie. Ich bekam das alte Neuroleptikum Haldol in höchster Dosierung. Danach stürzte ich in meine tiefste Depression und erstarrte in Todesängsten in tagelanger Fixierung…“ (S.19) „Es war für mich kein Zuckerschlecken, mich selbst zu finden und gesund werden zu wollen. Aber es war und ist mein freier Wille, auf Dauer ohne Psychosen zu leben.“(S. 19) Wie sie das erreicht hat – weiter lesen.
- Gwen Schulz leitet ihren Beitrag „Davonfliegen und autonom werden“ mit den Sätzen ein: „Bevor ich über den Sinn meiner Psychose schreibe, möchte ich behaupten, dass jede Psychose Sinn macht. …Natürlich kann es sein, dass man den Sinn nicht erkennt oder sich auch lieber nicht damit auseinandersetzen möchte…Ich halte Psychose für einen Übersetzungsversuch aus dem Inneren, für eine Antwort, eine Reaktion, einen Verarbeitungsversuch oder auch einen Abgrenzungsversuch.“ (S. 85) Und dann beschreibt sie ihren ganz persönlichen Entschlüsselungsweg.
Während einige Texte chronologisch vorgehen, sind andere Texte in einer Collagentechnik aus früheren Tagebuchnotizen und jetzigen Interpretationen, aus Gedichten und fortlaufendem Text zusammengefügt und ließen sich nur unter Verlust der literarischen Qualität wiedergeben.
Diskussion
Jede schwerwiegendere Erkrankung zwingt dazu, diese in dem Horizont des bisherigen Lebens und der Lebensplanung zu verarbeiten. Die Frage nach dem Warum ist zwar meist sinnlos, wenn sie nicht in lösbare Fort-Schritte überführt wird. Die Frage nach der Bedeutung für das Weiterleben ist aber im Hinblick auf Bedeutsamkeit, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit, den Faktoren des so genannten Kohärenzsinn, der in der Salutogenese eine zentrale Rolle spielt, wichtig.
Darüber hinaus sind die Erfahrungen in der Psychose selber auf sehr unterschiedliche Weise für die AutorInnen eindrücklich. Dieser Gehalt wird völlig entwertet, wenn den Inhalten der Psychose jeder Sinn abgesprochen wird. Nur – und darauf weisen die AutorInnen hin – dieser Sinn ist ein je individueller und kann seitens der Professionellen nicht von außen vermittelt, sondern durch Zuhören und im Dialog nur zu finden ermöglicht werden.
Die Frage nach dem Sinn der Psychose wird so zu einem Bestandteil der Verantwortungsübernahme für das eigene Leben. Das zeigt sich auch darin, dass so nebenbei eine Fülle von Hinweisen auf „skills“ in den Beiträgen eingestreut sind, um mit dem Potential und Risiko psychotischen Reagierens umzugehen.
Fazit
Die Veröffentlichung stellt eine Bereicherung dar für diejenigen, die sich jenseits diagnostischer Zuordnungen von ICD-10 für Menschen interessieren, die an einer Psychose erkrankten.
Die Veröffentlichung stellt eine Ermutigung dar für diejenigen, die nach dem Sinn ihrer psychotischen Erfahrungen fragen wollen, aber unsicher sind.
Und sie stellt eine Ermahnung für die Professionellen dar im Hinblick auf das, was Betroffene vielstimmig artikulieren, für ihre Genesung zu benötigen.
Rezension von
Prof.em Dr. Alexa Köhler-Offierski
Seniorprofessorin Evangelische Hochschule Darmstadt
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