Corinna Scherwath, Sibylle Friedrich: Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung
Rezensiert von Prof. Dr. Margret Dörr, 13.03.2013

Corinna Scherwath, Sibylle Friedrich: Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung. Mit 7 Tabellen. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2012. 224 Seiten. ISBN 978-3-497-02321-9. 21,90 EUR.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-497-02645-6 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema und Hintergrund
Ein historischer Rückblick auf politische und fachspezifische Diskurse über Traumatisierbarkeit bzw. Traumatisierung von Menschen zeigt, dass sich im Zuge der Entwicklung eines demokratischen Ethos in der modernen Gesellschaft das gesellschaftliche Bewusstsein für emotionale Verletzungen, die Menschen in der (Spät)Moderne zugefügt werden, stetig ausgeweitet hat. Erkennbar stellt Traumatisierung ein gleichermaßen politisches und kulturelles wie medizinisches, psychologisches und pädagogisches Phänomen dar, wobei sich diese Dimensionen gegenseitig durchdringen und epochenspezifisch differente verletzliche Menschengruppen in den Fokus genommen wurden und werden.
Im letzten Jahrzehnt entwickelte sich aus der Praxis der Jugendhilfe eine anerkannte Traumapädagogik, die nicht nur auf zahlreiche gute (psychoanalytisch- und sozial-)pädagogische Ansätze seit Anfang des 20. Jahrhunderts zurückgreifen kann, sondern diese sachhaltig mit neueren psycho-traumatologischen Wissensbestände zu verbinden weiß. Begleitet wird das hohe Engagement der Fachkräfte vom politischen Diskurs zu Kindeswohlgefährdung. Und auch das im Jahr 2010 öffentlichen Bekanntwerden des skandalösen Ausmaßes von (sexueller) Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in – bisher eher idealisierten katholischen und reformpädagogischen – Bildungs- und Erziehungsinstitutionen, trug mit dazu bei, die extrem zerstörerischen Kurz- und Langzeitfolgen für Kinder und Jugendliche mit (sexuellen) Gewaltwiderfahrnissen ins gesellschaftliche Bewusstsein zu heben. In diesen Zusammenhang lässt sich auch das erscheinen des Buches „Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung“ von Corinna Schwerwath und Sibylle Friedrich im Reinhardt Verlag einordnen.
Autorinnen
Corinna Scherwath, Dipl. Sozialpädagogin, Kinder- und Jugendlichentherapeutin, Fachberaterin für Psychotraumatologie und Traumapädagogik (zptn), leitet das Pädagogisch-Therapeutische Fachzentrum Hamburg.
Dr. Sibylle Friedrich, Dipl. Psychologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Psychologie der Universität Hamburg.
Aufbau und Inhalt
Der Band gliedert sich in drei Teile, die den Dreiklang von Professionalität in sozialpädagogischen Handlungsfelder spiegeln sollen:
- Fachwissen zu Trauma;
- Leitlinien traumabezogener Interventionen im sozialpädagogischen Alltag und
- Stabilisierung und Selbstfürsorge im Helfersystem als Schutz vor Sekundärer Traumatisierung.
In der Einleitung weisen die Autorinnen auf die Tatsache hin, dass das Phänomen Traumatisierung vor den Toren einer (sozial)pädagogischen Praxis keineswegs Halt macht und plädieren für die gegenseitige Nutzbarmachung von Erkenntnissen, Ansätze und Ressourcen der verschiedenen bio-psycho-sozialen Fachdisziplinen, um hilfreiche Unterstützung für die Betroffenen gestalten zu können. Als wesentlichen Beitrag der sozialpädagogischen Arbeit nennen sie die Herstellung von „sicheren Orte“ und „ressourcenvolle Stabilisierungsarbeit“. Diese beiden Aspekte sind – so die Verfasserinnen – eine bedeutende „Grundlage für weiterführende psychotherapeutische Behandlungsprozesse“ (12).
Das erste Kapitel „Was ist Trauma“ bietet einen fundierten Überblick über aktuelle klinisch-psychologisch Erkenntnisse aus der Psychotraumatologie. Psychobiologische Reaktionen von Menschen auf traumatische Widerfahrnisse werden ebenso dargestellt wie zentrale Symptombildungen als Traumafolgen. Neben den klassischen posttraumatischen Belastungssyndromen zeigen sie auch jene somato-psychischen Folgeerscheinungen auf, die im Zusammenhang von in der Kindheit kumulativ erfahrener familiärer Beziehungstraumata zu sehen sind und als „komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ oder auch „Traumaentwicklungsstörung“ begriffen werden. Mit guten Gründen werfen die Autorinnen hierbei einen gesonderten Blick auf Auffälligkeiten in der Bindungsentwicklung, als traumabasierte Folgeerscheinungen, sowie auf das Erfordernis für Fachkräfte der Sozialen Arbeit/Pädagogik, neben traumaspezifischen Situationsfaktoren (biografische Erkundungen) lebensgeschichtlich – auch transgenerativ – bedingte Risiko- und Schutzfaktoren zu beachten.
In
Kapitel
2
„Leitlinien
traumabezogener Interventionen im sozialpädagogischen Alltag“,
stellen Scherwath
und Friedrich
„(d)as Erkennen und die Auseinandersetzung mit den protektiven und
stabilisierenden Faktoren in der menschlichen Entwicklung“ als
einen „Kompass für die zentrale Richtungsbestimmung
traumapädagogischer Handlungsansätze“ vor (59). Die Autorinnen
plädieren für eine sinnverstehende Pädagogik, erläutern die
professionelle Aufgabe, pädagogische Orte als sichere Orte (safety
first) zu gestalten, um individuell gestaltete äußere
Voraussetzungen zur (Wieder-) Gewinnung innerer
sichere Orte bei den AdressatInnen zu schaffen. Dabei skizzieren sie
die dazu nötigen verlässlichen institutionellen und persönlichen
Sicherheiten für die Fachkräfte. Vor allem in einer
bindungsorientierten Traumapädagogik sehen sie die Chance, dass die
Pädagogin zu einem „sicheren Hafen“, d.h. zur „primären
Bindungsperson und damit zu einem fürsorglichen Introjekt“, für
die Kinder/Jugendlichen werden kann. Denn, so zitieren die Autorinnen
Bruce
D.
Perry
(2006) „Beziehungen
sind der Weg zur Veränderung und die mächtigste Therapie ist die
menschliche Liebe.“ (Perry 2006, 289)
Wiederholt
fordern Scherwarth
undFriedrich,
dass
die fachliche Aufmerksamkeit sowohl auf eine innere als auch äußere
Ressourcenorientierung zu legen sei. Dieses „Schätze finden“
erfolgt mit dem Ziel „dass positive Selbstbilder und
Selbstwirksamkeitsüberzeugungen (nach)reifen können.“ (94) Als
konkrete sozialpädagogische „Arbeit mit dem Trauma“ fokussieren
sie Psychoedukation, Enttabuierung und traumasensible
Biografiearbeit, durch die Kinder und Jugendliche stabilisierend
unterstützt werden können, um das Geschehene in die eigene
Lebensgeschichte einzuordnen und traumabasierte, dysfunktionale
Einstellungen und Überzeugungen zu verändern. Dabei wird auch die
Produktivität einer körperorientierten Perspektive als Bezugspunkt
der Hilfeleistung hervorgehoben. Des Weiteren informieren die
Autorinnen über die Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche, ein
Sachverhalt, der in der Psychologie unter den Begriffen
„multidimensionales Selbst“ bzw. „Ego-States“ und „Inneres
Team“ thematisiert wird. Des Weiteren betonen sie, dass die
Auseinandersetzung mit divergierenden und zum Teil schwierigen
Persönlichkeitsanteilen zwar bisher der psychotherapeutischen Praxis
eigen sei, gleichwohl aber auch für die traumapädagogische Arbeit –
insbesondere für das Verstehen und die Verständigung mit den
Betroffenen - einen zusätzlichen Weg eröffnen würde.
Augenscheinlich unterliegen sie aber mit ihren praxisorientierten
Anleitungsvorschlägen im Umgang mit betroffenen Jungen und Mädchen
tendenziell dem Wunsch, die komplizierte unbewusste psychische
Dynamik von (traumatisierten) Menschen über eine geometrische
Klarheit in einer Beziehungspraxis handhabbar zu machen.
Als
eine weitere Leitlinie pädagogischer Arbeit nennen sie Kenntnisse
über normale Traumafolgereaktionen wie Verlust bzw. Zerstörung
einer Affekt- und Impulskontrolle. Gerade diese Symptome belasten den
pädagogischen Alltag mit seelisch verwundeten Kindern und
Jugendlichen und fordern dazu auf, bereits in der Hilfeplanung
Strategien und Sicherheitsmaßnahmen sowohl für den Bereich der
präventiven Entschärfung als auch für einen sogenannten
„Katastrophenschutz“ zu formulieren. Diese Ausführungen werden
durch konkrete Technikvorschläge als auch weitergehende anleitende
Literatur angereichert. Ein Kapitel mit Erläuterungen zu
Akuttraumata und mögliche „erste Hilfe“ sowie Informationen zu
„Psychotherapeutische Hilfen“ einschließlich eines Einblicks in
divergierende Perspektiven der Traumatherapie schließen den Teil 2
des Bandes ab.
Um “Stabilisierung und Selbstfürsorge im Helfersystem als Schutz vor sekundärer Traumatisierung“ geht es in Kapitel 3. Damit wird zugleich auf den hohen Rang selbstreflektorischer Aspekte in der (sozial)pädagogischen Arbeit mit hochbelasteten Kindern und Jugendlichen hingewiesen. In den beispielhaften Erläuterungen zu sekundärer Traumatisierung (untermauert mit Übungsbeispielen) veranschaulichen die Autorinnen, dass gerade die Sensibilisierung der pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für eigene emotionale Reaktionen nicht nur einen Schutz vor traumatischen Re-Inszenierungen mit den Kindern und Jugendlichen, sondern zugleich einen Schutz vor eigenen traumatogenen Informationsverarbeitungen darstellt. Psychoedukation über Prävalenz, Ursachen, Symptome, Verlauf von sekundärer Traumatisierung sowie die Vermittlung von wirksamen Schutzmaßnahmen auch bei den Fachkräften gelten den Verfasserinnen als wesentliche Gegenmaßnahme. Als einen weiteren Aspekt der Psychohygiene nennen sie die Supervision, wobei sie berechtigt anmahnen, dass eine konzeptionelle Entwicklung spezifischer „Trauma sensibler Supervision“ bisher noch ausstehen würde. Insgesamt sehen Scherwarth und Friedrich eine „gelebte Psychohygiene“ (198) als eine unverzichtbare „Querschnittsaufgabe an. Diese betrifft gleichermaßen die einzelne Fachkraft, das gesamte Team und deren Leitung und darf auch „vor der Organisation und ihren Kooperationspartnern nicht haltmachen“ (ebd.). Der Band schließt mit einigen gesellschaftspolitischen Aspekten, die grundlegende Voraussetzungen sind, um die in ihrem Buch formulierten Leitlinien umzusetzen.
Zielgruppe
Die Monographie spricht praktisch Tätige und Studierende der Sozialen Arbeit an, die sich für aktuelle Themen der Sozialen Arbeit, eben nicht nur im Gesundheitswesen, interessieren.
Diskussion
Mit seinem inhaltlichen Programm liefert der Band vor allem wesentliche neurobiologische, bindungstheoretische und psychologische Theorien zu Folgewirkungen von Trauma-Widerfahrnisse sowie einige anregende Entwürfe als „Handwerkszeug“ für (Sozial)Pädagoginnen, deren Kenntnisse für eine traumapädagogische Praxis zweifellos relevant sind. Gleichwohl möchte ich eine mir wichtige kritische Anmerkung machen: So sprechen die Autorinnen zwar die unbedingte Notwendigkeit einer gegenseitigen disziplinären ‚Befruchtung“ der mit dem Thema „Trauma“ und „Traumatisierung“ befassten Disziplinen und Professionen an, gleichwohl konstatieren sie überraschend uninformiert, dass „die Grundlagen aktueller traumapädagogischer Ansätze einen Großteil ihres Wissens aus psychologisch-psychiatrischen Handlungsfeldern“ (12) beziehen würden. Mit dieser Zuordnung verdeutlichen Scherwath undFriedrich allemal ihre eigene klinisch-psychologische Fokussierung in ihrem Nachdenken über „soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung“. Interaktionistische-, hermeneutische-, lebensweltorientierte und psychoanalytische Konzepte in der (Sozial)Pädagogik sowie sozialtherapeutische Verortungen auf der Basis genuiner sozialwissenschaftlicher Theorien fallen leider weitgehend ‚unter den Tisch?. Diese einseitige Orientierung an professionsfremde Erklärungsmodelle samt des dazugehörigen neurobiologischen Vokabulars lassen – zugegeben überspitzt formuliert – den Verdacht aufkommen, dass sich der Krümel (Sozial)Pädagogik nur vom reichen Tisch der klinischen Psychotraumatologie bedienen müsse, um seiner Rolle als einer zuarbeitenden traumapädagogischen Berufsgruppe angemessen gerecht zu werden.
Fazit
Der Band bietet eine reichhaltige Fülle über Grundlagen zu Symptomen, Risiko- und Schutzfaktoren, aber auch einige Tipps zum Verhalten in konkreten Situationen mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Dabei ist es den Autorinnen gelungen, ihre Positionierung in der Psychologie und Psychotraumatologie sicherlich gut begründet und gehaltvoll darzulegen. Die eher unzureichende Verbindung zu anerkannten Wissensbestände der (Sozial)Pädagogik in der Theorie wie professionellen Praxis mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen bleibt leider weitgehend eine enttäuschende Leerstelle. Insofern ist das Buch nur bedingt für eine weitere Entwicklung in der Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit/Pädagogik im Hinblick auf den Diskurs um die Bedeutung einer „Sozialen und pädagogischen Arbeit bei Traumatisierung“ geeignet.
Rezension von
Prof. Dr. Margret Dörr
Professorin (i. R.) für Theorien Sozialer Arbeit, Gesundheitsförderung an der Katholischen Hochschule in Mainz, Fachbereich Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften.
Arbeitsschwerpunkte: Affektabstimmungsprozesse in der Sozialpsychiatrie (BMBF-Projekt)‚ Psychoanalytische (Sozial)Pädagogik, Gesundheitsförderung.
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Zitiervorschlag
Margret Dörr. Rezension vom 13.03.2013 zu:
Corinna Scherwath, Sibylle Friedrich: Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung. Mit 7 Tabellen. Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2012.
ISBN 978-3-497-02321-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14679.php, Datum des Zugriffs 02.12.2023.
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