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Gerald Hartung, Magnus Schlette (Hrsg.): Religiosität und intellektuelle Redlichkeit

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 02.04.2013

Cover Gerald Hartung, Magnus Schlette (Hrsg.): Religiosität und intellektuelle Redlichkeit ISBN 978-3-16-151972-7

Gerald Hartung, Magnus Schlette (Hrsg.): Religiosität und intellektuelle Redlichkeit. Mohr Siebeck (Tübingen) 2012. 353 Seiten. ISBN 978-3-16-151972-7. 84,00 EUR.
Reihe: Religion und Aufklärung - Band 21.

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Die Bedeutung individueller religiöser Erfahrung

Über die Zukunft des Glaubens werden genau so viele Spekulationen, Vermutungen und Prognosen angestellt, wie über die Zukunft des Unglaubens. Der 1918 in Ostpreußen geborene, 2002 in München verstorbene Philosoph, Mitbegründer der Humanistischen Union und Verleger Gerhard Szczesny verstand sich als kritischer Aufklärer gegen den Dogmatismus und den Absolutismus von Weltanschauungen. Er wollte, so betonte er in einem Briefwechsel, den er mit dem Theologen Friedrich Herr führte, keinesfalls Gläubige zu Ungläubigen machen; vielmehr ging es ihm darum, Glauben und das wirkliche Leben der Menschen auf der Erde zusammen zu bringen, bzw. kritisch zu hinterfragen und jede Form von fundamentalistischem Denken und Handeln abzulehnen. In seinem 1958 erschienenem Buch „Die Zukunft des Unglaubens“, legt er ein Bekenntnis für das Menschenrecht der Glaubensfreiheit ab und bemängelt, dass sich in unserer christlich dominierten Kultur der Nichtchrist wie ein Dieb in der Nacht verhalten muss, um seine Überzeugung entweder als Andersgläubiger oder als Atheist ausdrücken zu können.

„Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“, so proklamiert es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) in Artikel 18. In der Menschheitsgeschichte herrscht von Beginn an ein ungeklärtes Verhältnis zwischen Religion und Politik, zwischen dem Anspruch von religiös-institutionellen und laizistischen Ordnungen , von säkularen bis hin zu fundamentalistischen Machtäußerungen . (Jocelyn Maclure / Charles Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12786.php). Die UNESCO, die Kulturorganisation der Vereinten Nationen, hat Anfang des Jahres 1994 im indischen New Delhi eine Konferenz zum Thema „Religion und Politik“ veranstaltet, bei der die „Idee eines souveränen Individuums unabhängig seiner Religionszugehörigkeit und Herkunft“ in der Vielfalt des intellektuellen, kulturellen, historischen und politischen Denkens der Menschen auf der Erde thematisiert wurde (vgl. dazu: UNESCO-Kurier 12/1994). Eine dezidierte, westliche Meinung lautet: Die Berufung auf einen göttlichen Willen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme ist ein Teufelskreis (Flora Lewis); eine andere: Der Fundamentalismus hat eine Botschaft, die teilweise den unbefriedigten Erwartungen in der heutigen Welt entspricht (Mahmoud Hussein).

„Der Umgang mit moralischer und religiöser Vielfalt ist eine der größten Herausforderungen, mit denen unsere Gesellschaften gegenwärtig konfrontiert sind“; das zeigt sich alltäglich auf den Bildschirmen und den realen Lebens- und Gefahrenssituationen in der Welt. Wie ein friedliches, gerechtes, gleichberechtigtes und humanes Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft wie auch weltweit ermöglicht werden kann, wird in zahlreichen Deklarationen, Appellen und Verfassungen formuliert, als „Kampf der Kulturen“ (Samuel P. Huntington) manifestiert und „Jenseits vom Kampf der Kulturen“ postuliert (Shadia Husseini de Araújo, Jenseits vom „Kampf der Kulturen“. Imaginative Geographien des Eigenen und des Anderen in arabischen Printmedien, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12016.php). Die bange Frage, wie viel Transnationalismus Kultur angesichts der globalen, kulturellen Mobilität verträgt (Willi Jasper, Hg., Wieviel Transnationalismus verträgt die Kultur?, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8437.php) steht in gleichen Maße zur Disposition, wie die nach dem Weltbewusstsein (Oliver Kozlarek, Moderne als Weltbewusstsein. Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12558.php).

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

Der an der Berliner Freien Universität lehrende Historiker und Philosoph Paul Nolte hat 2009 ein Büchlein mit dem Titel vorgelegt: „Religion und Bürgergesellschaft“ und die Frage gestellt: „Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat?“. Dabei argumentiert er, dass Religion auf vielfältige Weise auf die Gesellschaft im ganzen ausstrahlt und damit nützlich für die Bürgergesellschaft sei. Über die Gründe, weshalb in der neueren Zeit die Aufmerksamkeit der Menschen nach religiösen Angeboten wächst, wird viel spekuliert und nachgedacht. Das Erstaunen, dass die im 19. Jahrhundert einsetzenden Konflikte zwischen „liberalem Staat“ und „ultramontanem Katholizismus“ in ein „zweites konfessionelles Zeitalter“ mündeten, hat sich heute gelegt durch die Einschätzung von der Wiederkehr der Religion. Die Werte „Freiheit“ und „Religion“ schwimmen im aufgeklärten Bewusstsein abendländischer und westlicher Gesellschaften ja in der Ursuppe eines zôon politikon, eines politischen, vernunftbegabten Lebewesens, das, entweder eingebunden ist in die Gewissheit, dass menschliches Wohlergehen ohne den göttlichen Heilsplan und das Schöpfungsversprechen gar nicht denkbar sei, schon gar nicht, weil der Mensch mit seiner verschuldeten Unmündigkeit gar nicht existieren – oder dass er sich aus seiner unverschuldeten Unmündigkeit durch individuelle und gesellschaftliche Freiheit heraus holen könne; am besten in einer „Bürger- und Zivilgesellschaft“. sei ( Paul Nolte, Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat? Verlag Berlin University Press 2009, 136 S. ).

Religionseuphorie und Religionskritik werden in je unterschiedlichen Hypothesen formuliert (Luc Ferry, Leben lernen. Die Weisheit der Mythen, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/9313.php; sowie: John Gray, Politik der Apokalypse. Wie Religion die Welt in die Krise stürzt, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8457.php); und die Formel, dass Religionskritik Kirchen- (Institutionen-) Kritik und damit Gesellschaftskritik sei, regt an und auf ( Maxi Berger / Tobias Reichardt / Michael Städtler, Hrsg., „Der Geist geistloser Zustände“. Religionskritik und Gesellschaftstheorie, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12786.php). Die Suche nach Gott und Glaubensinhalten (Bruno Latour, Jubilieren. Über religiöse Rede, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12767.php) hat genau so Konjunktur wie Irrungsvermutungen (John Gray, Wir werden sein wie Gott. Die Wissenschaft und die bizarre Suche nach Unsterblichkeit, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14485.php).

Die Heidelberger Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) will mit dem wissenschaftlichen Nachdenken verdeutlichen, dass religiöses Denken und Handeln eine diesseitige Aufgabe der Menschen darstellt (vgl. dazu auch: Richardt Edtbauer / Alexa Köhler-Offierski, Hrsg., Welt – Geld – Gott, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14494.php). Im November 2009 haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von FEST und der Universität Erfurt bei einer Tagung darüber auseinandergesetzt, wie „individuelle Spielräume religiösen Handelns sowie die durch diese Spielräume eröffneten Optionen der Gestaltung religiöser Traditionen und die religiösen Reflexionen auf Individualität“ wirksam sind. Dabei gingen die Forscher von der Annahme aus, dass „religiöse Individualisierung … (im) Verhältnis zwischen vollzogener Religion und ihrer begrifflichen Reflexion verschiebt“.

Der Philosoph von der Bergischen Universität Wuppertal, Gerald Hartung und der Referent für Philosophie und Leiter des Arbeitsbereichs „Theologie und Naturwissenschaft“, Magnus Schlette, geben den Tagungsband, an dem 17 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mitgearbeitet haben, heraus. Der Fokus liegt dabei, in der Betrachtung der historischen Entwicklungen und Prozesse von der Aufklärung, über die vormärzliche Theologie und Philosophie, die Jahrhundertwende und klassischen Moderne bis zur Gegenwart, auf der „Verhältnisbestimmung von Religiosität und intellektueller Redlichkeit“. Entgegen der Vermutung, dass sich hierbei Auflösungserscheinungen und Nivellierungen in der Bewertung von religiösen Einflüssen und Positionen zeigen, gehen die Autorinnen und Autoren davon aus, dass sich eine produktive Dynamik im lokal- und globalgesellschaftlichen Diskurs zeigt und wir „auch in der Zukunft noch überraschende Bereicherungen wahrhaftiger Selbstverständigung über die condition humaine“ erwarten können.

Der Soziologe von der Universität Jena, Tilman Reitz, setzt sich in seinem Beitrag „Inneres Gesetz und äußerliche Gemeinde“ mit Kants Religion der moralischen Selbstprüfung auseinander. Die in der Historie – wie in der Gegenwart – konnotierten Auffassungen über Religion als gottgefälliges Denken und Handeln oder als Erfüllung des unbedingten Heilsauftrags werden bei Immanuel Kant zur „Vernunftreligion“, bei der „Weltoffenheit durch Sakralisierung“ hergestellt wird. Vergleiche mit anderen philosophischen Schriften, etwa Spinozas, Derridas u.a., bringen Reitz dazu, für eine „sanfte Säkularisierung“ einzutreten.

Gerald Hartung reflektiert in seinem Vortrag „“Der Preis intellektueller Redlichkeit“ am Beispiel des Wirkens des Philosophen, Schriftstellers und Theologen David Friedrich Strauß (1808 – 1874) die kontroversen Hegelrezeptionen in der Zeit des deutschen Vormärz. Es sind die in der „Tübinger Schule“ repräsentierten Positionen der protestantischen Theologie, die dabei Pate stehen:. „Die Christologie wird auch bei Strauß zur Anthropologie, nur dass er nicht die Dialektik von Entfremdung und Aneignung des Selbstbildes aufnimmt, sondern die Wahrheit des Christentums anthropologisch deutet“. In der Frontstellung zum jungen Friedrich Nietzsche zeigen sich bei den Straußschen (und Bruno Bauerschen) Positionen die beiden Konzeptionen intellektueller Redlichkeit – Kontinuität versus Konfrontation – und damit heute mehr denn je Herausforderungen für intellektuelles Denken und Handeln.

Der wissenschaftliche Mitarbeiter an der Erfurter Søren-Kierkegaard-Forschungsstelle, Markus Kleinert, zeigt in „Ambivalenz der intellektuellen Redlichkeit am Beispiel von … Antichrist“, dem Spätwerk des Skeptikers, Nietzsches Betrachtungen zur Religion auf, indem er herausarbeitet, dass seine „Gott-ist-Tod“-Metapher nicht als revolutionärer Gestus verstanden werden kann, sondern als „Häutung“, die von der Position des (skeptizistischen) Beobachters als „Rechtschaffenheit“ zu erklären ist: Bedingte und unbedingte Redlichkeit als kontroverse wie gleichzeitig berechnende Haltungen?

Die an der TU Eindhoven in den Niederlanden lehrende Philosophin, Germanistin und Anglistin, Felicitas Krämer, macht sich in „Intellektuelle Redlichkeit in William James‘ The Varieties of Religious Experience“ Gedanken darüber, welche Rolle intellektuelle, religiöse Redlichkeit im Werk des US-amerikanischen Psychologen und Philosophen spielt: „Ein Mensch ist nach James dann aufrichtig in seiner Religiosität, wenn der die ‚richtigen Gefühle‘ hat. Die Suche nach einer erfahrungsbestimmten Aufrichtigkeit ist demnach bestimmt von den Differenzen und Konsequenzen von Subjektivität und Objektivität, die sich in Glaubensfragen ausdrücken: „Der intellektuell redliche Gläubige fragt nach den Wirkungen seiner Religiosität auf seine Lebenswirklichkeit und beurteilt seine Überzeugungen danach“.

Der Soziologe von der britischen Universität Leeds, Austin Harrington, formuliert in seinem Beitrag „Von der ‚intellektuellen Redlichkeit‘ zur ‚taghellen Mystik‘“, indem er Aspekte und Differenzen von Glaubenskonzeptionen bei Max Weber, Georg Simmel und Robert Musil aufzeigt. Gegenläufig und konfrontativ zur Weberschen Diktion, im Verhältnis zwischen Wissen und Glauben, zwischen Wissenschaft, Mystik und Kunst einen Trennungsstrich zu ziehen, weist Harrington in der Analyse der Werke von Simmel und Musil nach, dass ein produktives Ineinanderspielen von Wissenschaft, Mystik und Kunst zu wechselseitigen Befruchtungen führen kann und Ansatzpunkte für eine produktive Analyse der Gegenwart bietet.

Der Religionswissenschaftler vom Bochumer Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES), Volkhard Krech, verdeutlicht in „Intellektuellenreligiosität zwischen Bedürfnis und Redlichkeit“ Konstellationen in der modernen westlichen Religionsgeschichte. Der schillernde, in der Menschheitsgeschichte immer wieder kontrovers wie bestimmend formulierte Begriff des „Intellektuellen“ wird insbesondere im religiösen und areligiösen Diskurs hervorgehoben. Die Herausforderungen und gesellschaftlichen Erwartungen des Intellektuellen als „Kritiker“, als „Motor“ und als „Transformator“ korrespondieren und korrelieren mit den weltanschaulichen Auffassungen von Weltvereinnahmung und Weltflucht. Eine Intellektuellenreligiosität Hier und Heute könnte sich, so der Autor, als „engagierte Distanz“ darstellen, die sich in einer „Sensibilisierung für religiöse Fragen“ ausdrückt.

Der Bochumer Theologe Markus Höfner untersucht mit seinem Beitrag „Intellektuell religiöse Theologie?“ die Kontroversen, wie sie sich zwischen dem protestantischen Theologen, Kirchenhistoriker und preußischem Wissenschaftler Adolf von Harnack und dem Schweizer evangelisch-reformierten Theologen Karl Barth zeigten und fragt nach der aktuellen Bedeutung der Auseinandersetzungen zwischen theologischer Methode und offenbarungstheologischem Ansatz. „Von Harnack und Barth präsentieren damit in ihrer Auseinandersetzung nicht den Kontrast zwischen intellektueller Redlichkeit und autoritärer Orthodoxie, vielmehr dreht sich ihre Diskussion um zwei verschiedene Versionen dessen, was intellektuell redliche Theologie heißen könnte“.

Der Fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt, Hermann Deuser, setzt sich mit seiner Frage „Elektrisches Licht und/oder die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments?“ mit Rudolf Bultmanns Redlichkeitsforderung als Kritik der Weltbilder auseinander. Bultmanns Prämissen nämlich, dass Wahrhaftigkeit mit der Wissenschaftsauffassung der Zeit übereinstimmen muss mit dem, was in der Theologie wissenschaftliche Anerkennung gefunden hat; dass die Texte angemessen verstanden werden wollen; und schließlich dass nicht das Missverständnis aufkommt, als müsse vor dem Glaubensvollzug erst einmal eine bestimmte, vorgegebene Auffassung von Welt übernommen werden. Die durch Bultmann vollzogene Entmythologisierung zwingt gleichsam dazu, die wissenschaftlich determinierten Weltbilder zu konfrontieren und einzuwägen gegen „das alles entscheidende Selbst-, Welt- und Gottesverstehen eines Menschen“.

Der Jesuit, Theologe und Chefredakteur der Zeitschrift für christliche Kultur „Stimmen der Zeit“, Andreas R. Batlogg, fordert auf, „Von Karl Rahner (zu) lernen“, indem er über die Religiosität und intellektuelle Redlichkeit des Dogmatikers und Dogmenhistorikers reflektiert. In der vermeintlichen Spannweite von Vernunft und Glauben, von Dogma und Wissen steht, wenn sie redlich gemeint ist, die Frage. Für Karl Rahner waren Religiosität und intellektuelle Redlichkeit kein Widerspruch: „Vernunft ohne Glauben ist für ihr leer, Glaube ohne Vernunft blind“.

Die Dilthey-Fellow am Institut für Systematische Theologie der Universität Halle-Wittenberg, Rebekka A. Klein, fragt: „Intellektuelle Redlichkeit als Sünde?, indem sie im Werk des US-amerikanischer Religionsphilosophen Alvin Plantinga nachschaut, wie sich Vertrauen und Skepsis gegenüber religiösen Überzeugungen artikulieren. Begründungsrationalität, so Plantinga, könne nicht das entscheidende Kriterium für religiöse Überzeugungen sein; was dann? Es ist „die kognitive Struktur von (basalen) Überzeugungen und stellt deren mögliches Gerechtfertigtsein als ein individuell zustande kommendes Zusammenspiel von kognitiven Prozessen mit ihren Umweltbedingungen dar, das durch einen vorgängigen natürlichen Entwicklungsplan koordiniert ist“. So geriert Skeptizismus zur Sünde.

Der Philosoph von der Universität Passau, Christian Thies, setzt sich kritisch mit der Auffassung des in Tübingen lebenden Philosophen Ernst Tugendhat auseinander, „dass intellektuell redliche Menschen heute nicht mehr religiös sein dürfen“. In der atheistischen, anthropologisch fundierten Religionskritik Tugendhats ankert seine Überzeugung, dass „menschliches Leben im ganzen auf Wahrheit auszurichten (ist)“, was für ihn bedeutet, in kritischer Verantwortlichkeit zu leben. Wie sich Theismus und Atheismus auch zueinander verhalten, es bleibt doch die Erkenntnis, dass „sich die traditionellen Gestalten der Religion nicht verteidigen (lassen), man kann bestenfalls etwas in verwandelter Form retten“.

Auch der Theologe und Religionsphilosoph von der Universität Frankfurt/M., Heiko Schulz, stellt mit seiner Frage: „Kann ein religiöser Mensch intellektuell redlich sein?“ kritische Erwägungen zu Tugendhats These an, dass der Glaube an Gott heute „entweder naiv oder unredlich“ sei. Schulz benutzt ein konstruiertes Fallbeispiel, um verschiedene Stufen von Denk- und Verhaltensweisen zu verdeutlichen: Redlichkeit – Wahrhaftigkeit – Vertrauenswürdigkeit – Glaubwürdigkeit. Wenn also alle notwendigen Postulate und Einwendungen rational begründbar, intellektuell redlich und im Zusammenhang mit der religiösen Frage notwendig sind, ergibt sich daraus, dass „einige religiöse Postulate bzw. Postulate Gottes rational und der Möglichkeit nach intellektuell redlich“ sind.

Magnus Schlette nimmt mit seinem Beitrag „Religiosität zwischen Naturalismus und Theismus“ die Aufforderung des kanadischen Politikwissenschaftlers und Philosophen Charles Taylor in seinem 2007 erschienenem Buch „A Secular Age“ vorgetragenen Argumenten auf, dass sich bei den Menschen seit dem 17. Jahrhundert ein wachsendes, säkularisiertes Vertrauen in die Möglichkeiten von immanenten Begründungen ihrer Lebensvollzüge entwickelt habe und damit ein naturalistisches Selbst- und Weltverständnis entstanden sei, das basiert auf der Vorstellung von einem Leben, „das so, wie es geführt wird, auch dann geführt würde, wenn uns Gott nicht gegeben wäre“, wie dies Bonhoeffer in seinen Gefängnisbriefen formuliert hat. Schlette argumentiert mit den im Buch „Saving God“ des in Princeton lehrenden Philosophen Mark Johnston und zeigt „ein authentisches Beispiel für die Geisteslage der Moderne“ auf.

Der am Institut für Gesellschaftspolitik an der Münchner Universität lehrende Philosoph Michael Reder forscht nach Kantischen Spuren im Nachdenken von Habermas und Derrida über Religion: „Intellektuelle Redlichkeit gegenüber dem Anderen der Vernunft“. Angesichts der globalen, krisenbestimmten Konfrontationen, wie sie sich um Terror, Gerechtigkeit und Friedfertigkeit in der globalisierten Welt entwickelten, wird die Frage nach dem politischen Engagement der Philosophen laut. Sie führt die unterschiedlichen, philosophischen und gesellschaftspolitischen Denkrichtungen – Dekonstruktivismus und Diskurstheorie – in verschiedenen Artikulationen und Diskussionen zusammen in dem einigenden Postulat: Miteinander statt übereinander zu reden! Der Habermassche Begriff von der Postsäkularität der Religion freilich chargiert mit der Derridasschen Auffassung von der „Religion ohne Religion“, und so zeigen beide Argumentationslinien zwar Begrenztheiten auf die je eigenen Annahmen, können aber dazu beitragen, den Diskurs mit dem Anderen der Vernunft zu führen.

Die Theologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Frankfurt/M., Gesche Linde, nimmt mit ihrem Beitrag „Intellektuelle Redlichkeit im Prozess des Verstehens“ eine interpretationstheoretische Begriffsklärung vor. Sie verweist auf die Fallstricke, Einbahnstraßen und Schlaglöcher bei der Interpretation von Begriffen und formuliert die These, „dass intellektuelle Redlichkeit darin besteht, begriffliche Verstehensmöglichkeiten in logisch legitimer Weise auszuschöpfen, während intellektuelle Unredlichkeit darin besteht, begriffliche Verstehensmöglichkeiten logisch entweder zu überdehnen oder aber zu unterschreiten: beispielsweise indem man die Äußerungen eines anderen gezielt missinterpretiert oder ignoriert“.

Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie / Ethik und Fundamentaltheologie der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, Matthias Jung, reflektiert mit seinem Vortrag „Qualitatives Denken und rationale Begründung“ den philosophischen und religionstheoretischen Diskurs über Redlichkeit. In den Gegenüberstellungen und Parallelisierungen von ideellen und pragmatischen Denkprozessen kommt Höfner zum „pragmatischen Konzept rationaler Begründung“, bei dem „das direkte Erleben von qualitativen Gestalten und die Kunst des schlussfolgernden Denkens als komplementäre Strukturelemente unseres humanspezifischen Weltverhältnisses“ leitend sind.

Der Potsdamer Philosoph Hans Julius Schneider beschließt den Tagungsband mit dem Beitrag „Spirituelle Praxis, religiöse Rede und intellektuelle Redlichkeit“. Der intellektuelle und methodische Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Spiritualität des Religiösen bildet die Zen-Meditation als sowohl individuelles Bei-Sich-Sein als auch der sozialen Vergewisserung des Zusammen-Seins. Wenn Religion sich darum bemüht, “eine wahrhaftige Einstellung zum Leben im Ganzen zugleich zu artikulieren und weiterzugeben“, stellt sich Religiosität dann als redlich dar, wenn „ein Diskurs über die Angemessenheit verschiedener konkurrierender Bilder vom Ganzen …also ein geltungsbezogener Diskurs zwischen den Religionen“ möglich wird.

Fazit

Der Tagungsband „Religiosität und intellektuelle Redlichkeit“ greift in die Höhen und Tiefen religionsphilosophischen Denkens. Den Gefahren und Tretminen von Fundamentalismen und Alleinstellungsargumenten sind die Autorinnen und Autoren geschickt entgangen; sie haben dabei die im theistischen und atheistischen Diskurs gesetzten Bojen umschifft und Karambolagen vermieden, aber durchaus Kontroversen aufgezeigt. Es ist eine redliche Auseinandersetzung von christlichen Standpunkten. Es ist zu wünschen, dass in den weiterführenden Forschungsaktivitäten der dabei notwendige, lokale und globale interkulturelle und interreligiöse Diskurs einbezogen wird.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 02.04.2013 zu: Gerald Hartung, Magnus Schlette (Hrsg.): Religiosität und intellektuelle Redlichkeit. Mohr Siebeck (Tübingen) 2012. ISBN 978-3-16-151972-7. Reihe: Religion und Aufklärung - Band 21. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14680.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.


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