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Kaja Heitmann: Wissensmanagement in der Schulentwicklung

Rezensiert von Daniel Heggemann, 15.03.2013

Cover Kaja Heitmann: Wissensmanagement in der Schulentwicklung ISBN 978-3-658-00248-0

Kaja Heitmann: Wissensmanagement in der Schulentwicklung. Theoretische Analyse und empirische Exploration aus systemischer Sicht. Springer VS (Wiesbaden) 2013. 494 Seiten. ISBN 978-3-658-00248-0. D: 59,95 EUR, A: 61,63 EUR, CH: 75,00 sFr.

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Thema

Schulentwicklung verstanden als einzelschulische Veränderungsarbeit hatte in Form von Praxisprojekten und deren wissenschaftlicher Begleitforschung in den 90ern eine Hochphase. Stand zu dieser Zeit zumeist die Praxishilfe durch Wissenschaft im Vordergrund, so wurden gerade nach dieser Hochphase unterschiedliche Anstrengungen zur Theoriebildung vorgenommen (z.B. Rahm 2005, journal für schulentwicklung 2008/2). Die Autorin der Dissertationsschrift „Wissensmanagement in der Schulentwicklung“ versucht beiden Ansprüchen mit ihrer Arbeit gerecht zu werden, allerdings nicht als getrennte, sondern aufeinander bezogene Projekte: Auf Basis eines umfassenden schultheoretischen Verständnisses soll das Wissensmanagement-Konzept aus der Wirtschaft für Schulen und damit Schulentwicklung adaptiert werden, sodass sowohl eine theoretisch anspruchsvolle und angemessene Berücksichtigung organisations- bzw. schultheoretischen Wissens vollzogen wie auch ein praktischer Nutzen für Schulen und ihre Begleiter möglich wird. Für diese beiden Ziele wird zum einen die soziologische Systemtheorie nach Luhmann als analytische Basis genutzt und zum anderen eine eigene qualitativ-empirische Studie durchgeführt. Anders als die meisten Arbeiten zum Thema Schulentwicklung, die organisationstheoretische Ansätze vornehmlich als „Instrument der Kritik sowie zur Begründung programmatischer Ansprüche“ (98) eingesetzt haben, strebt Heitmann an, den „analytisch-deskriptiven Charakter“ (ebd.) der Systemtheorie zu nutzen, um einer solchen Verwendung vorzubeugen.

Aufbau und Inhalt

Nach einer Einführung wissenschaftsübergreifender systemischer Grundlagen wird als Kern der theoretischen Grundlegung der Arbeit die soziologische Systemtheorie nach Luhmann in ihren gesamtkonzeptionellen wie auch ihren organisationstheoretischen Grundannahmen dargestellt. Zusätzlich zu den für die Systemtheorie zentralen organisationstheoretischen Begrifflichkeiten (Entscheidung, Entscheidungsprämissen, Organisationskultur, Mitgliedschaft) werden die von Willke eingeführten fünf Dimensionen der Systembildung erläutert, die für die Arbeit eine zentrale Rolle spielen (s.u.).

Das anschließende Kapitel 2 nimmt die Schule dann als Anwendungsfall systemtheoretischer Organisationstheorie. Dazu wird nach einem Überblick über die bisherige erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Organisation die Einzelschule als Organisation definiert bzw. der „Eigensinn und die Besonderheiten“ (108) von Schule dargestellt. Schule versteht Heitmann dabei als Organisation des Erziehungssystems, dessen Merkmale anhand der in Kapitel 1 eingeführten Dimensionen der Systembildung beschrieben werden: In der Grenzdimension ist die Schule geprägt durch die besonderen Mitgliedschaftsverhältnisse von Lehrern bzw. den Teilnehmerverhältnissen der Schüler, in der Ressourcendimension zeigt sich, dass Schule eine „Bestandsgarantie“ (116) besitzt, in der Strukturdimension ist Schule durch die geringe Hierarchisierung und die hohe Autonomie der einzelnen Lehrkraft in der Unterrichtsausübung geprägt, in der Prozessdimension durch den zwar über Lehrpläne gesteuerten aber letztlich technologiedefizitären Unterricht und in der Reflexionsdimension wird deutlich, dass Schulen nicht zielorientiert steuerbar sind.

Im Zentrum des dritten Kapitels steht die organisationstheoretische Analyse von schulischer Entwicklung anhand der eingeführten fünf Dimensionen (s.o.), deren Ergebnis ist, dass in Schulen v.a. ein „Mangel an Organisationsbewusstsein des Lehrpersonals“ und eine „gering ausgeprägte Kooperations-, Abstimmungs- und Austauschintensität“ (184) vorherrsche. Stattdessen sei von den Organisationsmitgliedern ein „Denken in einer erweiterten Zeitperspektive“ (184) notwendig, da „Kooperation und Abstimmung erst langfristig Entlastung und eine Erweiterung des individuellen Handlungsspielraums“ (184) mit sich brächten.

In Kapitel 4 wird anschließend das Konzept des Wissensmanagements eingeführt. Dieses wird dabei als „Bestandteil und Realisierungsinstrument der Lernenden Organisation“ (272) verstanden, dessen „Kernaufgabe“ (229) die Explizierung impliziter Wissensstrukturen ist. Neben der theoretischen Unterscheidung von Daten, Information und Wissen und weiterer unterschiedlicher Wissenskategorien werden Wissensmanagement-Modelle eingeführt, die „weniger technische und manageriale Komponenten betonen und dafür stärker die personale sowie die soziale Dimension von Wissensmanagementprozessen in den Blick rücken“ (25). So schließt das Kapitel 4 mit der Darstellung zweier konkreter Wissensmanagement-Ansätze (SECI-Modell und Münchner Modell) und möglicher Instrumente für die Praxis ab.

Der zentrale verbindende Schritt in der Arbeit wird in Kapitel 5 vollzogen: Nach theoretischer Klärung der Begrifflichkeiten aus den unterschiedlichen Feldern können nun die beiden zentralen Fragestellungen der Arbeit auf theoretischer Ebene diskutiert werden, welche „Ansatzpunkte […] sich für Wissensmanagement in der Schulentwicklung“ (275) bieten und welche „Funktionen […] Wissensmanagement in Schulentwicklungsprozessen erfüllen“ (ebd.) kann. Für die Darstellung der Ansatzpunkte dienen wiederum Willkes Dimensionen als Ordnungs- und Systematisierungshilfe. Als Möglichkeiten benennt Heitmann die „Öffnung des Systems“ (277) Schule gegenüber seiner Umwelt und daran anschließend die effiziente Nutzung externer Wissensbestände, die Überführung personaler Wissensbestände der Mitglieder in Organisationswissen, einen verbesserten Austausch von Wissen zwischen bestehenden Teilsystemen der Einzelschule und die erhöhte Reflexion über Feedbackprozesse und damit insgesamt der „Explizierung implizit vorhandenen Wissens“ (302). Als Funktionen von Wissensmanagement benennt Heitmann im Anschluss eine Sensibilisierungs-, Dokumentations-, Entlastungs- und Reflexionsfunktion.

Kapitel 6 stellt die empirische Untersuchung in ihrer Konzeption und ihrem Vorgehen in der Erhebung und Auswertung vor. Es wurden insgesamt an vier Gymnasien 13 Lehrkräfte (davon vier Schulleiter) mithilfe leitfadengestützter Interviews befragt und inhaltsanalytisch ausgewertet. Ziel der empirischen Studie sind typische und schulübergreifende Umgangsweisen mit Daten, Information und Wissen herauszuarbeiten sowie schulentwicklungsbezogene Kernprobleme zu rekonstruieren. Diese werden auf Basis von expliziten Aussagen der Lehrkräfte gewonnen und anhand von Interviewausschnitten in Kapitel 7 dargelegt. Dabei werden immer wieder auch an die Darstellung der Ergebnisse anschließend konkrete „Gestaltungsvorschläge“ (460) benannt.

Zentrale Ergebnisse sind, dass in Schulen eine starke „Binnenorientierung“ (352) herrscht, in der externe Informationen häufig entweder unberücksichtigt oder abgewehrt werden. Intern prägt eine Orientierung an der möglichst unmittelbaren Verwertung von Informationen für den Unterricht die schulischen Umgangsweisen mit Informationen. Des Weiteren erfolgt der Austausch zwischen Lehrkräften vornehmlich informell und damit wenig systematisch, die Lehrkräfte arbeiten vornehmlich individualisiert und es findet nur sehr wenig (gemeinsame) Reflexion statt. Integriert in und z.T. quer zu den Umgangsweisen arbeitet Heitmann zum Abschluss des Kapitels noch die Kernprobleme der Schulentwicklung heraus und diskutiert diese. Die Kernprobleme sind Abhängigkeit vom freiwilligen Engagement und Mangel an Zeit, Verbindlichkeit, kollektiver Einigung, Kontinuität, Ressourcen und Vertrauen benannt.

Diskussion

Die zentrale Leistung der ersten beiden Kapitel ist die zusammenfassende Darstellung systemtheoretischer Grundlagen, ihrer Organisationstheorie und die Anwendung auf den Fall Schule: Die im allgemeinen sehr abstrakte und vielfach nur schwer zugängliche Systemtheorie wird hier nicht nur prägnant, sondern auch sehr verständlich dargestellt. Auch wenn manche Aspekte in ihrer Abstraktheit verhaften, ohne dass sie im Theorieteil konkretisiert oder in der späteren empirischen Anwendung genutzt würden, so stellt dies jedoch eine gute Darstellung systemtheoretischer Grundlagen dar. Die Ausführungen zur systemtheoretischen Schultheorie bündeln die zentralen Aussagen in eine ebenso verständliche wie präzise Darstellung. Dabei erfasst Heitmann sowohl die soziologischen Befunde, die im Schulentwicklungsdiskurs wenn überhaupt nur singulär oder partiell aufgenommen wurden, wie auch die erziehungswissenschaftlichen Beschreibungen von Schule. Dieser Teil der Arbeit ist sehr lesenswert und hilfreich und kann als Einführung in eine systemtheoretische Perspektive auf Schule mit dem Schwerpunkt Organisation dienen.

Die anschließende Anwendung auf das Thema Schulentwicklung gelingt dann jedoch nur noch bedingt: Schulentwicklung wird an vielen Stellen nur unzureichend, d.h. nur von seiner programmatisch-konzeptionellen Seite erfasst, nicht aber in seiner vollen Komplexität. Dies hätte sowohl durch eine konsequente Anwendung systemtheoretischer Organisationstheorie wie auch durch eine umfassende Berücksichtigung des Forschungsstandes verhindert werden können. Die dort z.B. lange bekannten „Spannungsfelder“ (Arnold/Bastian/Reh 2000) deuten auf wesentlich komplexere Verhältnisbestimmungen zur Umwelt hin, als dies bei Heitmann aufscheint, wenn sie dem Schulprogramm z.B. nach außen nur die Funktion der „Herstellung von Transparenz“ (185) zuschreibt und damit aber ausblendet, dass mit diesem auch Rechenschaft abgelegt und Legitimation gewonnen wird und damit Transparenz dem entgegensteht.

Genauso wie bei Begriff der Schulentwicklung gelingt auch beim Wissensmanagement die Nutzung systemtheoretischer Konzepte nur noch begrenzt. Auch hier werden v.a. nur die Grenzdimensionen von Willke konsequent als Systematisierungshilfe genutzt. Eine umfassende Anwendung der systemtheoretischen Organisationstheorie erfolgt jedoch nicht.

Wiederum positiv ist die Darstellung des Wissensmanagementansatzes und seiner konkreten Instrumente hervorzuheben. Schon deren Beschreibung ist verständlich und prägnant formuliert. Die empirischen Ergebnisse vermittelt über die Interviewausschnitte erfüllen die angedachte Darstellungs- und Konkretisierungsfunktion in vollem Umfang und runden damit die Präsentation dieses Konzeptes und seiner Ansatzpunkte in der schulischen Praxis ab. Gleichzeitig werden die innerschulischen Problemlagen dabei aufgedeckt, sodass Heitmanns abschließende Einschätzung, bei einer praktischen Einführung von Wissensmanagement „äußerst niedrigschwellig“ (470) anzusetzen, nachvollziehbar wird.

Somit ist zwar der Selbsteinschätzung Heitmanns zuzustimmen, dass es ihr gelungen ist, nicht „‚blindlings‘ in die Veränderungssemantik von Schulentwicklung und Wissensmanagement“ (469) zu verfallen. Allerdings genügt ihre Arbeit nicht dem selbst formulierten Anspruch, Organisationstheorie nicht als „Instrument der Kritik“ (98) sondern v.a. „analytisch-deskriptiv“ (ebd.) zu nutzen: Bereits in Kapitel 3 hatte Heitmann ein zentrales Kernproblem der Schulentwicklung herausgearbeitet und dazu eine allgemein gehaltene Handlungsaufforderung gegeben. Auch die obigen Kernprobleme stellen eine Mängelliste schulischer Praxis dar. Diese Struktur der Defizitdiagnose aufgrund einer normativen Folie mit anschließenden Verbesserungsvorschlägen – und damit mindestens implizit auch immer einer Formulierung von Kritik – erfolgt noch mehrfach bereits im theoretischen Teil der Arbeit und wird auch in der Darstellung der empirischen Ergebnisse in Form von „Gestaltungsvorschläge[n]“ (460) wiederholt. Dies ermöglicht zwar den Anschluss an die Praxis und dem Anspruch, konkrete Hilfestellungen zu leisten. Die dafür notwendige Komplexitätsreduzierung (in Form normativer Setzungen) verhindert aber eine umfassende Analyse schulischer Entwicklungsprozesse, die komplexe Theorien wie die Systemtheorie eigentlich ermöglichen. Genau dieser Anspruch der „Praxisrelevanz und -anschlussfähigkeit“ (468) erscheint der zentrale Grund, warum die Systemtheorie zwar umfassend dargestellt aber nur begrenzt in der Arbeit zur Anwendung kommt. Ebenso ist zu vermuten, dass auch die in der Arbeit fehlende Unterscheidung von ‚systemisch‘ und ‚systemtheoretisch‘ genau darin begründet liegt, da ‚systemisch‘ hier scheinbar Anschlussfähigkeit an Praxisfelder ermöglicht, ohne dass ein systemtheoretischer Anspruch verloren geht.

Fazit

Man wird der Arbeit vermutlich am ehesten gerecht, wenn man sie als zwei Texte betrachtet, die sich an jeweils unterschiedliche Leserschaften wenden: Der erste Teil richtet sich an die Wissenschaft und einer Weiterentwicklung einer Schulentwicklungstheorie. Hier ist es der Verdienst von Kaja Heitmann, die abstrakte und z.T. schwer zugängliche Systemtheorie und ihre Erträge für eine Theorie der Schule gut und v.a. gut lesbar zugänglich zu machen. Auch wenn die Anwendung auf das Thema Schulentwicklung nur teilweise gelingt, da das Verständnis von Schulentwicklung in der vorherrschenden Programmatik verhaftet bleibt, so ist hier dennoch eine gute Ausgangslage geschaffen, um diesen Weg fortzusetzen.

Der zweite Teil richtet sich an die schulische Praxis und ihre Begleiter. Die vielfach vorhandenen aber nur selten gebündelten Ergebnisse zur Schulentwicklungsforschung werden hier zu einem großen Anteil in Form eigener Forschung reproduziert und durch Interviewausschnitte anschaulich vermittelt, sodass die zentralen schulinternen Problemlagen der Schulentwicklung deutlich werden. Gleichsam werden mit dem Wissensmanagement sowohl ein vergleichsweise komplexes Management-Konzept wie auch konkrete Instrumente präsentiert, die zwar nicht der formulierten Theorie in den ersten beiden Kapiteln entsprechen, dafür aber Hinweise zu einer anspruchsvolleren Fortentwicklung der Schule liefern als dies die meisten Schulentwicklungskonzepte ermöglichen.

Literatur

  • Arnold, E./ Bastian, J./ Reh, S. (2000): „Spannungsfelder der Schulprogrammarbeit. Erfahrungen bei der Einführung eines neuen Instruments der Schulentwicklung“. In: Die deutsche Schule. 92 (4), S. 414-429.
  • Rahm, Sibylle (2005): Einführung in die Theorie der Schulentwicklung. Weinheim [u.a.]: Beltz.
  • journal für schulentwicklung (2008): Theorie. Innsbruck u.a.: Studien Verlag.

Rezension von
Daniel Heggemann
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Arbeitsbereich Bildungsforschung, Leibniz-Universität Hannover

Es gibt 1 Rezension von Daniel Heggemann.

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ISSN 2190-9245