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Jörg Roesler: Geschichte der DDR

Rezensiert von Christoph Hornbogen, 12.06.2013

Cover Jörg Roesler: Geschichte der DDR ISBN 978-3-89438-499-9

Jörg Roesler: Geschichte der DDR. PapyRossa Verlag (Köln) 2012. 130 Seiten. ISBN 978-3-89438-499-9. D: 9,90 EUR, A: 10,20 EUR, CH: 13,90 sFr.
Reihe: Basis.

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Thema

„Rascher als je zuvor“ hat sich die Geschichtsschreibung der abgelaufenen Periode des „kurzen Lebens der DDR“ (Wolfgang Leonhard) bemächtigt, lautet die eingehende Beobachtung des Autors. Er schreibt von Bemächtigung und Geschichtsschreibung, anstatt von Geschichtswissenschaft und Erforschung. Das hat seine Gründe. So hat „die Mehrzahl der Veröffentlichung zur DDR Kritik hervorgerufen“ (S. 7), die sich in unterschiedlicher Weise auf politisch motivierte, und zum Teil „politisch gesteuerte“ (Benser, S. 9), Vereinfachungen zurückführen lässt. Diese „einander widersprechenden Wertungen“ erschweren es dem interessierten Leser, sich ein eigenes Urteil bilden zu können, „sofern er nicht von vornherein der einen oder anderen Seite zuneigt und nur nach Bestätigung sucht“ (S. 8). Nach Ansicht des Autors mangelt es der bestehenden Literatur zur Geschichte der DDR meist an sachlichen Informationen „über die Vorstellungen und Denkweisen der politischen Akteure" und den „ihre[n] Entscheidungen und Handlungen“ zugrundeliegenden Motiven. Sein Buch „versteht sich dagegen als Beitrag zur Behebung solcher Mängel.“ (ebd.)

Im Gegensatz zur „Mehrheit der DDR-Geschichte Schreibenden“, die sich auf das „Handlungsfeld der Politik im engeren Sinne“ konzentrieren, folgt der Autor Werner Abelshausers Auffassung, dass „Deutsche Geschichte seit 1945 vor allem Wirtschaftsgeschichte“ (Abelshauser, S. 11) sei. Schließlich seien es die „materielle[n] Errungenschaften“ gewesen, die „nicht nur im Mittelpunkt der selbst gesetzten ideologischen Ziele“ standen, sondern auch „zum entscheidenden Kriterium des Wettbewerbs der Gesellschaftssysteme im Ost-West-Vergleich“ (ebd.) wurden. Diese Herangehensweise legt den Fokus bewusst auf die einzigartige Verschiedenheit der DDR „gegenüber ihren historischen Vorgängern“ wie auch der BRD: den Versuch, „den ausgetretenen Pfad kapitalistischen Wirtschaftens“ in Richtung „einer neuen, gerechteren gesellschaftlichen Ordnung“ (S. 10) zu verlassen. Die Leser seines Buches, die um das Scheitern dieses Versuches wissen, erinnert der Autor jedoch gleich zu Beginn daran, „dass die Geschichte offen war und ist“, und deshalb das heutige Wissen über das „spätere Scheitern der DDR“ nicht von vornherein zur Beurteilung dieser Entwicklung als „alternativlos“ (S. 11) führen dürfe.

Autor

Nach dem Studium der Wirtschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin Anfang der 60er Jahre erhielt Jörg Roesler zunächst einen Lehrauftrag als (Ober-)Assistent am wirtschaftshistorischen Institut. Seiner Promotion 1968 folgte 1975 die Habilitation und 1983 die Berufung zur Professur. Bis 1991 war Roesler des Weiteren Bereichs- bzw. Abteilungsleiter am Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR und bis 1995 zusätzlich am Zentrum für Zeithistorische Forschungen in Potsdam tätig. In den darauffolgenden Jahren hatte er Gastprofessuren in Montreal (1992), Toronto (1994/95) und Portland (2006) inne und hielt ab 1999 Vorlesungen an der Universität der Künste in Berlin. Roesler ist Mitglied der Leibniz-Sozietät und gehört der Historischen Kommission der Partei Die Linke an. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur Wirtschaftsgeschichte der DDR und Osteuropas, die u.a. bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Bundes- und Thüringer Landeszentrale für politische Bildung sowie den linken Tageszeitungen »Freitag«, »Neues Deutschland« und »junge Welt« erscheinen.

Entstehungshintergrund

Seit der Kölner PapyRossa-Verlag im Frühjahr 2010 mit dem Aufbau der Reihe »Basiswissen« begann, sind darin ein dutzend einführende Schriften zu politischen und zeitgeschichtlichen Themen erschienen. Die Mehrzahl der Autoren gehört bisher zum Autorenstamm des Verlags und entstammt der westdeutschen Linken. Roesler ist in dieser Reihe neben Peter Rau der einzige Autor aus der DDR-Linken. Er ist somit dem Thema seines Buches „mehrfach verbunden – als Zeitzeuge seit den 60er, als Zeithistoriker (mit »privilegiertem« Archivzugang) seit den 70er und als alternativer Aufarbeiter der DDR-Geschichte seit den 90er Jahren.“ (S.12/13) Seine Geschichte der DDR erschien in gegenseitiger Ergänzung mit Georg Fülberths »Geschichte der BRD«, und erweitert die Verlagsreihe um eine Publikation zur nationalen Zeitgeschichte mit unmittelbarer Relevanz noch für die heutige Zeit.

Aufbau

Die 130 Seiten starke Einführung umfasst 21 etwa gleich große Kapitel, sowie ein einseitiges Abkürzungsverzeichnis und drei Seiten zu Literaturhinweisen. Den Kern des Buches bildet die sich über 17 chronologische Kapitel erstreckende Darstellung der Geschichte von SBZ und DDR. Sie wird eingerahmt von einer thematischen Einführung und drei abschließenden Kapiteln „mit persönlichen Auffassungen des Autors“ (S. 8) zum innerdeutschen Systemvergleich, zu Spekulationen über alternative Entwicklungswege und zu erinnerungswerten und nutzenbringenden Erfahrungen aus der Geschichte der DDR.

Inhalt

Im Anfang der DDR stand das Scheitern der sowjetischen Deutschlandpolitik. Als dasjenige Land, das im Zweiten Weltkrieg die größten Kriegsschäden erlitten hatte, sah die Sowjetunion in den Verhandlungen der Alliierten ihre dringlichste Aufgabe in der Durchsetzung weitreichender Reparationsleistungen. Zur Erreichung dieses obersten Ziels musste auch „das durchaus vorhandene Interesse, in der eigenen Besatzungszone ähnlich gesellschaftliche Verhältnisse [wie] in der UdSSR“ (S. 14) zu schaffen, zurücktreten. Bis zu ihrem Verlassen des Alliierten Kontrollrats aus Protest gegen den Brüsseler Pakt im März 1948 präferierte die Sowjetunion deshalb ein „in Kooperation mit den Westalliierten zu schaffendes neutrales, friedliches Gesamtdeutschland.“ (S. 16) Auf die in diesem Fall „überwiegend marktwirtschaftlich bleiben[de]“ Ökonomie und eine von bürgerlichen Parteien gebildete Regierung Deutschlands stellten sich die Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG) der SBZ auf Moskauer Direktive hin bereits ein. Die im Juni 1948 durchgeführte Währungsreform in den drei westlichen Besatzungszonen stärkte jedoch diejenigen Kräfte in der KPdSU, die die Verwandlung der SBZ in einen Ostblock-Satellitenstaat anstrebten.

Die sogenannte Stalin-Note vom März 1952 stellte, den beiden längst erfolgten deutschen Staatsgründungen zum Trotz, den vorläufig letzten sowjetischen Versuch dar, die ursprüngliche Deutschlandpolitik umzusetzen. Denn auch in Sachen Reparationsleistungen war vieles anders gelaufen, als es von sowjetischer Seite angedacht war. Über die genaue Höhe dieser Leistungen war unter den Alliierten nie Einigkeit erreicht worden. Unmittelbar nach der Besetzung ostdeutscher Regionen hatte bereits ein „noch weitgehend unkoordinierte[r] Abtransport von Rohstoffen und Fertigprodukten aus den Firmenlagern“ (S. 15) begonnen. Es folgten weitreichende Demontagen und, soweit die Produktion in den Betrieben wieder angelaufen war, Entnahmen aus der laufenden Produktion. 1946 ging damit, eingerechnet der Stationierungskosten der Roten Armee, „fast die Hälfte (48,8%) des in der SBZ erzeugten Bruttosozialprodukts“ (S. 16) an die Sowjetunion. Noch drei Jahre darauf lagen die Transferleistungen der DDR bei 20% des BSP, während sie in der BRD von 14,6% (1946) auf 6% gesunken waren. Dem Übereinkommen der Alliierten entsprechend sollten die industriellen Reparationsleistungen an die Sowjetunion im Gegenzug für Lieferungen landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus der SBZ auch aus den westlichen Besatzungszonen bedient werden. Der beginnende Kalte Krieg führte jedoch auf beiden Seiten zu Verstößen gegen die getroffenen Absprachen und hatte für die SBZ unmittelbar zur Folge, dass „die sowjetische Seite ihren Ausrüstungsbedarf umso intensiver aus ihrer Zone“ (ebd.) befriedigte. Die ausbleibenden Lieferungen aus dem Ruhrgebiet blieben für die SBZ auch politisch nicht folgenlos: So beschloss die SED-Führung im Sommer 1948 trotz heftigen Widerstands von CDU und LDPD die „Errichtung einer eigenen schwerindustriellen Basis im Osten Deutschlands“ (S. 21). Diese Richtungsentscheidung hatte neben der Aufhebung des „antifaschistische[n] Konsens der Gründerzeit des [Parteien]blocks“ und der Sowjetisierung der SED auch für die bis dahin praktizierte „Wirtschaftsdemokratie in den Betrieben gravierende Folgen.“ (S. 23)

Nach dem endgültigen Scheitern der sowjetischen Deutschlandpolitik mit den Stalin-Noten forderte die sowjetische Führung von der DDR eine Beteiligung „am Aufrüstungsprogramm des »sozialistischen Lagers«“ (S. 33), die binnen eines Jahres zur Vervierfachung der Militärausgaben führte (von 0,5 auf 2 Mrd. Mark). Die DDR versuchte diesen nicht kalkulierten Mehrausgaben zunächst durch Subventionskürzungen und Steuererhöhungen in der Privatwirtschaft sowie Kürzungen bei Kulturprojekten beizukommen. Da diese Maßnahmen bei weitem nicht ausreichten, bat die SED-Führung bei der Sowjetunion um eine Reduzierung der laufenden Reparationsleistungen und einen Verzicht auf die Entschädigungszahlungen für die Übergabe der SAG-Unternehmen. Diese zeigte sich jedoch diesbezüglich „genau so wenig aufgeschlossen wie 1945/47 in der Reparationsfrage.“ (S.34) Der Versuch, die fehlenden finanziellen Mittel durch die Ausweitung der Sparmaßnahmen auf Konsumgüter und eine zehnprozentige Erhöhung der Arbeitsnormen ohne Lohnausgleich zu mobilisieren, führte zu wachsenden Spannungen zwischen Bevölkerung und politischen Führung, denen letztere mit Repressionen begegnete. Diese Entwicklungen gefährdeten die politische und gesellschaftliche Stabilität der DDR gerade zu jenem Zeitpunkt, als sich im Kalten Krieg durch den Waffenstillstand in Korea und den Tod Stalins eine erste Phase der Entspannung anbahnte. Folglich bewegte sich das sowjetische Interesse an der DDR weg von „ihren Lieferungen für das sowjetische Aufrüstungsprogramm“ hin zu „ihrer inneren Stabilität.“ (ebd.)

Um diese zu gewährleisten, nahm die SED ihre bisher verordneten Sparmaßnahmen auf Weisung der neuen sowjetischen Führung zurück und verpflichtete sich, dem in der Sowjetunion mittlerweile verkündeten »neuen Kurs« zu folgen. Gestützt auf die Zusage sowjetischer Kredite konnte die SED-Führung die Sparmaßnahmen zurücknehmen, wohingegen sie an der Erhöhung der Arbeitsnormen ausdrücklich festhielt. Diese Entscheidungen, verkündet als Maßnahmen zur „Anhebung des Lebensstandards“ (ebd.) begünstigten vor allem die Bauern und die bürgerlichen Mittelschichten und brachten der Arbeiterschaft nicht nur keine Entlastung, sondern untergruben das von der Bevölkerung weithin geschätzte „Egalitätspostulat“ (S. 36). Der Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 überraschte die politischen Führungen beider deutscher Staaten wie auch die Alliierten und wurde von den sowjetischen Besatzungstruppen und Einheiten der Kasernierten Volkspolizei niedergeschlagen. Die Normerhöhung wurde noch am selben Tag zurückgenommen und, gestützt auf die sowjetischen Kredite und den Verzicht auf weitere Reparationszahlungen, eine »versorgungspolitische Wende« eingeleitet. Bis zu diesem Verzicht auf weitere Lieferungen hatte die DDR fast 98% der Reparationsleistungen Gesamtdeutschlands (99,1 Mrd. DM / BRD: 2,1 Mrd. DM zu Preisen von 1953) und damit die größten Reparationsleistungen des 20. Jahrhunderts getragen (Vgl. Wenzel, S. 43f.).

Nach dem Aufstand mehrte sich die Kritik am bisher eingeschlagenen Politik- und Wirtschaftskurs innerhalb der politischen Führung der DDR. Im Zeichen der Entstalinisierung war es möglich geworden, eine Reformdebatte „um mehr Demokratie und weniger Staatslenkung in Wirtschaft und Gesellschaft“ (S. 41) zu führen. Doch die Aufstände in Ungarn und Posen Ende 1956 stärkten die konservativen Kreise um Walter Ulbricht und brachten das Ende der Reformdebatte und die politische Verfolgung ihrer Wortführer. Hinzu kam auf wirtschaftlichen Gebiet der Ausfall von überwiegend polnischen Rohstofflieferungen, die eine vorgesehene Dezentralisierung der Wirtschaft unmöglich machten. Die auf diese Weise konsolidierte Vorherrschaft des konservativen Parteiflügels setzte fortan auf zentralisierte Planvorgaben, forderte und förderte die Vergenossenschaftlichung von Handwerks- und Landwirtschaftsbetrieben sowie die Teilverstaatlichung privater Industriebetriebe. Die Anfang 1959 von SED und FDGB ins Leben gerufenen »sozialistischen Arbeitsbrigaden« stellten einen um Bildungs- und Kulturpolitik erweiterten Versuch dar, analog zu den »Arbeitsbrigaden« der Jahre 1950/51 die wirtschaftliche und kulturelle Produktivität der Arbeiterschaft zu steigern. Der durchschnittliche Anstieg des Bruttosozialprodukts von jährlich acht Prozent seit 1957 und der eingeleitete „Übergang von der überkommenen Braunkohle- zur modernen Erdölchemie“ (S. 47) sprachen für die industrielle Wirtschaftspolitik der Konservativen, auch wenn das landwirtschaftliche Nettoprodukt aufgrund überambitionierter Vergenossenschaftlichungen und „kampagnenmäßige[r] Durchsetzung zweifelhafter Innovationen“ zunächst „unter das Niveau der Jahre 1951-1954 fiel“ (S. 48).

Wie bereits während der Mobilisierung der »Arbeitsbrigaden« Anfang der 50er Jahre wuchs unter den Arbeitern und Gewerkschaftsfunktionären das Bedürfnis nach mehr Mitbestimmung. Doch wie schon damals blockte auch jetzt die politische Führung ab. Angesichts des ähnlichen Niveaus betrieblicher Mitbestimmung, eines „deutlich höheren Lohn- bzw. Einkommensniveaus und einer reicheren, vielfältigeren Warenwelt“ (S. 49) in der BRD, wanderten viele DDR-Bürger in die BRD aus. Besonders seit dem Mitte der 50er Jahre eintretenden Arbeitskräftemangel konnten sie mit einer raschen Anstellung rechnen, sodass es in diesen Jahren zu einer Massenauswanderung von jährlich 400.000 DDR-Bürgern kam. Während der Koreakrieg der „durch exzessive Reparationsleistungen ohnehin belasteten DDR ein den Lebensstandard […] senkendes Sparprogramm“ (ebd.) einbrachte, wurde er für die durch den Marshall-Plan gestärkte BRD zum Koreaboom, der „der westdeutschen Wirtschaft den Vorstoß in Absatzgebiete“ ermöglichte, „die bislang von den USA gehalten wurden, von diesen aber jetzt zugunsten der Rüstungsproduktion aufgegeben werden mussten.“ (Fülberth, S. 32) Die SED-Führung versuchte der massiven Abwanderung entgegenzuwirken, indem sie die Auflage eines Wirtschaftsprogramms verkündete, das bis Ende 1961 das individuelle Konsumniveau der DDR-Bürger über dasjenige der Bundesbürger steigern sollte.

Tatsächlich stiegen seit 1957 Kaufkraft und Löhne und die jährliche Abwanderung der erwerbsfähigen Bevölkerung sank bis 1959 auf 99.000 Personen. Doch die Orientierung an der Konsumstruktur eines kapitalistischen Staates geriet auf diese Weise nicht nur in Widerspruch zur zeitgleichen Mobilisierung von »sozialistischen Arbeitsbrigaden«, sondern blieb angesichts des „auf 24%-28% geschätzte[n] Produktivitätsrückstand[s] der DDR-Industrie“ (S. 53), dessen Ausgleich erst 1965 erreicht werden sollte, ein von sowjetischer Hilfe abhängiges, spekulatives Vorhaben. Diese blieb jedoch wegen eigener wirtschaftlicher Probleme weit hinter den Hoffnungen der DDR zurück. Bereits im zweiten Jahr blieben die Industrieproduktion um ein Fünftel und die Investitionen um ein Drittel hinter den Planvorgaben zurück. Die Bevölkerung quittierte diese Entwicklung noch im selben Jahr mit einem erneuten Anstieg der Abwanderung um 40%. Nach dem Scheitern ihrer Gegenstrategie gestand die SED-Führung gegenüber Moskau ein, dass „ein zweiter Juni 1953 […] nicht ausgeschlossen werden“ (S. 54) könne. Chruschtschow, wohl wissend darum, dass die USA diesen Schritt befürworten (Vgl. Burr) und nicht eingreifen würden, gab daraufhin Grenzsperrung und Mauerbau seine Zustimmung. Während damit in der Partei erneut die konservativen Kräfte triumphierten, nahm die Bevölkerung den Mauerbau und die Einführung der Wehrpflicht widerstandslos hin.

Diskussion

Die Art und Weise, wie an dieser Stelle die Entwicklung der Jahre 1945 bis 1961 behandelt wurde, kann als exemplarisch für Roeslers Einführung zur DDR Geschichte gelten. Ihr Primat liegt in der Wirtschaftsgeschichte. Sie ist die Grundlage, mit der „machtpolitische Entscheidungen, die Entwicklung des Lebensstandards, die Gestaltung des Sozialsystems, die Umweltpolitik [und] selbst die Beziehungen der Herrschenden zu den Repräsentanten von Kunst und Kultur in Zusammenhang“ (S. 9) gesetzt werden. Berücksichtigt werden dabei stets die Wandlungen der innerdeutschen wie internationalen Beziehungen, ohne die auch manch wirtschaftspolitische Entscheidung nicht unmittelbar nachvollziehbar wäre.

Einen zentralen Platz nimmt zudem die Darstellung der Flügelkämpfe zwischen Konservativen und Reformern in der SED ein. Damit erscheint die herrschende Partei nicht nur nicht als ein monolithischer Block, sondern es gerät zugleich der ausgeprägte wirtschaftspolitische „Wechsel von Konzeptionen“ im Gegensatz zu den in der Regel üblichen „Vornahme[n] von Veränderungen an vorhandenen Strukturen“ (S. 10) in den Blick. Überwiegend gelungen sind die drei Kapitel mit persönlichen Wertungen des Autors. Dem interessanten Kapitel mit Spekulationen über alternative Entwicklungsgänge ist jenes vorangestellt, dass ausdrücklich den Vergleich der DDR mit der BRD, aber auch anderen Ostblock-Staaten einfordert. Den Vergleich zur BRD sucht Roesler dann besonders im Bereich des staatlichen Sozialsystems, während die politische Repression in Verhältnis zu anderen Staaten des Ostblocks gesetzt wird. Diese Vorgehensweise hat ihre nachvollziehbaren Gründe, wirkt aber dennoch befremdlich, wenn beispielsweise die naheliegende Betrachtung der Bürgerrechte mit der Aussage, es sei „bei aller Normalität, auch im Vergleich zu westlichen Staatswesen, um die Demokratie in der DDR nicht gut bestellt“ (S. 112) gewesen, beiseite gewischt wird. Diese sprachliche Schönfärberei ist jedoch auch schon der gröbste Schnitzer und keineswegs repräsentativ für den Rest des Buches. Es folgt zudem sogleich der Hinweis, dass selbst die beiden einzigen „halbwegs freie[n] und faire[n] Wahlen […]: die zu den Länderparlamenten im Herbst 1946 und die Volkskammerwahlen vom Frühjahr 1990“ einerseits „durch die sowjetische Besatzungsmacht“ (S. 112/113) und andererseits „wesentlich durch bundesdeutsche Finanzmittel, Parteien und Politiker“ (Gehler, S. 355) beeinflusst wurden.

Interessant auf dem Gebiet der Vergleiche ist die Einschätzung Roeslers zur staatlichen und betrieblichen Sozialpolitik, die in der DDR nicht nur „eine Herausforderung für die Bundesrepublik“ (S. 12) sieht, sondern auch gegenläufige Tendenzen ausmacht (Vgl. S. 117/118). „Mit einem gewissen Recht“, konstatiert er, sei „nach der Vereinigung erklärt [worden], dass es vom Wirtschaftssystem der DDR nichts zu lernen gäbe.“ (S. 125) Angesichts von Weltfinanz- und Euro-Krise sei es jedoch heute nicht verkehrt, einen Blick auf die „in den 60er Jahren gemachten Erfahrungen mit einer Mixed Economy“ und die dort praktizierte „erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen privaten und staatlichen Betrieben […] nach Vorgaben einer staatlichen Grobplanung“ (ebd.) zu werfen. Roeslers deutliche Sympathie für den in damaligen Auseinandersetzungen oft unterlegenen Reformflügel hält sich mit dieser abschließenden Bemerkung bis zum Schluss des Buches durch.

Fazit

Die Geschichte der DDR zu schreiben bleibt eine Herausforderung. Anders als in den vorhergehenden Epochen der deutschen Geschichte, in denen sich kritische Geschichtsschreibung gegen das mehr oder minder verdeckte Fortwirken der alten Eliten zu behaupten hatte, hat sie es im Falle der DDR mit den nachhaltig entmachteten ehemaligen Parteigängern und von ihrem ehemaligen nationalen Konkurrenten geförderten Newcomern zu tun. Dazwischen steht die Bevölkerung des ehemals zweiten deutschen Staates, die in ihrer Beurteilung gespalten ist. So urteilten in einer Umfrage des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung aus dem Jahr 2009 49% der Ostdeutschen, dass die DDR „mehr gute als schlechte Seiten“ (13% West), und 8%, dass sie „überwiegend gute Seiten“ hatte (5% West). Abweichend von der typischen Ausrichtung auf Fragen der Diplomatie und politischen Verfolgung ist Jörg Roesler als Wirtschaftshistoriker, der die gängigen politischen Streitfragen nur am Rande und eingebettet in die „sich verändernden nationalen […] bzw. internationalen Rahmenbedingungen“ (S. 10) behandelt, eine auch für interessierte Laien leicht zugängliche, erfrischende Einführung in die Geschichte der DDR jenseits der vorherrschenden ideologischen Grabenkämpfe gelungen.


Literatur

  • Abelshauser, Werner: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bonn 2004.
  • Benser, Günter: DDR – gedenkt ihrer mit Nachsicht, Berlin 2000.
  • Burr, William (ed.): The Berlin Crisis 1958-1962, Washington, D.C. 2011.
  • Fülberth, Georg: Geschichte der BRD, Köln 2012.
  • Gehler, Michael: Deutschland. Von der Teilung zur Einigung, 1945 bis heute, Bonn 2011.
  • Leonard, Wolfgang: Das kurze Leben der DDR, Stuttgart 1990.
  • Wenzel, Siegfried: Was war die DDR wert? Und wo ist dieser Wert geblieben?, Berlin 72006.

Rezension von
Christoph Hornbogen
Politikwissenschaftler
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Es gibt 11 Rezensionen von Christoph Hornbogen.

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Zitiervorschlag
Christoph Hornbogen. Rezension vom 12.06.2013 zu: Jörg Roesler: Geschichte der DDR. PapyRossa Verlag (Köln) 2012. ISBN 978-3-89438-499-9. Reihe: Basis. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14752.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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